EUROPAS PLÄNE FÜR AFRIKA ALS ERSATZ FÜR RUSSISCHES GAS: VIEL EINSATZ, WENIG ZUKUNFTSAUSSICHTEN

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Im Jahr 2022 verzeichnete Europa den stärksten Rückgang der Gasnachfrage aller Zeiten, und zwar um 55 Milliarden Kubikmeter (bcm) oder 13 %, wie die Internationale Energieagentur berichtet https://www.iea.org/commentaries/europe-s-energy-crisis-what-factors-drove-the-record-fall-in-natural-gas-demand-in-2022 . Gleichzeitig haben sich die Ausgaben für Gasimporte im Vergleich zu 2021 fast verdreifacht und erreichen 400 Milliarden Euro. Langfristig kann es sich der europäische Kontinent jedoch weder leisten, den Gasverbrauch so niedrig zu halten, noch so viel für Energie auszugeben.

Eine der diskutierten Lösungen ist der Import von Energie aus afrikanischen Ländern. Aber trotz der allgemeinen Attraktivität dieser Idee wäre es mittelfristig selbst mit den gemeinsamen Lieferungen aller afrikanischen Lieferanten nicht möglich, russisches Gas zu ersetzen. Außerdem sind langfristige Verträge angesichts der instabilen politischen Lage in den meisten afrikanischen Erdgasexportländern fraglich.

Afrikanisches Gambit

Offiziellen Quellen zufolge https://www.consilium.europa.eu/de/infographics/eu-gas-supply/ sank der Anteil Russlands an den Erdgaseinfuhren nach Europa von 40 % Anfang 2022 auf 10 % Ende des Jahres. Europäische Beamte und Energieunternehmen suchten nach allen möglichen Möglichkeiten, ihre Gasspeicher zu füllen, und lockten afrikanische Akteure an.

Zu Beginn der Heizperiode 2022 hatten die europäischen Staats- und Regierungschefs Abkommen mit Ägypten, Senegal, Angola und der Republik Kongo angekündigt und verhandelten gleichzeitig mit vielen weiteren Ländern. Im Jahr 2022 konnte Algerien seine Position als einer der größten Erdgaslieferanten Europas mit einem Anteil von mehr als 11,5 % an den Gesamtimporten ausbauen.

Es folgten jedoch sofort starke Proteste der Bevölkerung. Im November letzten Jahres versammelten sich afrikanische Aktivisten während der UN-Klimakonferenz COP27 in Sharm El Sheikh zu einer Demonstration und forderten ein Moratorium für neue Gasabkommen zwischen der EU und Afrika. Dies wurde durch einen offenen Brief https://caneurope.org/stop-europes-dash-for-gas-in-africa/ an die EU-Kommission und die Präsidenten der führenden europäischen Länder unterstützt, der von zahlreichen Aktivistengruppen aus der ganzen Welt sowie von den Grünen innerhalb des europäischen Establishments unterzeichnet wurde.

Die Hauptanliegen der Demonstranten sind dabei Ethik und Umwelt. Neue Gasgeschäfte erfordern nicht nur eine Ausweitung der laufenden Projekte, sondern auch neue Explorationen und Infrastrukturen. Laut Joab Okanda, panafrikanischer Berater von Christian Aid, sind 89 % der in Afrika im Bau befindlichen LNG-Infrastruktur für den Export der Ressourcen des Kontinents nach Europa bestimmt. „Wir können nicht die Tankstelle Europas sein. Denn dann zerstören wir das Klima“, wurde Okanda zitiert.

Generell stehen die Abkommen im Widerspruch zu den europäischen Bestrebungen, den globalen grünen Wandel anzuführen, und insbesondere zu der 2021 in Glasgow formulierten COP26-Resolution, die öffentliche Finanzierung von Projekten mit fossilen Brennstoffen im Ausland einzustellen. Zu den Unterzeichnern gehören mehrere EU-Länder, darunter Dänemark und Italien, sowie die Europäische Investitionsbank (EIB). Ende 2022 wurde die Bank sogar dafür kritisiert, dass sie ihren Verpflichtungen nachkam. Während einige afrikanische Staats- und Regierungschefs diesen Schritt als heuchlerisch bezeichneten, hielt die EIB an ihrer Entscheidung fest. „Wir als europäische öffentliche Institution sollten nicht in Vermögenswerte investieren, die eines Tages als gestrandete Vermögenswerte angesehen werden“, kommentierte EIB-Präsident Werner Hoyer die Entscheidung damals gegenüber der Financial Times.

Die Aussichten auf afrikanische Gaslieferungen nach Europa werden durch zahlreiche Hindernisse praktischer Natur erschwert.

