Die Energiesicherheit Europas in Zeiten von Pandemie und Wirtschaftskrise

Die Weltwirtschaft ist nicht nur in einen Zustand der Rezession geraten, der durch die Coronavirus-Pandemie noch verstärkt wird, sondern muss auch anerkennen, dass sich neue systemische und politische Realien herausgebildet haben. Je eher diese neuen systemischen Realien in ein neues Wirtschaftsverständnis übersetzt werden, desto schneller und wirksamer wird der Ausweg aus der Krise sein. Wenn Europa weiterhin in Erwartung der Rückkehr zur „Normalität“ lebt, wird das die negativen Tendenzen nur verstärken und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft verringern. Die wirtschaftlichen Turbulenzen verschärfen nur noch den Verteilungskampf auf dem europäischen Energiemarkt.

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Der wichtigste Faktor der „neuen Normalität“ ist die Verschärfung von Fragen, die mit der globalen und regionalen Energiesicherheit zusammenhängen, und dies vor dem Hintergrund einer bedeutenden Erweiterung des Instrumentariums, das einige Staaten zur Unterstützung ihrer eigenen Energiepolitik glauben nutzen zu können. Am signifikantesten ist in dieser Hinsicht die Erfahrung der USA, die ihre politische Unterstützung für Erdöl- und Erdgasexporte direkt mit militärisch-politischen Entscheidungen verknüpfen. Besonders auffällig ist hierbei, dass in das Gesetz über den Verteidigungshaushalt (NDAA) für 2020 Sanktions-möglichkeiten gegenüber europäischen Unternehmen aufgenommen wurden, die am Bau von „Nordstream 2“ und „Turkish Stream“ beteiligt sind. Dadurch wird ein hybrider Mechanismus erzeugt, mit dem Druck auf europäische Firmen und Regierungen ausgeübt wird, und dies auch unter Anwendung harter politischer Maßnahmen, ganz zu schweigen von Sanktionen gegen Unternehmen und ganze Sektoren.

Das Gesetz stellt eine Herausforderung an das eigenständige Handeln der EU in wirtschaftlichen Schlüsselfragen und eine direkte Verletzung der Souveränität der EU durch die USA dar. Es ist im Grunde genommen eine Antwort Amerikas darauf, dass Brüssel die EU-Energiestrategie unbeirrt weiterverfolgt, darunter auch in Klimafragen. Bemerkenswert ist, dass das Signal aus Washington, Europa mit Sanktionen zu belegen, auf dem Höhepunkt der Coronavirus-Krise in Europa kommt und zu einem Zeitpunkt, zu dem auch die Turbulenzen auf dem europäischen Energiemarkt ihren Höhepunkt noch nicht überschritten haben. Langfristig stellt sich die Frage, wer die Möglichkeit besitzen wird, den europäischen Energiemarkt als solchen zu kontrollieren und ob die EU den souveränen Charakter dieses Marktes bewahren kann.

Eine wesentliche Rolle bei der Stabilisierung der Situation müssen gemeinsame europäische Strukturen spielen, die in der letzten Zeit entweder neutrale oder antirussische Positionen in Fragen der Energiesicherheit eingenommen haben. Die früher der europäischen Energiestrategie zugrundeliegende Logik, den administrativ-politischen Anteil Russlands zurückzufahren, beginnt nun, eine nicht nur negative, sondern sogar gefährliche Rolle zu spielen. Betrachten wir einmal vier Aspekte etwas näher, die den Kontext ausmachen, in dem Europa nunmehr seinen grundlegenden Ansatz in Fragen der europäischen Energiesicherheit überdenken sollte:

  • Die Transitländer, die oft politische Argumente benutzten, um Unterstützung von Seiten der hochentwickelten Industriestaaten der EU zu erhalten, haben gesehen, dass diese Taktik Wirkung zeigt.
  • Unter den jetzigen Umständen wird die Umsetzung von früher zwischen EU-Partnern vereinbarten Projekten zum Gastransport so unwahrscheinlich wie nie zuvor, jedenfalls vom Standpunkt der Rentabilität aus betrachtet. Es ist unbedingt notwendig, die Anstrengungen auf diejenigen Projekte zu konzentrieren, die sich in weit fortgeschrittenem Stadium befinden.
  • Die Sicherheitsrisiken beim Erdöl- und Erdgastransport per Schiff werden zunehmen, ebenso die Ausgaben im Transport- und Logistik-Bereich, insbesondere in Ostasien und im Mittelmeer. Bei letzterem sind die Interessen Europas direkt betroffen.
  • Die Inflationsrate kann für die EU und die USA höher ausfallen als gewöhnlich, was die Verwirklichung langfristiger Investitionsvorhaben weniger berechenbar macht, selbst wenn europäische Unternehmen weiter unbegrenzten Zugang zu Krediten haben, insbesondere zu chinesischen Krediten.

