Polen in den Fesseln des Jamal-Vertrags

Polen hat endgültig und unwiderruflich beschlossen, die Ketten des Vertrags von Jamal über den Kauf russischen Erdgases nach 2022 zu sprengen. Das Land ist bestrebt, zukünftig Erdgas in Norwegen, der EU, den USA und Katar aufzukaufen. Bisher ist die Pipeline Baltic Pipe, durch die Erdgas aus Norwegen kommen soll, jedoch noch nicht fertiggestellt, und das neue Terminal für Flüssigerdgas (LNG), in das die EU fast 128 Mio. Euro investiert hat, ist noch nicht erweitert worden. Unter diesen Umständen spricht eine Reihe von Experten davon, dass die Polen es möglicherweise gar nicht schaffen, ihre Pläne bis zum Auslaufen des Vertrags mit Gazprom zu verwirklichen.

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Die staatliche Erdöl- und Erdgasgesellschaft PGNiG begründete den Rücktritt vom Vertrag mit der Russischen Föderation mit dem Streben nach Unabhängigkeit und Diversifizierung bei den Gaslieferungen, wofür Polen in den USA mehrfach gelobt wurde, auch wurde dort Unterstützung bei der Befreiung aus der Abhängigkeit von Russland versprochen. Aber auch hierbei besteht bisher keine Klarheit. PGNiG hatte früh ein Abkommen mit dem US-Unternehmen Venture Global über den Kauf von 2 Mio. Tonnen Flüssigerdgas pro Jahr ab 2022 geschlossen, aber die Lieferungen sollen hauptsächlich aus Werken erfolgen, die gerade erst gebaut werden – Calcasieu Pass und Plaquemines.

Nicht genug damit, dass Polen ohnehin schon auf unvollendete Projekte setzt, zwingt seit März 2020 nun auch noch die Coronavirus-Pandemie zu Korrekturen. Die staatlichen Empfehlungen, größere Menschenansammlungen zu vermeiden, um eine weitere Ausbreitung des Virus’ zu verhindern, können zu einer starken Einschränkung der Bautätigkeit in Nordamerika führen. Die Zahl der Bauarbeiterteams wird reduziert werden, und dies wird zu einer Streckung der Zeitpläne führen und den Start von Projekten verzögern. Dies betrifft ebenso das Bauvorhaben in Świnoujście (Swinemünde), zu dessen Zeitrahmen sich momentan natürlich niemand äußern möchte.

Wie dem auch sei, selbst wenn der Ausbruch der Corona-Krise nicht die Karten der Weltpolitik und der Weltwirtschaft durcheinandergewirbelt hätte – die Fakten sagen bisher aus, dass Warschau ungeachtet der Erklärungen der polnischen Führung über einen Importstopp für russisches Gas nach dem Jahr 2022 an einer Fortsetzung der Gaslieferungen aus der Russischen Föderation interessiert ist. 

Dies vor allem, damit Energieressourcen an andere Länder weiterverkauft werden können, insbesondere an Deutschland, die Slowakei, Tschechien und die Ukraine. Und bisher sieht es ganz danach aus, dass die Polen lediglich feilschen wollen, damit Gazprom ihnen einen umfangreichen Preisnachlass bei den Gaspreisen gewährt, der eine größere Marge bei den Handelsgeschäften ermöglichen würde.

Der grundlegende Vertrag mit Gazprom wurde 1996 geschlossen und gilt bis zum 31. Dezember 2022, Ende letzten Jahres setzte die PGNiG das russische Unternehmen darüber in Kenntnis, dass sie beabsichtige, den Vertrag nach Ablauf der Geltungsdauer nicht zu verlängern. Zudem hatte das polnische Unternehmen bereits früher, noch im Februar 2016, eine Klage gegen Gazprom beim Schiedsgericht der Stockholmer Handelskammer (SCC) eingereicht, in der es erneut eine Reduzierung des Gaspreises für Polen forderte, obwohl der Preis bereits 2012 um 10% gesenkt worden war. Gleichzeitig ist Polen ein Großabnehmer russischen Erdgases: Auch wenn die Lieferungen 2019 zurückgingen, so hatte es 2018 noch 9,9 Mrd. Kubikmeter gekauft. Dies macht ungefähr die Hälfte des polnischen Gesamtbedarfs aus.

