Bald wieder Freunde: Kann Deutschland zu einer Zusammenarbeit mit Russland im Energiesektor zurückfinden?

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Die Regierungskoalition gibt weiterhin ein Bild der Zerrissenheit ab. Unstimmigkeiten zwischen der Partei von Olaf Scholz, den Grünen und den Liberalen bestehen nicht nur in innenpolitischen, sondern auch in außenpolitischen Fragen. Die Medien, die ständig auf das Hin und Her der Regierung, auf den Opportunismus, den sie bei der Verwendung der Haushaltsmittel an den Tag legt und auf das dadurch entstandene Haushaltsloch von 60 Milliarden Euro hinweisen, gießen zusätzlich Öl ins Feuer. Natürlich übt auch die CDU als Oppositionspartei Druck auf die Ampelkoalition aus, indem sie die Grünen und die FDP als unfähig darstellt, die Energiekrise zu bewältigen, die sich seit 2022 vor allem durch die Beendigung der Zusammenarbeit mit Russland im Energiesektor entwickelt hat. Es ist kein Geheimnis, dass sich diese Krise auch negativ auf die innerdeutschen Probleme auswirkt und die Unzufriedenheit des kleinen Mannes mit der eigenen Regierung verstärkt.

Lediglich in einer Frage ist sich das gesamte politische Spektrum einig: Man muss sich von Energieabhängigkeit freimachen und die Wirtschaft auf eigene, vollkommen selbständige „grüne“ Füße stellen. Nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine hat Deutschland begonnen, seine Öl- und Gasversorgung konsequent zu diversifizieren. Und Berlin hat erklärt, dass Russland in Zukunft nicht damit rechnen kann, weiter die vormalige Rolle des führenden Partners in Energiefragen zu spielen. Deutschland möchte mittelfristig weder voll und ganz auf Moskau noch auf Katar setzen, und genauso wenig auf die USA, von denen es mit Flüssigerdgas beliefert wird. Die Energieversorgung soll ausbalanciert sein, kein Energielieferant soll eine privilegierte Position einnehmen.

Gleichzeitig bewerten Experten die Erfolge Berlins bei der Umsetzung der neuen, seit dem Bruch mit Moskau betriebenen Energiepolitik bisher skeptisch. „Deutschland hat sich mit seiner Energiepolitik selbst in eine Sackgasse manövriert, insbesondere durch die Ersetzung der Kernenergie durch Erdgas, und es hat nicht so viele Ausweichmöglichkeiten“, meint Vijaya Ramachandran, die Direktorin für Energie und Entwicklung am Breakthrough Institute der Universität Berkeley (Kalifornien). Die Idee, dass erneuerbare Energien schnell russisches Erdöl und Erdgas ersetzen können (obwohl sie langfristig natürlich Teil der Lösung des Problems sind), zeugt nach Auffassung von Ramachandran im besten Fall von Inkompetenz – im schlimmsten Fall könne sie zu einer Katastrophe für die westlichen Volkswirtschaften und Verbraucher führen. „Die Gründe liegen auf der Hand: Wind- und Solarenergie können nur einen Teil des russischen Erdgases ersetzen, das für die Stromerzeugung verwendet wird – und das nur, wenn Wind weht und wenn die Sonne scheint. Für die Stromerzeugung sind erhebliche Reservekapazitäten erforderlich, die überwiegend mit Erdgas betrieben werden. Darüber hinaus macht Strom nur einen Teil der Energiegleichung aus: der Großteil russischen Erdöls und Erdgases kommt nicht in Stromkraftwerken zum Einsatz, sondern wird für das Beheizen von Wohnhäusern, für Industriebetriebe und zum Betanken von Autos, LKWs, Flugzeugen und Schiffen verwendet, und bei alldem kann nicht auf andere Kraftstoffe ausgewichen werden“, erläutert Ramachandran.

Was langfristige Pläne angeht, so ist Berlin bisher nicht bereit, weit in die Zukunft zu schauen. Verschiedenste Optionen sind möglich, nichts ist ausgeschlossen. Dazu zählen Experten auch die Möglichkeit, die Zusammenarbeit mit Russland nach der Beilegung des Konfliktes in der Ukraine wieder aufzunehmen.