Mit anderen Worten: Wie sich die Situation rund um den europäischen Energiemarkt gestalten wird, lässt sich selbst dann wesentlich schwerer vorhersehen, wenn die „Coronavirus-Pandemie“ und die damit einhergehende Hysterie in naher Zukunft zu Ende gehen. Unter diesen Bedingungen besteht die Aufgabe der nationalen und supranationalen Strukturen in Europa darin, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass nicht nur in Zeiten der wirtschaftlichen Rezession, die mit der Pandemie und mit den Turbulenzen an den Finanzmärkten einhergeht, ein ungehinderter Zugang zu Erdöl- und vor allem Erdgasressourcen möglich ist, sondern in erster Linie dann, wenn die wirtschaftlichen Aktivitäten wieder aufgenommen werden, denn dann wird Bedarf an verhältnismäßig günstigen Energieträgern herrschen, deren Lieferung garantiert ist.

Europa sieht sich dadurch mit drei Fragen konfrontiert:

  1. Die Bewahrung eines einheitlichen, souveränen gesamteuropäischen Energiemarktes als Gegengewicht zu den offensichtlichen Tendenzen, den Energiemarkt regionalisieren zu wollen und zu den Bestrebungen der USA, diese von außen zu steuern. Für Europa stellt sich hierbei nicht allein die Frage nach wirtschaftlichen Interessen, sondern vielmehr nach dem politischen Willen, die europäische Wettbewerbsfähigkeit im Energiesektor zu verteidigen.
  2. Die Fähigkeit der gesamteuropäischen Strukturen, im Energiesektor einen Ausgleich zwischen nationalen Interessen und einer gesamteuropäischen Politik zu schaffen – zunächst in Bezug auf Gaslieferungen, und in der Zukunft auch bei der Erdölverarbeitung.
  3. Die Fähigkeit der Europäer, sowohl auf nationaler als auch auf gesamteuropäischer Ebene die Regulierbarkeit der Finanzströme im Energiebereich zu gewährleisten und das eigene Investitionspotenzial zu bewahren. In diesem Zusammenhang müssen sich die Europäer offen fragen, welche Faktoren zur Schaffung günstiger Bedingungen für den Wiedereinstieg in Investitionsprozesse sowohl im Energiesektor als auch insgesamt in der europäischen Industrie dienen können. Zweifellos gehört zu diesen Faktoren die Beibehaltung einer breit angelegten Energie-Partnerschaft mit Russland.

Die Europäische Kommission als Koordinator der Energiepolitik in Europa muss unbedingt zeigen, dass die Interessen des „geeinten Europas“ vorrangig sind und wirksame Mechanismen ausarbeiten, die europäische Unternehmen vor unlauterer Konkurrenz aus Washington in Form von extraterritorialen US-Sanktionen schützen. Es ist wichtig, äußere Gefahren für Geschäfte auf dem heimischen Markt auszuschließen. Diese können sowohl in Form von Erpressungen durch Lieferanten oder Transitländer als auch durch unvorhergesehene Situationen im Erdöl- und Erdgassektor einer ganzen Reihe von Staaten auftreten. Im letzteren Fall ist die größte Unbekannte nicht die Situation der Erdöl- und Erdgaslieferanten im Nahen Osten oder in der Kaspi-Region, sondern die der amerikanischen Fracking-Industrie.

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Das Problem der Lieferungen von US-amerikanischem Schieferöl und Schiefergas auf den europäischen Markt besteht darin, dass der amerikanischen Fracking-Industrie bei einer Fortsetzung der negativen Dynamik auf dem Weltmarkt Unternehmenspleiten drohen. Selbst wenn es ihr gelingt, den Folgen zu entgehen und einen Dominoeffekt bei Unternehmenspleiten abzuwenden, wird die Wirtschaft der Vereinigten Staaten mindestens bis zum Sommer 2022 mit Umstrukturierungen und Zusammenlegungen beschäftigt sein.

