Süßes, sonst gibt’s Saures: Die Ukraine will den russischen Gas-Transit endgültig stoppen

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Nach dem Anschlag auf die Nord Stream-Pipelines und dem starken Rückgang russischer Erdgaslieferungen, darunter der vollständigen Einstellung der Gaslieferungen durch die Jamal-Europa-Pipeline, ist der Transit russischen Erdgases durch ukrainisches Territorium einer der letzten Versorgungswege, auf dem russisches Erdgas in die EU gelangt, auch wenn die Lieferungen auf ein Drittel des Vorkriegsniveaus zurückgegangen sind. Während westeuropäische Staaten wie z.B. Deutschland rasch neue Quellen für Flüssigerdgas aufgetan haben (wenn auch unter hohen finanziellen Verlusten), bleiben viele Länder stark vom ukrainischen Transit abhängig. Dazu gehören die EU-Staaten Österreich, Italien, Ungarn, Slowenien, Kroatien und die Slowakei, außerdem die Republik Moldau. Durch die Ukraine fließen weiterhin täglich 42 Millionen Kubikmeter Erdgas aus Russland, 1,26 Milliarden Kubikmeter im Monat.

Österreich ist der größte Abnehmer russischen Erdgases aus Transitlieferungen, die durch die Ukraine führen – es deckt seinen Bedarf zu 50-60% aus diesen Lieferungen. Der zweitgrößte Abnehmer ist Italien, aber die abgenommene Gasmenge ist nicht besonders groß, sie macht lediglich einen geringen Prozentsatz der Gasimporte des Landes aus. Danach folgen die Slowakei und Ungarn, doch Budapest konnte erfolgreich diversifizieren und bezieht nun die meisten Lieferungen über die TurkStream-Pipeline und den Balkan. Slowenien und Kroatien beziehen nur unbedeutende Gasmengen aus Transitlieferungen durch die Ukraine, und der Import Sloweniens sank auf fast Null, nachdem am 1. Januar 2023 die Laufzeit des Vertrages von Gazprom und Geoplin endete.

Droht die Ukraine?

Angesichts der Tatsache, dass die europäischen Staaten zurzeit nicht nur die ukrainische Verteidigung finanzieren, sondern das ukrainische Staatswesen als solches, rief die Absicht Kiews, den Transit russischen Erdgases endgültig zu stoppen, einen wahren Sturm in den Medien hervor. Die Erklärung des Naftogaz-Chefs Oleksij Tschernyschow, dass die Firma den Vertrag für den Transit russischen Gases nach Ablauf der Laufzeit im Jahr 2024 nicht verlängern wird, war die erste klare Äußerung dazu, dass das Transitabkommen mit Gazprom nicht verlängert wird.

Wir erinnern uns: Naftogaz und Gazprom unterzeichneten im Dezember 2019 ein fünf Jahre gültiges Abkommen über den Transit von Erdgas auf „Ship-or-pay“-Basis, was bedeutet, dass Gazprom für den Transit zahlen muss, unabhängig davon, ob es ihn nutzt oder nicht. Ende 2024 läuft das Abkommen aus.

Im Sommer dieses Jahres wurden bereits Gespräche über die Einstellung der Transitlieferungen geführt. Der Energieminister der Ukraine Herman Haluschtschenko schloss im August aus, dass sich Kiew an Gesprächen mit Russland über künftige Mechanismen des Gastransits beteiligen werde. Gleichzeitig erklärte damals der stellvertretende russische Außenminister Michail Galusin, die Entscheidung, das Transitabkommen nicht zu verlängern, „füge“ der EU „Schaden zu“ und die Ukraine schieße „sich selbst ins Bein“, indem sie die Transiteinnahmen verliere.

