Das Projekt Nord Stream 2 befindet sich zurzeit in einem Entwicklungsstadium, in dem praktisch kein Zweifel daran besteht, dass es zu Ende geführt wird. Die Frage ist nur, welche politischen und wirtschaftlichen Kosten durch seine Inbetriebnahme entstehen und ob es (welt)wirtschaftlich gesehen voll funktionstüchtig sein wird. Der Ausgang der aktuellen Prozesse könnte bedeutenden Einfluss darauf haben, wie sich der europäische Energiemarkt künftig gestaltet.
Problematisch an der gegenwärtigen Herangehensweise an Nord Stream 2 in Deutschland und auch in anderen europäischen Ländern ist, dass dieses für die gesamte europäische Wirtschaft äußerst wichtige Projekt immer weniger in einem wirtschaftlichen Kontext erörtert wird, sondern immer mehr unter den Einfluss der aktuellen Tagespolitik gerät. Und diese, das muss man sich leider eingestehen, wird sich noch eine ganze Weile negativ auf das Vorhaben auswirken.
Von einem Stopp des Nord Stream 2-Projekts, insbesondere zum jetzigen Zeitpunkt, würde eine gefährliche Vorbildwirkung für das gesamte System der internationalen Wirtschaftsbeziehungen ausgehen. Es würde langfristig ein Präzedenzfall dafür geschaffen, wie amerikanische Interessen mit Hilfe von Sanktionen erfolgreich „durchgedrückt“ werden können. Mit einem Stopp von Nord Stream 2 würde Deutschland – und mit ihm andere EU-Staaten – nicht nur das Recht der USA anerkennen, die amerikanische Rechtsprechung auf den formaljuristisch souveränen Rechtsraum der EU auszudehnen, sondern auch das Recht, ausgehend von Lobbyisten-Logik und kommerziellen Interessen Sanktionen und Restriktionen zu verhängen.
Ein solcher Präzedenzfall ließe sich künftig auch auf andere Branchen der europäischen Wirtschaft übertragen, selbst auf jene, mit denen Russland nicht das Geringste zu tun hat, sondern in denen die EU z. B. mit China und anderen asiatischen Ländern, mit Staaten des Nahen Ostens oder Lateinamerikas zusammenarbeitet. Die USA werden sich kaum darüber freuen, wenn Deutschland ein Abkommen über Flüssigerdgaslieferungen mit Katar abschließt. Zudem wird Washington sich wohl kaum allein auf den Energiesektor beschränken. Die Trump-Regierung hat bereits deutlich gemacht, dass sie gewillt ist, mittels Sanktionen zu regieren, die sich gegen die Konkurrenzfähigkeit europäischer Stahlerzeuger, Flugzeugbauer und Unternehmen der digitalen Wirtschaft sowie insbesondere gegen Unternehmen aus dem Bereich der digitalen Kommunikation, gegen Automobilhersteller und Aluminiumproduzenten richten. Wenn die USA die Position von Bündnis 90/ Die Grünen und von pro-atlantischen Strömungen in anderen deutschen Parteien, die zum Boykott von Nord Stream 2 aufrufen, für sich nutzen, können sie ihre Ziele durchaus erreichen.
Eine Abkehr von Nord Stream 2 würde zu einem langfristigen Modell des Energieverbrauchs führen, das nicht nur zum jetzigen Zeitpunkt aktuell wäre, zu dem der wirtschaftliche Abschwung eine verhältnismäßig niedrige und günstige Preiskonjunktur diktiert, die von breiter politischer Unterstützung auf staatlicher Ebene begleitet wird, sondern auch in der Phase des wirtschaftlichen Wachstums, in der der Gasbedarf objektiv gesehen wachsen und auch zu einem Preisanstieg führen wird. Der Ansatz der Grünen und ihrer situationsbedingten Verbündeten gründet sich auf eine langfristige wirtschaftliche Stagnation in Deutschland und insgesamt in Europa. Dies stimmt völlig überein mit ihren politischen Konzepten, stellt jedoch die Bewahrung der EU als eigenständige Makroregion und Deutschlands als deren industriellen Kern in Frage. Insbesondere im Hinblick darauf, dass unter den Bedingungen der „Nach-Pandemie-Welt“ die Szenarien für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum auf der Grundlage CO2-freier Energieträger immer zweifelhafter erscheinen.