Algerien: Großer Enthusiasmus, aber schwache Fundamente 
Algerien ist seit Jahren der drittgrößte Erdgaslieferant der EU, während Europa der größte Markt Algeriens ist. Dementsprechend war das Land eines der ersten des Kontinents, das die Aufmerksamkeit der europäischen Energieunternehmen auf sich zog. Im Juli 2022 unterzeichnete die algerische Sonatrach einen Vertrag im Wert von fast 4 Milliarden Euro mit dem italienischen Ölkonzern Eni, dem französischen Unternehmen Total und dem amerikanischen Unternehmen Occidental. Italien, das den größten Teil seines Erdgases aus Algerien bezieht, schloss daraufhin einen Vertrag über zusätzliche Lieferungen von bis zu 9 Mrd. m3 im Zeitraum 2023-24 ab. Außerdem wurde inmitten der europäischen Energiekrise ein neues vielversprechendes Ölfeld entdeckt: Hassi Illatou East-1, mit geschätzten Reserven von bis zu 150 Millionen Barrel.

Es ist jedoch ziemlich unwahrscheinlich, dass Algerien einen bedeutenden Anteil der russischen Lieferungen ersetzen kann: Derzeit exportiert das Land fast 83 % des seines Gases nach Europa – hauptsächlich nach Italien und Spanien.

Gleichzeitig stagniert das absolute Volumen der Lieferungen seit 15 Jahren und ist sogar leicht rückläufig. Im Jahr 2022 wird die Gesamtmenge beispielsweise 44 Mrd. m3 erreichen, etwa 6 Mrd. m3 weniger als 2021. Der Rückgang ist zum einen auf einen stetigen Anstieg des Inlandsverbrauchs zurückzuführen (von den jährlich in Algerien geförderten 100 Mrd. m3 Gas werden nach Angaben des staatlichen Produzenten Sonatrach fast 50 % im Inland verbraucht), zum anderen auf politische Spannungen mit Spanien.

Zur Steigerung der algerischen Gasexporte wären enorme Investitionen erforderlich. Aber selbst, wenn das Geld heute zur Verfügung stünde, würde es mindestens 15 Jahre dauern, bis die Exploration, die vorgelagerten Bereiche, der Ausbau der Transportwege und andere Infrastrukturen fertiggestellt wären. Auch Schiefergasvorkommen stellen keine Lösung dar. Die amerikanische Energy Information Administration schätzt die algerischen Reserven auf etwa 20.000 Mrd. Kubikmeter – eine beträchtliche Menge, aber nicht genug, um Europas Energiehunger zu stillen, zumal zu ihrer Erschließung weitere Investitionen nötig sind.

 Nicht zuletzt besteht die berechtigte Sorge, dass ein Anstieg der Energieeinnahmen in den Händen der algerischen Militärelite verbleibt. Die herrschende Klasse ist nach wie vor korrupt, während der anhaltende Konflikt mit Marokko und die terroristischen Bedrohungen eine weitere Militarisierung rechtfertigen – eine wenig attraktive Aussicht für Europa.

Libyen: Politische Ungewissheit als Hindernis

Libyen, Algeriens Nachbar und ein weiterer wichtiger Lieferant, sieht noch weniger vielversprechend aus. Nach dem Sturz des ehemaligen Diktators Muammar Gaddafi im Jahr 2011 gingen die Exporte nach Europa um 5,5 Mrd. m³ zurück, und haben sich seitdem noch nicht wieder erholt.
Politische Unruhen führten zu einer Stagnation im Öl- und Gassektor. Im vergangenen Oktober deutete der libysche Öl- und Gasminister Mohamed Aoun an, dass die Greenstream-Pipeline von Libyen nach Italien innerhalb von vier bis sechs Monaten ihre Fördermenge verdoppeln könnte. Über die Pipeline mit einer Kapazität von 8 Mrd. m3 pro Jahr wurden im vergangenen Jahr jedoch nur 2,5 Mrd. m3 nach Italien befördert. Da die politische Lage alles andere als stabil ist, wird das Volumen wahrscheinlich nicht steigen

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Die libysche Produktion hat ihre Obergrenze erreicht, und es gibt kein zusätzliches Gas mehr. Das Öl- und Gasministerium des Landes bestätigt, dass etwa 60 % der Jahresproduktion für den Binnenmarkt bestimmt sind, während der Rest nach Italien exportiert wird. Das europäische Land versucht, die Produktion anzukurbeln: Im Januar unterzeichnete die italienische Eni einen Vertrag über die Erschließung von zwei libyschen Offshore-Gasfeldern mit einer geschätzten Fördermenge von 7,5 Mrd. Kubikmetern pro Jahr, die Produktion wird jedoch erst 2026 aufgenommen.