Dafür setzt sich insbesondere der Vorsitzende des Ausschusses für Klimaschutz und Energie im Bundestag, der Linken-Politiker Klaus Ernst ein. Er ist der Auffassung, dass eine Wiederaufnahme der Energiepartnerschaft mit Russland sowohl Deutschland als auch Russland nach dem Ende des Krieges in der Ukraine nutzen könnte. Die EU und Deutschland befänden sich aufgrund der hohen Energiepreise derzeit in einer völlig anderen Wettbewerbsposition als die USA, wo diese Preise niedriger seien. Das bedeute, dass sie für eine gewisse Zeit im Nachteil seien. In dieser Hinsicht sei es sinnvoll, zu einer vernünftigen Partnerschaft im Energiebereich zurückzukehren, zumindest so lange, bis Deutschland beginne, ausreichende Mengen an „grüner“ Energie zu produzieren. Deshalb sei er dafür, so schnell wie möglich zu einer vernünftigen Partnerschaft mit Moskau zurückzukehren.

Diese Auffassung teilt auch der einflussreiche SPD-Politiker und frühere EU-Kommissar für Unternehmen und Industrie Günter Verheugen. In einem Interview mit der Bremer Zeitung Weser-Kurier nannte er die aktuelle Außenpolitik der Grünen „fundamentalistisch“. „Ich bin sehr geprägt von der frühen Entspannungspolitik. Ich habe sie nicht nur miterlebt, sondern ich war daran beteiligt. Wenn Willy Brandts Position gewesen wäre, dass man mit Breschnew nicht reden kann, wäre der Kalte Krieg bis heute nicht beendet. Wenn ich möchte, dass sich die Verhältnisse in einem autoritären Staat ändern, erreiche ich das nicht mit militärischem Druck, sondern indem ich ein Vertrauensverhältnis schaffe“[1], sagte Verheugen.

Natürlich ist nicht die Rede von einer strategischen Partnerschaft mit Russland. Doch möchte die Privatwirtschaft, dass insbesondere Russland in Zukunft Gas für die Industrie liefert, sowohl in Form von Flüssig- als auch Pipeline-Gas.

Wenn die Ostsee-Pipeline kein Leck am Meeresgrund hätte, würde Berlin aller Wahrscheinlichkeit nach weiterhin Erdgas aus Russland beziehen. Auch wenn es in begrenztem Umfang wäre – Experten halten dieses Szenario für sehr wahrscheinlich. Darum schließen deutsche Unternehmen nicht aus, dass es in Zukunft, nach Beendigung des Konfliktes in der Ukraine, möglich sein wird, Nord Stream zu reparieren und Lieferungen in einem Umfang von 10-15 Milliarden Kubikmetern Erdgas pro Jahr wieder aufzunehmen. Aber dafür müsste die Bundesregierung bereits heute eine Reihe grundsätzlicher Entscheidungen treffen, insbesondere die, den unbeschädigten Teil der Pipeline instandzuhalten, um die inneren Teile der Unterwasserrohre vor Korrosion zu schützen, die durch das Eindringen von Meerwasser hervorgerufen wird.

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In diesem Kontext ist eine Aussage des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer interessant. Er ruft die Bundesregierung dazu auf, die Unversehrtheit von Nord Stream 1 und 2 zu garantieren. Jede der Pipelines besteht aus zwei Strängen, in denen Erdgas nach Deutschland geliefert werden kann. Heil geblieben ist nur eine der beiden Nord Stream 2-Röhren. Der sächsische Premier ist überzeugt, dass es im nationalen deutschen Interesse ist, beide Nord Stream-Pipelines zu reparieren und instandzuhalten. „Diese Infrastruktur hat rund acht Milliarden Euro gekostet und kann neben Gas auch Wasserstoff transportieren. Wenn Putin weg ist, könnte die Pipeline auch eine Möglichkeit für einen Nachfolger sein, wirtschaftliche Beziehungen mit uns wiederaufzubauen. Jetzt jedenfalls kann man sie noch reparieren. Bald wird sie unwiederbringlich zerstört sein“[2], erklärt Kretschmer.

Für die Instandhaltung sind nach Schätzungen von Energiekonzernen etwa 100 Millionen Euro notwendig. Keine riesige Summe, wenn man berücksichtigt, dass der Bau von Nord Stream 1 fast acht Milliarden Euro gekostet hat, und der Bau von Nord Stream 2 neun Milliarden Euro, meint Kretschmer.