Die Situation könnte stagnieren und sich in die Länge ziehen durch die Notwendigkeit, zur Erschließung neuer Erdöl- und Erdgasvorkommen eine neue Investitionswelle in Gang zu setzen. Und dies erscheint bisher äußerst problematisch. Es stellt sich unweigerlich die Frage, aus welchen Mitteln die Umstrukturierung der Branche finanziert und Liquiditätslücken geschlossen werden sollen, insbesondere wenn die massive Geldzufuhr zur Stützung der amerikanischen Wirtschaft zu keinem baldigen Durchbruch führt. In Europa sollte man sich bewusstmachen, dass es bei einem relativ schnellen Aufschwung in China vor allem die europäischen Verbraucher wären, die den Preis für die Wiederbelebung der amerikanischen Fracking-Unternehmen zahlen müssten.

Ernsthafter betrachtet werden sollten auch die Pläne Polens, das zum bedeutendsten virtuellen Handelspunkt (VHP) in Europa für amerikanische Flüssiggaslieferungen werden möchte. Warschau, das großen Einfluss auf die Ukraine und potenziell auch auf Weißrussland hat, also auf Transitländer, erhält auf diese Weise außerordentlich große Möglichkeiten, den europäischen Energiemarkt zu manipulieren. Möglichkeiten, denen die Länder des „alten“ Europa schlicht keine politischen Mittel werden entgegensetzen können. Besonders verwundbar wird die Position Deutschlands sein, das sich, falls das „Nordstream-2“-Projekt weiterhin auf Eis liegt, in der Phase des wirtschaftlichen Wiederaufbaus nicht auf unabhängige Weise mit erschwinglichen Energieträgern wird versorgen können.

Die Erklärungen Donald Trumps, man sei zu Sanktionen gegen europäische Unternehmen bereit, die am Bau von „Nordstream 2“ und „Turkish Stream“ beteiligt sind, weisen darauf hin, dass Washington die strategische Aufgabe der Neustrukturierung der größten europäischen Energieunternehmen als Teil der Wirtschaftstätigkeit sieht, die nicht der EU-Gesetzgebung untersteht („Energiepakete“, die ursprünglich darauf abzielten, Russlands Präsenz auf dem Markt zu begrenzen), sondern der amerikanischen. In erster Linie wird es um die deutschen Konzerne Uniper und Wintershall Dea, die britisch-niederländische Shell, die französische Engie, die österreichische OMV und eine Reihe anderer Firmen gehen, nicht zu vergessen auch die britische BP. Diese Unternehmen könnten in Zukunft unter verschiedenen Vorwänden, darunter auch der Anwendung administrativer Mechanismen, der amerikanischen Jurisdiktion und der Kontrolle amerikanischer Finanzkonglomerate unterstellt werden, die lediglich daran interessiert wären, ihre Investitionsströme abzugreifen. Dies würde Europa nicht nur der Mechanismen zur formalen Steuerung seiner Energiesicherheit berauben, sondern auch der für die Schaffung eines flexibleren Systems notwendigen Finanzmittel.

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Sowohl die supranationalen europäischen Strukturen als auch die nationalen Eliten, die mittelfristig vor Herausforderungen stehen werden, die mit dem Überleben Europas als eigenständiger wirtschaftlicher Akteur verbunden sind, sollten anerkennen, dass die Konflikte zwischen Europa und den USA im Energiesektor noch zunehmen werden und im Rahmen der bestehenden euroatlantischen Institutionen nicht gelöst werden können. Deshalb muss Brüssel Härte zeigen. In diesem Wirtschaftskrieg mit den USA und mit Donald Trump persönlich, dessen Aussichten, für eine zweite Amtszeit wiedergewählt zu werden, sich immer schwieriger gestalten und der in diesem Konflikt bereits seine Fähigkeit unter Beweis gestellt hat, den „Einsatz zu erhöhen“, kann sich durch die Pandemie und den Preisrutsch beim Erdöl Vieles verändern, und die einstigen „Feinde“ und Konkurrenten im Osten, vor allem China und Russland, können – natürlich unter der Voraussetzung, dass die Interessen im Industrie- und im Energiesektor übereinstimmen – zu mächtigen Verbündeten werden.