Abkehr von den Spotmärkten: Die Rückkehr der EU zu langfristigen Gaslieferverträgen

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Die Energiekrise und der dadurch ausgelöste Anstieg des Gaspreises in Europa haben zu einem klaren Bruch mit der früheren, auf die Spotmärkte gestützten Energiepolitik der EU geführt. Noch vor nicht allzu langer Zeit sahen die Europäer neue langfristige Gaslieferverträge (und zwar nicht nur diejenigen mit Russland) als eine Art Schuldknechtschaft, die nicht nur die Abhängigkeit der EU von einzelnen Lieferanten steigere, sondern auch die Erreichung der Klimaziele erschwere. Der freie Spotmarkt hingegen galt als natürliche und günstige Energiequelle in einer globalisierten Welt. Die Europäische Kommission erklärt seit langem lautstark, sie habe Pläne für ein Verbot neuer Lieferverträge für nicht emissionsreduziertes Erdgas – allerdings erst ab 2049.

Der Einfall Russlands in der Ukraine und der starke Einbruch bei den Pipelinegaslieferungen aus Russland stürzten Europa in eine Energiekrise und zwangen die EU, die Einfuhr von teurem LNG aus den USA und anderen Ländern (darunter auch Russland) über den Spotmarkt hochzuschrauben und die Nachfrage durch ein Herunterfahren der Industrie stark zu drosseln. Jetzt hingegen, über ein Jahr später, scheint sich der europäische Ansatz komplett gewandelt zu haben: im Zuge dessen, dass  europäische Regierungen ihre „grünen“ Pläne immer häufiger mit Verweis auf gestiegene Ausgaben und wirtschaftliche Probleme zurücknehmen, steigt die Bereitschaft der europäischen Kunden, langfristige Lieferverträge abzuschließen. Die Parteien des rechten Spektrums warnen in ganz Europa vor einem „Greenlash“, einer Gegenbewegung zur Klimapolitik, und ein ausgewogener Energiemix scheint wieder öffentlich diskutiert zu werden.

Jetzt kommt heraus, dass europäische Firmen mit Chevron über LNG-Lieferverträge mit einer Laufzeit von bis zu 15 Jahren verhandeln – also genau über das, was die Mitgliedstaaten in all diesen Jahren vermeiden wollten. Ein paar Wochen zuvor hatten Shell und TotalEnergies Lieferungen von LNG aus Katar für ganze 27 Jahre ausgehandelt. Die beiden Vereinbarungen umfassen jeweils bis zu 3,5 Millionen Tonnen LNG jährlich.

Obwohl es zurzeit keine rechtlichen Einschränkungen für den Abschluss von langfristigen Verträgen durch Privatunternehmen gibt, machen sich einige EU-Beamte Sorgen, da diese Vertragsabschlüsse zeigen, dass die großen Abnehmer ungeachtet der grünen Klimapolitik der EU von guten Zukunftsaussichten für das Erdgas ausgehen. Andere Kommentatoren sehen in solchen Verträgen ein Risiko für die beteiligten Unternehmen, sollte die Energiewende erfolgreich sein.

Langfristige Verträge kontra Spotmarkt

Die Beweggründe für den Abschluss langfristiger Verträge sind klar: die europäische Wirtschaft möchte sich gegen Preissprünge und mögliche Defizite absichern. Langfristige Erdgasverträge sind ein unverzichtbares Marktinstrument auf einem gesunden Energiemarkt, da sie die Versorgung der Abnehmer sichern und den Lieferanten eine stabile Nachfrage garantieren. Stabilität und Verlässlichkeit der Lieferungen sind ein Schlüsselfaktor für die Wirtschaft, die auf die ständige Verfügbarkeit von Gas angewiesen ist. Langfristige Verträge sorgen für Planungssicherheit bei den Unternehmen und räumen das Risiko von Energiepreisschwankungen aus.

So schwer es fällt, dies zuzugeben: die Marktentwicklung geht dahin, dass die Europäer riskieren, von unzuverlässigen Quellen abhängig zu werden, wenn sie sich ihren Gasnachschub nicht langfristig sichern. Natürlich wird es der Wirtschaftsmacht Europa nicht so ergehen wie Pakistan, das gezwungen war, seine LNG-Importe aufgrund der hohen Spotpreise ganz einzustellen, doch die Schwankungen auf dem Markt könnten für die europäische Industrie durchaus problematisch werden.

Im Oktober 2023 veröffentlichte die International Gas Union (IGU) in ihrem Bericht zur weltweiten Gasmarktlage 2023 eine Prognose, nach der die Länder der EU weiterhin vom Import großer Gasmengen abhängig sein werden, wobei es jedoch auch einzelne Szenarien gibt, laut denen die Nachfrage zurückgehen wird.

„Wir werden noch etwa zwei Jahrzehnte lang einige fossile Moleküle in unserem System brauchen. In diesem Zusammenhang wird es einen Bedarf an amerikanischer Energie geben,“ so Ditte Juul Jørgensen, Generaldirektorin der Generaldirektion Energie der Europäischen Kommission, in einem Interview mit der Financial Times.