Der Gerechtigkeit halber muss gesagt werden, dass Sachsen ein ostdeutsches Bundesland ist. Und die dortige Bevölkerung denkt anders über eine Wiederaufnahme der Beziehungen zu Russland als ihre westlichen Landsleute. Leider besteht in der deutschen Gesellschaft keinerlei Einigkeit über einen Neustart der Beziehungen zu Russland nach Beilegung der Ukraine-Krise. Während die Bewohnerinnen und Bewohner der ehemaligen DDR der Idee einer Wiederherstellung der Energiepartnerschaft eher positiv gegenüberstehen, sehen die Westdeutschen mehrheitlich keinen Sinn darin, im Hinblick auf die Energieversorgung erneut in eine Abhängigkeit von Russland zu geraten.

Die deutsche Gesellschaft bleibt weiterhin gespalten. Eine kürzlich durchgeführte Studie der Universität Leipzig, der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Hochschule Zittau/Görlitz hat gezeigt, dass es ehemalige DDR-Bürgerinnen und -Bürger in den vergangenen 30 Jahren schwer hatten, in den Bereichen Politik, Medien, Justiz und Kultur in Spitzenpositionen aufzusteigen.

Russland betreffend unterscheidet sich die Linie des sächsischen Ministerpräsidenten Kretschmer signifikant von der offiziellen Linie der Bundesregierung und auch von der der CDU. Kretschmer ruft zu diplomatischen Gesprächen mit Russland auf und stellt die Notwendigkeit harter Sanktionen gegen Moskau in Frage. Er tritt sogar dafür ein, dass Deutschland nach Beendigung des Krieges in der Ukraine wieder Erdgas von Russland kaufen soll. Eine in Sachsen durchgeführte soziologische Umfrage ergab, dass 75% der Befragten den Vorschlag zu diplomatischen Gesprächen mit Russland begrüßten.

Und wie denken die Deutschen insgesamt in dieser Frage? Innerhalb der Gesamtbevölkerung ist die Zahl derjenigen, die eine Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit Russland befürworten, nicht so groß. Jedoch führt die andauernde Wirtschaftskrise im Land, die vor allem durch den Verzicht auf russisches Erdöl und Erdgas ausgelöst wurde, allmählich zu einem Stimmungswandel in der deutschen Bevölkerung. Denn gerade die deutsche Wirtschaft litt besonders unter den Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine. Die hohen Energiepreise führten 2022 zu einem starken Anstieg der Inflation in Deutschland. Nach Auffassung zahlreicher Wirtschaftsexperten bleiben der Krieg in der Ukraine, die Energiepreise und die Inflation auch für die Wirtschaft des Jahres 2023 die bedeutendsten Instabilitätsfaktoren.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erwartet, dass die deutsche Wirtschaftsleistung in diesem Jahr um 0,4 Prozent schrumpft, und im nächsten Jahr schon um 0,7 Prozent. Jetzt werden von Wirtschaftsexperten sogar noch pessimistischere Prognosen für 2024 abgegeben.

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Wie immer leiden am meisten die Durchschnittsverbraucher. Sie müssen wegen der hohen Preise Gas sparen. So zögern sie den Beginn der Heizsaison hinaus, senken die Raumtemperatur ab, sparen beim Warmwasser- und beim Stromverbrauch. Der Gasverbrauch in Deutschland ist 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 14 Prozent gesunken.

Die neuen Gaslieferanten Deutschlands spielen hierbei keine geringe Rolle, da sie sich anders als Russland mit seinen billigen Energieträgern nicht scheuen, die Preise in die Höhe zu treiben. Der Bundeswirtschaftsminister und Ko-Vorsitzende der Grünen Robert Habeck hat bereits darüber geklagt, dass die USA und Norwegen die Notlage Deutschlands ausnutzen und „Mondpreise“ verlangen würden. Unter diesen Bedingungen wird die Idee, nach einem Ende des Krieges in der Ukraine wieder russisches Gas zu beziehen, für Deutschland immer attraktiver.

Diese Position verbreitet sich übrigens nicht nur in Deutschland, sondern zunehmend auch in anderen europäischen Ländern. Im Oktober veranstaltete das Oxford Institutefor Energy Studies eine Konferenz, auf der Experten aus der Energiebranche und teilnehmende Politiker gefragt wurden, ob Russland nach dem Ende des Ukraine-Krieges wieder zum wichtigsten Erdgaslieferanten in Europa werde. 40 Prozent antworteten mit „ja“, 20 Prozent enthielten sich. Eine genaue Prognose mag jedoch im Augenblick niemand abgeben.


[1] Interview, erschienen im Weser-Kurier am 28.08.2023

[2] Interview, erschienen in Focus Online am 19.03.2023