Das wichtigste Element in diesem Sinne ist eine mittelfristige Prognose über die Kapazität des europäischen Erdgasmarktes, sie muss jedoch frei von politischen Manipulationen bleiben. Doch selbst, wenn man vom konservativsten Szenario ausgeht, wird es schon 2024 oder wahrscheinlich sogar schon Mitte 2023 wieder zu einem Erdgasverbrauch von 550 Milliarden Kubikmeter wie im Jahr 2018 kommen (nach dem wirtschaftlichen Abschwung aufgrund der Coronavirus-Pandemie in den Jahren 2020/2021 wird er bei 10 % bis 12 %, vielleicht auch bei 15 % des Verbrauchs von 2018 liegen). Es stellt sich die Frage, ob im selben Zeitraum in Asien, wo die Wachstumstendenzen von Wirtschaft und Industrie sich fortsetzen, der Erdgasverbrauch steigen wird. Dies betrifft insbesondere China. Es ist offensichtlich, dass dieses Land zur Deckung seines steigenden Bedarfs mit der Hauptmenge an Flüssigerdgas beliefert werden wird, wenn auch aufgrund eines Preisunterschieds, den auszugleichen bisher nicht gelungen ist. Unter diesen Bedingungen, besonders unter Berücksichtigung von Faktoren, die in Zusammenhang mit militärischen Spannungen und Einschränkungen in der Gesundheitsversorgung stehen, kann der Kauf von Flüssigerdgas auf dem Spotmarkt grundsätzlich nicht als Garantie für eine nachhaltige Energieversorgung betrachtet werden.
Wenn man den Weg der Ersetzung russischen Erdgases durch amerikanisches Flüssiggas geht, wäre es vernünftig, für den Fall einer Krise der Fracking-Industrie auch das Risiko eines Lieferstopps aus den USA mit einzuplanen, denn eine solche Krise ist schon jetzt wirtschaftliche Realität. Egal, wie die Wahl in den USA ausgeht – die ökologische Komponente in der US-Politik wird stärker werden, und falls Joe Biden die Wahl gewinnt, umso mehr. Dies wird den Druck auf die Branche erhöhen und fast zwangsläufig die Kosten in die Höhe treiben. Es ist nicht auszuschließen, dass grundsätzlich die Frage nach neuen, ökologisch orientierten Ausgleichsmaßnahmen aufgeworfen wird, für deren Finanzierung man notwendigerweise zum Teil die europäischen Verbraucher zur Kasse bitten wird.
Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch die Erdgaslieferungen nach Europa aus anderen Quellen zunehmend Gefahren ausgesetzt sind. Bei allen potenziell attraktiven Ausgangspunkten für Erdgaslieferungen (sowohl Flüssiggas als auch Naturgas betreffend) bestehen bedeutende Risiken wirtschaftlicher und politischer Natur. So bestand z. B. durch den wieder aufgeflammten Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um das Gebiet Bergkarabach wiederholt ein direktes Sicherheitsrisiko für die Pipelines, die gezielt beschossen wurden. Wenn man davon ausgeht, dass die Instabilität in den Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres und im Umfeld von Iran zunimmt, wächst das Risiko für praktisch alle Gaslieferungen, die den Persischen Golf passieren müssen – sei es via Pipeline oder in Form von Flüssiggas. Ob die europäischen Verbraucher mit garantierten Gaskapazitäten versorgt werden können, die für ein reibungsloses Funktionieren der Sozialsysteme ausreichend sind, und dies zu einem berechenbaren Preis, ist inzwischen keine rein theoretische Frage mehr.