Die USA könnten bald an ihre Grenzen stoßen

Vor dem Hintergrund der größten europäischen Energiekrise aller Zeiten hat der LNG-Export aus den USA bereits historische Ausmaße erreicht. Doch verfügt das Land über genügend Erdgas, um die Nachfrage aller Interessenten zu bedienen? Viele Experten sind sich darin einig, dass das, abhängig vom jeweiligen Szenario, nicht unbedingt der Fall ist.

Die Tendenz der amerikanischen Regierung hin zu „grüner“ Energie könnte zu einer Abwanderung der Investoren und einer Verteuerung der LNG-Fabriken führen. Im Vorfeld des Wahlkampfes rechnet das Weiße Haus mit der Unterstützung der „grünen“ Kräfte und fährt einen härteren Kurs gegen die Öl- und Gaskonzerne. Die amerikanischen Unternehmen haben von sich aus für den Zeitraum unmittelbar nach Inbetriebnahme der LNG-Anlagen langfristige Lieferverträge geschlossen. Insgesamt umfassen diese Verträge für Gas aus den zukünftigen Anlagen beinahe 60 Milliarden Kubikmeter jährlich. Im Falle eines Vertragsbruchs würden gegenüber den Kunden Vertragsstrafen in Milliardenhöhe fällig. Dies könnte zu einer Konkurswelle führen und die bereits in Betrieb befindlichen Anlagen gefährden.

Hinzu kommt, dass die Europäische Kommission und das Europäische Parlament sich im November auf neue Regeln geeinigt haben, die Importe von fossilen Brennstoffen mit Methanemissionsgrenzen belegen. Bis 2030 sollen für den Import aus dem Ausland Obergrenzen für die Methanintensität eingeführt werden. Dies ist genau die Art von Maßnahmen, die die amerikanischen LNG-Produzenten aufscheuchen und die Emissionsreduktionskosten explodieren lassen wird. Die großen LNG-Anlagen, die in den nächsten Jahren in Betrieb genommen werden sollen, laufen dann Gefahr, ihre Produktionslizenz zu verlieren und stillgelegt zu werden.

Kohle ist grüner als LNG aus den USA

Das Problem mit den langfristigen Lieferverträgen besteht nicht allein darin, dass dadurch die Verwendung von Erdgas in Europa noch auf Jahrzehnte hinaus festgeschrieben wird: das LNG aus den USA ist der ehrgeizigen europäischen Politik auch nicht umweltfreundlich genug. Im Oktober veröffentlichte Robert Warren Howarth, Professor an der Cornell University, einen detaillierten Bericht über den Emissionsfußabdruck des amerikanischen LNG, nach dem LNG aus den USA das bis zu 2,7-fache der Emissionen von Kohle verursacht, abhängig von den Motoren des jeweiligen Tankschiffs. In seine Studie flossen alle CO2- und Methanemissionen des Frackinggases, seiner Verflüssigung und seines Transports durch LNG-Tanker ein. Das Ergebnis ist eindeutig: amerikanisches LNG ist mit keinem Klimaziel vereinbar. Professor Howarth ruft daher dazu auf, den Bau neuer LNG-Infrastruktur zu verbieten, da es dadurch lediglich zu Fehlinvestitionen („stranded assets“) kommen wird, wenn sich die Länder der Welt auf ernsthafte rechtsverbindliche Klimaziele einigen.

In diesem Zusammenhang kommt einem eine aufsehenerregende Meldung aus Frankreich in den Sinn: die dortige Regierung zwang 2020 das Unternehmen Engie, eine Vereinbarung mit der amerikanischen Firma NextDecade über 20-jährige Lieferungen im Wert von 7 Milliarden Dollar zu verschieben, weil sie befürchtete, dass diese Firma zu hohe Methanemissionen verursachte. 2022 kam es dann doch noch zum Vertragsabschluss, doch die französische Regierung hatte erreicht, dass CO2-Abscheidung und -lagerung sowie CO2-Emissionszertifikate zur Anwendung kommen werden.

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Abhängigkeit von einem Lieferanten, dessen Gas aus Umweltgesichtspunkten deutlich schlechter abschneidet als Pipelinegas oder das LNG anderer Anbieter ist ein zweifaches Risiko für die europäische Wirtschaft, die bei einer Verschärfung der Klimapolitik von der zunehmenden Regellast erdrückt werden könnte.

Insgesamt handelt es sich bei langfristigen Gaslieferverträgen um eine vernünftige Marktmaßnahme, die den europäischen Unternehmen und der Wirtschaft als Ganzes nur helfen wird. In den letzten zwei Jahren hat sich gezeigt, dass der Spotmarkt langfristige vertragliche Verpflichtungen weder ersetzen kann noch sollte. Die umweltpolitischen Auswirkungen dieser Verträge, gerade auch der LNG-Lieferverträge mit den USA, werfen jedoch wichtige Fragen über die Verträglichkeit mit den Klimazielen der EU auf. Es wird für die Zukunft des Energiesystems der EU entscheidend sein, ein Gleichgewicht zu finden zwischen Energieversorgungssicherheit, wirtschaftlichen Abwägungen und Nachhaltigkeit.