Nigeria: Fehlende Routen

Nigeria verfügt über die größten Gasreserven Afrikas. Die Treibstoffexporte nehmen seit Jahren stetig zu: 2021 war das Land laut dem Statistical Review of World Energy (2022) von BP der zwölftgrößte Erdgasexporteur der Welt und der sechstgrößte Exporteur von Flüssiggas.

Ein weiteres vielversprechendes Detail ist die Tatsache, dass Nigeria derzeit viel Begleitgas abfackelt, weil es in seinen Ölfeldern an geeigneter Ausrüstung fehlt. Nach Angaben der Global Gas Flaring Reduction Partnership (GGFR) der Weltbank wurden im Jahr 2022 5,3 Mrd. m³ Erdgas abgefackelt, die neuntgrößte Menge weltweit. Daher könnte ein nicht unerheblicher Überschuss ohne neue Erkundungen erzielt werden.

Die Frage der Lieferwege nach Europa ist jedoch nach wie vor entscheidend, da Nigeria keinen direkten Zugang zum Mittelmeer hat. Nigerianisches Gas wird hauptsächlich über die LNG-Terminals der Nigeria LNG Limited (NLNG) an den europäischen Kontinent und den Rest der nicht-afrikanischen Welt geliefert. Die Anlage verfügt über sechs funktionierende Terminals, die voll ausgelastet sind. Das Projekt Nigeria LNG Train 7 ist nach Angaben der Unternehmensleitung das vielversprechendste Entwicklungsprojekt von NLNG. Nach seiner Eröffnung wird das Terminal die derzeitige Kapazität von 22 Millionen Tonnen pro Jahr um 35 % erhöhen. Das Problem besteht darin, dass Train 7 nicht vor 2025 in Betrieb gehen wird. Der Fertigstellungstermin wurde auf 2020 verschoben, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass der Bau beschleunigt werden kann.

Es gibt Alternativen – zwei geplante Pipelines, die nigerianisches Gas in den Norden des Kontinents transportieren könnten. Die lang erwartete Trans-Sahara-Gaspipeline soll Nigeria über Niger mit Algerien verbinden. Die überschaubare Länge von 4.000 Kilometern und die jährliche Kapazität von bis zu 30 Mrd. Kubikmetern Erdgas würden das Projekt auf jedem anderen Kontinent attraktiv machen. Die sozialen und politischen Gegebenheiten in Afrika machen dies aber fast unmöglich. „Ich habe das Gefühl, dass dieses Verpflichtung nur auf dem Papier besteht. Jedes echte Engagement sollte durch Taten unterstützt werden. Bislang sehen wir keine angemessenen Bemühungen seitens der nigerianischen Regierung“, sagte Isaac Botti, ein nigerianischer Spezialist für öffentliche Finanzen aus Abuja in einem Interview mit der Deutschen Welle im Jahr 2022. Er wies auch darauf hin, dass Nigeria und Algerien zwar die wichtigsten Gaslieferanten sein würden, dass aber alles auf den politischen Willen der nigerianischen Regierung ankäme, um das Projekt in Gang zu bringen“. Doch die Idee, die auf die 1970er Jahre zurückgeht, bleibt vor allem deshalb auf das Papier beschränkt, weil die Pipeline durch Regionen mit erheblichen militärischen Aktivitäten verlaufen müsste.

Eine weitere geplante Pipelinetrasse ist die Nigeria- und Marokko-See-Pipeline, die um die nordwestliche Küste Afrikas herum verlaufen soll. Die 2016 angekündigte Idee ist relativ neu. Die Pipeline ist als Erweiterung der bestehenden westafrikanischen Gaspipeline geplant, die Nigeria mit Benin, Togo und Ghana verbindet. Die Nigeria‑Marokko-Pipeline soll nigerianisches Gas über eine Distanz von 6 Millionen Kilometern (fünfmal so lang wie die Nord Stream) unter dem Atlantischen Ozean hindurchleiten und Nigeria mit elf Küstenländern und Marokko und schließlich mit Cádiz in Spanien verbinden. In einer Machbarkeitsstudie aus dem Jahr 2017 wurden die Kosten für das Projekt jedoch auf 25 Mrd. USD geschätzt, und ein Zeitraum von 25 Jahren für die Fertigstellung veranschlagt – bis dahin sollte die EU nahezu kohlenstoffneutral sein, da sie bis 2050 eine vollständige Neutralität anstrebt.