Aufgrund der durch die Pandemie verursachten Einschränkungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in der einen oder anderen Form bis 2022-2023 bestehen bleiben, wird es nicht leicht sein, selbst ein für den europäischen Markt verhältnismäßig geringes Lieferdefizit von, sagen wir, 35-40 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr (das noch wenige Jahre zuvor dank der Vielfalt verfügbarer Energiequellen mit noch nicht ausgeschöpften Kapazitätsreserven verkraftbar war) durch operative Flüssiggaslieferungen abzudecken. In jedem Fall nimmt die Bedeutung situationsbedingter Faktoren bedrohlich zu.
Falls die politische Instabilität und der Niedergang der staatlichen Strukturen in der Ukraine sich fortsetzen und falls sich im östlichen Mittelmeerraum ein neuer Konfliktherd bildet, wird die komplette Fertigstellung und die anschließende Inbetriebnahme von Nord Stream 2 auf einer stabilen wirtschaftlichen Grundlage die einzige technisch durchführbare Variante sein, mit der die Risiken möglichst gering gehalten werden können. Laut einer Studie des renommierten Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität zu Köln (EWI) können die europäischen Verbraucher bei einer umfassenden kommerziellen Nutzung von Nord Stream 2 (unter der Voraussetzung, dass diese stabilen und ausgewogenen „Spielregeln“ unterliegt) mehrere Milliarden Euro pro Jahr sparen, selbst bei einer Vernachlässigung der politischen Risiken. Dieses Projekt bringt nicht nur Deutschland Nutzen, sondern auch Ländern, die direkt an das deutsche Erdgasleitungsnetz angeschlossen sind wie z. B. Dänemark, den Niederlanden und sogar Polen. Es geht im Grunde um die Schaffung eines krisensicheren Energieversorgungssystems, das weitestgehend vor dem Einfluss äußerer Faktoren geschützt ist.
Das Vorgehen Washingtons gegen Nord Stream zielt nicht nur darauf ab, den Anteil amerikanischen Flüssigerdgases auf dem europäischen Gasmarkt zu erhöhen. Ziel der USA ist es, und dies unabhängig von Parteizugehörigkeiten, sich die Möglichkeit zu verschaffen, das Wirtschaftswachstum in Europa zu steuern, insbesondere in Deutschland und bei dessen engsten Partnern. Die USA sind an einem Ende der von beiderseitigem Nutzen geprägten deutsch-russischen Zusammenarbeit im Energiesektor interessiert und bestrebt, das Image Berlins als verlässlicher Partner zu untergraben, indem sie nicht allein und nicht so sehr Russland gegenüber als vielmehr China gegenüber demonstrieren, dass weder Berlin noch Brüssel, sondern Washington der Ort ist, an dem über die Präsenz auf den politisch sensiblen Märkten in Europa verhandelt wird.
In Experten- und Unternehmerkreisen wird vor allem in Deutschland bezweifelt, dass Berlin oder gar Brüssel es auf politischem oder diplomatischem Wege schaffen werden, europäische Unternehmen vor amerikanischem Druck zu bewahren. Vor diesem Hintergrund erscheint der Vorschlag aus deutschen Unternehmerkreisen folgerichtig, in der EU einen finanziellen und rechtlichen Mechanismus zum Schutz europäischer Unternehmen einzurichten und über Gegenmaßnahmen zur Sanktionspolitik der USA nachzudenken. Die Vorschläge zur Einführung von Zöllen und erst recht zum Importverbot für amerikanisches Flüssiggas, die in Europa vorgebracht werden, sind natürlich dem Versuch geschuldet, durch Gegenpropaganda Druck auf die USA auszuüben. Doch unter bestimmten Voraussetzungen könnten solche Lösungen von der propagandistischen Ebene auf die Praxis übertragen werden, besonders, wenn Washington weiterhin mittels Sanktionen Druck nicht nur auf russische, sondern auch auf europäische Akteure und Gasprojekte ausübt.
