Baltic Pipe versus Nord Stream 2

Im September erklärte der polnische Regierungssprecher Piotr Müller, dass sein Land bereit sei, Deutschland einen Ersatz für das problematische Nord Stream 2-Projekt anzubieten. Polen hatte beschlossen, die Situation zu seinem Vorteil zu nutzen und an ein Vorhaben zu erinnern, dass es als Alternative zu Nord Stream 2 ansieht: die Erdgasleitung Baltic Pipe. Ist die Ersetzung von Nord Stream 2 realistisch?

Die Probleme dieses Projekts ergeben sich aus den amerikanischen Sanktionen, darüber hinaus drohen seit Ende August neue Schwierigkeiten: im Zusammenhang mit dem Giftanschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Navalny wird selbst in Deutschland und der EU davon gesprochen, das Vorhaben zu stoppen, um Russland für das mit Navalny Geschehene zu bestrafen. Bisher gibt es keine Lösung, auch bezüglich der Erdgasleitung selbst besteht keine Klarheit, obwohl sie fast fertiggestellt ist. Die Frage lautet: Wird es neue amerikanische Sanktionen geben? Werden europäische Sanktionen hinzukommen? Daran, dass Nord Stream 2 wirtschaftlich sinnvoll ist, wurde in Deutschland bisher nicht gezweifelt.

„Als Analytikerin kann ich sagen, dass es gut wäre, wenn wir die Pipeline hätten. Denn dann könnten wir erwarten, dass es zu Preissenkungen kommt. Und im Hinblick auf die wirtschaftlich angespannte Situation wäre das jetzt wirklich von Bedeutung, denke ich. Aber auch für den Endverbraucher wäre es gut. Denn wir sprechen darüber, dass nicht nur die Gaspreise sinken könnten, sondern auch die Strompreise“, meint Dr. Kirsten Westphal, Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Das Baltic Pipe-Projekt ist jedoch weit von einer Verwirklichung entfernt oder besser gesagt, es befindet sich gegenwärtig im Anfangsstadium. Es soll das norwegische Erdgasleitungsnetz über Dänemark mit Polen verbinden, die Länge dieses Strangs beträgt etwa 900 km. Dem Konsortium von Baltic Pipe gehören das dänische Energieunternehmen Energinet und der polnische Netzbetreiber GAZ-SYSTEM S.A. an, eine Absichtserklärung zwischen Polen und Dänemark wurde 2017 unterzeichnet. Das Projekt wird von der EU-Kommission aktiv mit Fördermitteln unterstützt.

Copyright: erikbaib

Die Erdgasleitung verläuft vom Westufer Dänemarks aus zunächst durch Jütland. Im Gebiet Kolding wird ein Teil der Leitung unter Wasser bis zur Insel Fünen verlegt, wo sie dann durch die Insel führt und ab dem Gebiet der Gemeinde Nyborg erneut unter Wasser verläuft. Anschließend führt die Leitung über die große dänische Insel Seeland und verläuft dann erneut unter Wasser. Damit das Erdgas ungehindert bis nach Polen gelangen kann, ist der Bau einer neuen Verdichterstation in der Nähe von Everdrup erforderlich.

Bis Erdgas nach Polen geliefert werden kann, bleibt jedoch noch sehr viel zu tun. Die Länge des Unterwasser-Strangs zwischen Dänemark und Polen beträgt etwa 275 km, für den erfolgreichen Gastransport wird Polen sein eigenes Leitungsnetz wesentlich erweitern und Röhren auf einer Länge von etwa 280 km neu verlegen müssen, u. a. für die neue Pipeline.

Die Fertigstellung von Baltic Pipe ist für Oktober 2022 geplant, doch auch in Dänemark ist nicht alles so einfach. Im September klagten dänische Landwirte gegen die Firma Energinet, da man ihnen für den Bau der Pipeline ihr Land wegnimmt und sie finanziell entschädigt. Eine Gruppe von 40 Grundeigentümern reichte eine Sammelklage ein, da sie der Auffassung ist, dass der Bau der Pipeline und die Enteignung (trotz Entschädigung) ungesetzlich sind. Das Vorhaben betrifft in Dänemark 13 Gemeinden, die Landwirte sind unzufrieden mit den Entschädigungszahlungen in Höhe von 20.000 Dollar pro Kilometer gebauter Leitung, die im Budget des mit dem Bau beauftragten Unternehmens für sie vorgesehen sind.