Eines ist bei alldem unklar: Gegen wen richtet sich dieses Vorgehen, um nicht zu sagen, dieses erpresserische Verhalten der Ukraine? Gegen ihren Gegner auf dem Schlachtfeld oder gegen ihre europäischen Sponsoren? In Österreich hat man sich diese Frage sofort gestellt. Wien hat natürlich schon oft erklärt, dass es sich nach und nach aus der Abhängigkeit von russischem Erdgas lösen will, dessen Anteil am Gesamtimport Österreichs bereits von 80 auf 60 % gesenkt werden konnte. Es geht jedoch darum, dass dies nicht ohne Wissen und Zustimmung Österreichs geschieht. Die österreichische Firma OMV hat einen Langzeitvertrag über den Bezug von sechs Milliarden Kubikmeter russischen Erdgases jährlich bis 2040 abgeschlossen, deshalb haben die Äußerungen der ukrainischen Seite eine stürmische Reaktion in den österreichischen Medien ausgelöst.

Offizielle österreichische Vertreter beharren natürlich darauf, dass die fortgesetzte Abhängigkeit ihres Landes von russischem Gas vorübergehend ist und bis 2027 stark zurückgehen wird. Aber nach den Ankündigungen aus Kiew fing man in Wien sofort an, über mögliche Szenarien der Gasversorgung nachzudenken. Carola Millgramm, die Leiterin der Gasabteilung bei der österreichischen Regulierungsbehörde E-Control Austria, dachte darüber nach, Erdgas aus Deutschland und Italien zu beziehen, also aus Transitländern, was dieses Gases sicherlich teurer gemacht hätte.

Die stellvertretende ukrainische Ministerpräsidentin Olha Stefanischyna beeilte sich zu versichern, dass die Ukraine weiterhin „russisches Erdgas nach Österreich durchlassen“ werde, auch wenn Kiew nicht vorhabe, das Transitabkommen mit Moskau zu verlängern. Kommentatoren, die diese unlogischen Behauptungen kommentieren, merken an, dass die „beruhigenden“ Erklärungen der stellvertretenden Ministerpräsidentin wahrscheinlich in der Hoffnung abgegeben wurden, dass die EU-Mitgliedstaaten Beitrittsgesprächen mit der Ukraine zustimmen würden. In jedem Fall wird die Weigerung, das Transitabkommen zu verlängern, ein neues, rechtlich und politisch komplexes Konstrukt zwischen der EU, Russland und der Ukraine notwendig machen.

Wie man in Deutschland und anderen EU-Staaten darüber denkt

Zwar bezieht Deutschland derzeit kein russisches Gas auf direktem Wege, doch die Einstellung von Transitlieferungen durch die Ukraine würde sich auch auf Deutschland auswirken, da Berlin die Nachbarn mit Gaslieferungen unterstützen müsste und da ein begrenztes Angebot sicherlich negative Auswirkungen auf die Preiskonjunktur hätte.

Im Sommer 2023 räumte der Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck ein, dass  Berlin leider bisher kein schlüssiges Szenario ausgearbeitet habe, mit Hilfe dessen die weitere Entwicklung der Ereignisse vorhergesehen werden und darauf reagiert werden könnte. Er erklärte, Deutschland könne gezwungen sein, industrielle Kapazitäten abzubauen oder sogar ganz abzuschalten.

Expertenkreise in anderen Ländern versuchen, die Situation nüchtern einzuschätzen und Auswege zu suchen. Nach Auffassung von Tamás Pletser zum Beispiel, Öl- und Gasanalyst bei der „Erste Bank“, haben offizielle ukrainische Vertreter sich bereits zum dritten Mal innerhalb weniger Monate zu Gefahren des Gastransits geäußert – deshalb beginne der Markt nun, sich darauf vorzubereiten, dass die Transitlieferungen durch die Ukraine eingestellt werden. Im Interview mit „Index“ meint er, dass die Entscheidung Kiews in erster Linie Ungarn, der Slowakei, Tschechien und Österreich schade, dass beispielsweise Ungarn jedoch seine vertraglich zugesicherten Kontingente über die TurkStream-Pipeline erhalten könnte.