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Genauso verhält es sich auch mit amerikanischem Flüssigerdgas (LNG): Letztes Jahr unterzeichneten die USA, Polen und die Ukraine ein trilaterales Abkommen zur Stärkung der Sicherheit in der Region, das heißt de facto über weniger Abhängigkeit von russischem Gas. Wie der Bevollmächtigte der polnischen Regierung für strategische Infrastruktur, Piotr Naimski, erklärte, kann Warschau ab 2021 6 Mrd. Kubikmeter Erdgas pro Jahr an die Ukraine liefern, viermal mehr als bisher. Die USA unterstützen die Bemühungen Polens, ein virtueller Handelspunkt (VHP) in der Region zu werden, und nach der Fertigstellung des erweiterten Terminals in Świnoujście wird Polen wahrscheinlich versuchen, die günstigsten Kontingente des amerikanischen Flüssiggases für sich zu kaufen und die verbleibenden an seine europäischen Nachbarn zu liefern. Wie Berechnungen zeigen, beträgt der durchschnittliche Preis für amerikanisches Flüssiggas bei der Ausspeisung aus dem Terminal in Polen ca. 288 US-Dollar pro 1000 Kubikmeter und liegt damit bedeutend über dem Durchschnittspreis von 246 US-Dollar für Erdgas, das von Gazprom nach Europa geliefert wird.

Gleichzeitig bezieht Polen seit 2015 immer mehr Erdgas aus Deutschland und Russland, wobei es jedoch in Wirklichkeit nichts anderes kauft als das Erdgas aus dem Jamal-Vertrag, das den Europäern zu einem günstigeren Preis verkauft wird. Und Anfang März dieses Jahres unternahm Polen weitere Schritte, um sich aus der „Abhängigkeit von Russland“ zu befreien. Anfang März 2020 veröffentlichte das Unternehmen Gaz-System, das den polnischen Abschnitt der Jamal-Europa-Erdgasleitung betreibt, einen Entwurf zu neuen Regeln für den Gastransport. Diese werden ab Mai gelten, wenn der aktuell gültige Transitvertrag für russisches Gas ausläuft. Den neuen Regeln zufolge muss Gazprom die Transportkapazität für die Jamal-Pipeline per Auktion ersteigern, und der Pipeline-Betreiber kann bei Unterschreiten einer bestimmten Transitmenge den Vertrag aufkündigen.

Diese einseitigen Schritte Warschaus verstärken nur die Unsicherheit in der Frage, wie sich der Transit russischen Erdgases ab Juni dieses Jahres gestalten wird, und das radikale Vorgehen Polens könnte zu Unterbrechungen ausgerechnet in den Gaslieferungen nach Deutschland führen, bei dem Polen ja anschließend selbst russisches Gas zu kaufen gedenkt.

In jedem Fall ist es unter den gegenwärtigen Bedingungen praktisch unmöglich, innerhalb einer so kurzen Frist Ersatz für die Gaslieferungen aus Russland zu finden: 2019 lag der Erdgasverbrauch in Polen bei 19 Mrd. Kubikmetern – davon stammten 4 Mrd. Kubikmeter aus eigener Förderung, 3,5 Mrd. Kubikmeter wurden aus der EU bezogen und 2,5 Mrd. Kubikmeter wurden in Form von Flüssigerdgas (LNG) gekauft. Etwa 9 Mrd. Kubikmeter kaufte Polen von Russland. 

Fakten lassen sich nicht so ohne weiteres ignorieren, und in diesem Fall weisen sie darauf hin, dass Warschau ziemlich große Schwierigkeiten haben wird, sich aus den engen Fesseln der Jamal-Verträge zu befreien.