Darüber hinaus soll der an Land verlaufende Teil der neuen Ostsee-Pipeline über das Territorium der Insel Fünen führen, auf der sich eine riesige Solarstromanlage mit 1200 Solarmodulen befindet. Nach Einschätzung der Firma Tommerup City’s District Heating Supply verstößt die Pipeline gegen die Pläne der Investoren, indem sie eine Erweiterung der Infrastruktur der Anlage um weitere 600-700 Module verhindert. Ferner trägt sie nicht der erklärten Priorität der dänischen Behörden Rechnung, für die der Ausbau der erneuerbaren Energien vorrangig ist.

Was den kommerziellen Nutzen von Baltic Pipe angeht, so bestehen auch hier ernsthafte Zweifel angesichts der Tatsache, dass das Interesse der EU-Kommission, Infrastrukturprojekte zu unterstützen, merklich nachgelassen hat. Das abnehmende Interesse ist auf nicht erneuerbare Energieträger zurückzuführen. Trotz der Versuche der polnischen Führung, den Bau der Pipeline mit der Notwendigkeit eines Kohleausstiegs in Polen zu begründen, wird der Start des Projekts ausschließlich durch das Bestreben Warschaus diktiert, sich „um jeden Preis“ von russischen Gaslieferungen unabhängig zu machen.

Das Wichtigste sind jedoch die Kapazitäten. Mit Nord Stream 2 ist es möglich, 55 bis 60 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr nach Deutschland zu liefern, und mehr als 60 % des deutschen Energiebedarfs mit dem „blauen Kraftstoff“ abzudecken. Mit Baltic Pipe könnten lediglich 10 Milliarden Kubikmeter norwegisches Erdgas Richtung Dänemark und Polen geleitet werden. Zudem wird Warschau bestimmte Kapazitäten für sich beanspruchen, denn man muss die Tatsache berücksichtigen, dass Polen die Laufzeit der Jamal-Verträge nicht über 2022 hinaus verlängern wollte, um seine Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern und mehr zu diversifizieren. Bisher hat das Land ca. 60 % seines Erdgasbedarfs aus Russland bezogen. Auf welche Erdgas-Kapazitäten hat Deutschland dann noch Anspruch?

So gesehen kann das Projekt Baltic Pipe nach Ansicht von Experten kaum als seriöse Alternative zu Nord Stream 2 betrachtet werden. Warschau ist bestrebt, Berlin die Nutzung der von Polen geschaffenen Infrastruktur für den Gastransport anzubieten und ein europäischer Erdgas-Hub zu werden; die USA unterstützen dies und planen, Flüssigerdgas (LNG) am Terminal Świnoujście anzulanden, das noch erweitert wird. Ungeachtet dieser Pläne wird die voraussichtliche Durchleitungskapazität von Baltic Pipe mindestens fünfmal geringer veranschlagt als die von Nord Stream 2. Zudem besitzt Deutschland eine bedeutende operative Infrastruktur, die es ermöglicht, Erdgas über die bereits vorhandenen Pipelines direkt vom norwegischen Festlandsockel zu beziehen. Norwegen plant nicht, die Förderung zu intensivieren, und daher ist in den letzten Jahren die zur Erdgasförderung geschaffene Infrastruktur nicht ausgelastet. Überdies würde Baltic Pipe praktisch einen Anteil von diesen norwegischen Erdgaskapazitäten abzweigen, um ihn dann über den Umweg Ostsee und Polen zurück nach Deutschland zu leiten.

Abgesehen davon verfügt Deutschland über eine eigene leistungsfähige und weitverzweigte Erdgasinfrastruktur, die eigentlich durch Nord Stream 2 und neue Flüssiggasterminals noch erweitert werden soll. Daher wird Warschau den Plan, Polen dank Baltic Pipe in einen bedeutenden europäischen Erdgas-Hub zu verwandeln, kaum verwirklichen können. Und dies umso weniger, als es seine deutschen Nachbarn kaum von der Rentabilität und der Zukunftsfähigkeit eines solchen Projekts wird überzeugen können.