Die größte Sorge sind jedoch die unzureichende Verwaltung und die sozialen Unruhen. Obwohl die Erdöl- und Erdgasreserven des Landes zu den bedeutensten der Welt gehören, liegt der nigerianische Inlandsgasverbrauch weltweit nur an achtunddreißigster Stelle. Die einheimische Öl- und Gasproduktion ist seit 2012 rückläufig, und mehr als ein Drittel der 214,5 Millionen Einwohner lebt von weniger als 2 US-Dollar pro Tag. Unter diesen Umständen gefährden zusätzliche Investitionen in Gasexporte das bestehende fragile Gleichgewicht. „Damit die Afrikaner ein Leben in Würde führen können, das ihnen der Zugang zu Energie ermöglichen sollte, können wir uns nicht auf das gescheiterte System der letzten 200 Jahre verlassen“, sagte Mohamed Adow, Direktor der Denkfabrik Power Shift Africa, gegenüber dem Guardian. „Wir müssen unseren Gedankenhorizont erweitern und in dezentrale erneuerbare Energiesysteme investieren, die unsere Flüsse nicht vergiften, unsere Luft nicht verschmutzen, unsere Lungen nicht verstopfen und nur einigen wenigen nutzen.“ Ausländische und einheimische Experten sind sich einig, dass bei neuen Projekten das Risiko des Energiediebstahls und hoher Kosten besteht.

Ägypten: Neuanfang für den lokalen Markt

Ägypten ist ein verlässlicher Partner der EU in Nordafrika, wobei die Beziehungen allerdings nie auf den Energiesektor ausgerichtet waren. Neue Öl- und Gasfunde in den 2010er Jahren (vor allem auf dem Mittelmeerschelf und im Nildelta) haben die geschätzten Reserven des Landes jedoch in die Höhe getrieben und es zu einem der führenden afrikanischen Energielieferanten gemacht. Seit 2018 liefern die beiden LNG‑Anlagen des Landes in Idku und Damietta immer größere LNG-Mengen an Verbraucher in Europa und anderswo.

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Infolge der Energiekrise in Europa hat Ägypten seine Lieferungen bis 2022 um 14 % erhöht, was 60 % der gesamten Gasexporte des Landes und fast 90 % seiner LNG‑Exporte ausmacht. Dieser große Anteil bedeutete einen Rekord in den Energiebeziehungen zwischen Ägypten und Europa. Die Lieferungen nach Asien gingen im gleichen Zeitraum von 69 % auf 28 % zurück, was die ägyptischen Energiebehörden in Bezug auf die Diversifizierung und das Einhalten ihrer langfristigen Verpflichtungen unter Druck setzt.
Im Februar dieses Jahres erklärte der ägyptische Erdölminister Tarek El-Molla auf der EGYPES-Konferenz in Kairo, dass keine der beiden ägyptischen LNG-Anlagen ihre volle Kapazität erreicht habe und dass beide ihr Liefervolumen noch weiter steigern könnten.

Es bestehen jedoch große Bedenken hinsichtlich einer langfristigen Zusammenarbeit. Die Binnennachfrage des Landes steigt schneller als die Produktion. Der ägyptische Gasverbrauch stieg kontinuierlich von 161 Millionen Kubikmetern pro Tag (mcm/d) in 2017-18 auf 172 mcm/d in 2021-22. Im gleichen Zeitraum lag die verkaufte Gasproduktion bei rund 185 mcm/d. Daher verabschiedete das ägyptische Kabinett im Jahr 2022 einen Plan zur Rationalisierung des Inlandsverbrauchs, um so die Exporte anzukurbeln.

Die Situation führte zu sozialen Unruhen und wirkte sich unweigerlich negativ auf die Einstellung der Ägypter gegenüber den Europäern aus. Wenn man bedenkt, dass das politische Leben des Landes seit dem Arabischen Frühling 2011 zwischen Ordnung und Chaos schwankt, könnte jeder neue Funke ein Feuer entfachen.

Mit all seinen Akteuren und internen Spannungen wird Afrika bei der Suche nach Energie für Europa keine entscheidende Rolle spielen. Nach einer Prognose von Rystad Energy https://www.rystadenergy.com/ wird der Kontinent Ende der 2030er Jahre mit 470 Mrd. m³ seinen Spitzenwert bei der Gasproduktion erreichen, was 75 % der russischen Produktion von 2022 entspricht. Gegenwärtig könnten alle afrikanischen Länder zusammen die Lieferungen um etwa 10 Mrd. m3 erhöhen, was weniger als 2,5 % des Gesamtverbrauchs der EU entspricht. In Anbetracht der starken lokalen Protestbewegungen und der hohen Risiken scheint sich das Spiel nicht zu lohnen.