Weitere Gefahren für den Transit

Die Experten sprechen auch offen darüber, dass die größte Gefahr für die Energiesicherheit Europas in der Wintersaison 2023-24 darin besteht, dass Kiew noch vor dem Ende der Vertragslaufzeit den Transit russischen Erdgases ganz oder teilweise stoppen könnte oder dass die ukrainischen Geheimdienste neue Sabotage-Aktionen durchführen könnten. Obwohl der Gerechtigkeit halber gesagt werden muss, dass die Untersuchungen zur Sprengung der Nord Stream-Pipelines noch andauern und die Beteiligung ukrainischer Saboteure nur eine der möglichen Versionen ist.

Wie dem auch sei, im November hat Kiew davor gewarnt, dass die Ukraine im Falle fortgesetzter russischer Attacken gegen ihre Energie-Infrastruktur mit Angriffen auf russische Öl- und Gasinfrastruktur antworten könnte. Die neuen Drohungen von ukrainischer Seite bestätigen wieder einmal, welche Gefahren dieser Transit birgt, der in den vergangenen Monaten erstaunlich stabil war. Schließlich führt er durch ein Kriegsgebiet, dies sollte nicht vergessen werden. Das Verhalten Kiews erinnert daran, dass die Ukraine unter den gegebenen Bedingungen einseitig die Transitlieferungen unterbinden kann, um in verschiedenen Fragen Druck auf die EU auszuüben. Genau das sind eben die Risiken, die im Fall von Transitländern bestehen. Wurde Nord Stream nicht auch deshalb gebaut?

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Das letzte Mal wurde der Transit im Mai 2022 eingeschränkt, als der ukrainische Netzbetreiber erklärte, es läge Höhere Gewalt vor und den Transit durch Sohranivka einstellte, einen der beiden Punkte, an denen russisches Erdgas in das ukrainische Netz eintritt. Er berief sich dabei auf „Gasdiebstahl“ und darauf, dass er keine operative Kontrolle über die physische Gasinfrastruktur in dem von Russland besetzten Gebiet ausüben könne. Seitdem hat Gazprom regelmäßig Anträge auf Transit durch Sohranivka gestellt, sie wurden von der Ukraine jedoch wiederholt abgelehnt.

Seit Mitte 2022 gestaltete sich der Transit durch den einzigen verbliebenen Eintrittspunkt Sudscha jedoch erstaunlich stabil und die Transitmenge war in etwa genauso hoch wie jetzt. Für Schwankungen waren im Wesentlichen Nominierungen der übrigen europäischen Gazprom-Kunden verantwortlich, keine Störung der Gasströme durch Kriegshandlungen.

Welche Alternativen gibt es?

Sollte der Gastransit durch die Ukraine nach Europa plötzlich eingestellt werden, hätte dies verheerende Folgen und würde zu einem Preisanstieg in den betroffenen Ländern und über deren Grenzen hinaus führen. Die Mehrheit der Abnehmerländer wäre dadurch jedoch nicht von funktionierenden alternativen Versorgungsrouten abgeschnitten. Die Energieversorgung über die Ukraine-Route durch Flüssigerdgas oder norwegisches oder algerisches Erdgas zu ersetzen, würde für die europäischen Länder lediglich die Kosten erhöhen. Auf diese Weise wären wieder einmal die europäischen Verbraucher gezwungen, den Preis für politische Entscheidungen von Partnern, die nicht der EU angehören, zu zahlen.

Zusammenfassung

Der Energiemarkt gehorcht leider nicht mehr zu 100 % den Gesetzen ökonomischer Vernunft. An erster Stelle stehen politische Erwägungen und Vereinbarungen, politische Zugeständnisse und Erpressung beeinflussen das Schicksal von Handelsverträgen.

Die Drohungen der Ukraine sollten nicht unterschätzt werden. Die Geschichte der Gaskriege in den 2000er Jahren hat gezeigt, dass Kiew durchaus dazu fähig ist, die Erdgasversorgungsrouten zu kappen, um eigene politische und wirtschaftliche Ziele zu erreichen. Damals diente die Erpressung dazu, illegale Gasentnahme und die Weigerung, Schulden zu bezahlen, zu verschleiern. Und auch jetzt ist nicht auszuschließen, dass dies ein Instrument sein kann, um die eigene Position im Hinblick auf einen EU-Beitritt zu verbessern.