Eine solche Möglichkeit, in der Praxis Druck auf Washington auszuüben, besteht darin, die Pläne der EU-Kommission zur Einführung grenzüberschreitender CO2-Regelungen auf die USA auszuweiten. Die einfachste Möglichkeit ist, amerikanisches Flüssiggas mit einer „Umweltsteuer“ zu belegen, und zwar zum Höchstsatz. Die formalen Grundlagen dafür sind sogar vorhanden: die Methode des Fracking, die zur Förderung des Flüssigerdgases in den USA angewandt wird, ist stark umweltschädigend, energieintensiv und erfordert einen hohen Wasserverbrauch. Unter bestimmten Voraussetzungen würden sich das Vorgehen der europäischen Regulierungsbehörden und die Änderungen, die sich in den USA im Verhältnis zur Fracking-Industrie einstellen, synchronisieren lassen. Das Problem besteht darin, dass die USA davon ausgehen, dass die EU und die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten den politischen Willen für derartige Schritte nicht aufbringen.
Um einschätzen zu können, wie sich die Situation rund um Nord Stream entwickeln wird, darf auch nicht vergessen werden, dass Russland und seine politische Führung zunehmend ermüdet sind vom widersprüchlichen Dialog mit den EU-Staaten. Diese durch die europäische Politik verursachte Ermüdung wurde besonders deutlich beim Besuch des dänischen Außenministers Jeppe Kofod in Moskau. Dänemark nimmt in Bezug auf Nord Stream 2 eine doppeldeutige Haltung ein. Moskau wird unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum danach streben, Nord Stream 2 jetzt schon in Betrieb zu nehmen, egal zu welchem Preis und unter welchen Voraussetzungen. Dass Moskau das Vorhaben auf Eis legt, falls Bedingungen aufgestellt werden, die für Russland unannehmbar sind, ist eine der möglichen politischen Realitäten und kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Der Fall Nawalny, bei dem das Vorgehen deutscher Politiker gezeigt hat, dass man in Deutschland nachhaltig bestrebt ist, eine politisch motivierte Situation als Vorwand für die Abkehr von einem strategisch wichtigen Projekt zu nehmen, ist für Russland offensichtlich ein Wendepunkt. Es ist nicht so sehr der Eindruck entstanden, dass Berlin im Hinblick auf Nord Stream 2 „unseriös“ agiert (man versteht in Russland im Gegenteil sehr gut, wie sehr die deutsche Seite an dem Projekt interessiert ist), als vielmehr, dass es den Wunsch hegt, mit Moskau zusätzlich über die Bedingungen für den Betrieb von Nord Stream 2 zu feilschen. Genau diesen Schluss zogen hochrangige Expertenkreise in Moskau nach der merkwürdigen Ankündigung, die EU wolle wegen des Giftanschlags auf Nawalny Sanktionen gegen Russland verhängen.
Das Feilschen über die Bedingungen für einen praktisch gemeinsamen Betrieb von Nord Stream lässt sich nicht unendlich fortsetzen. In diesem Sinne werden die Versuche einer Reihe europäischer Staaten, zusätzliche finanzielle Einnahmen durch Nord Stream 2 zu erzielen (wie z. B. kürzlich die „polnische Geldstrafe“ von mehreren Milliarden), in Moskau sehr viel negativer bewertet als früher. Besonders, wenn Berlin die osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten nicht von russlandfeindlichen Aktivitäten abhält. Dies wird nur noch mehr die Position jener Vertreter der russischen Elite schwächen, die immer noch für eine Partnerschaft mit Europa eintreten, und dann lösen sich die Chancen auf eine Partnerschaft im Energiesektor in Luft auf.