Der Wirtschaftsriese Deutschland will sich nicht mehr aufs Gas stützen

Die Energiekrise in Europa, die hauptsächlich durch die Notwendigkeit umfassender wirtschaftlicher Sanktionen gegen den Kriegstreiber Russland ausgelöst wurde, weitet sich stetig aus. Dies wird langfristig äußerst negative Folgen haben, und zwar in erster Linie für Deutschland, die größte europäische Volkswirtschaft.

Zwischen Januar und Juli bezahlte Deutschland mit 38,3 Milliarden Euro 164 Prozent mehr für den Gasimport als im selben Zeitraum des Vorjahres, trotz einer Verringerung der Einfuhren um 25,5 Prozent auf 64,9 Milliarden Kubikmeter. Erdgas, einer der wichtigsten Energieträger, ist momentan nicht nur teuer, sondern darüber hinaus auch noch Mangelware. Unter diesen Bedingungen befürchten Experten eine Lähmung des Standorts Deutschland. Deutschland ist nicht in der Lage, das fehlende Gas aus Russland zu ersetzen und wird auf eine starke Drosselung der Nachfrage vertrauen müssen, die auch über Rationierungsmaßnahmen erfolgen soll.

Der Gaspreis wird auf dem Weltmarkt festgelegt und ist im Jahresvergleich um etwa 450 Prozent gestiegen, wobei die Preisfluktuation derzeit hoch ist. Beeinflusst werden die Preise von Marktbedingungen wie Vorratsmengen, Verbrauch etc., aber auch von geopolitischen Faktoren. Die tatsächlichen Kosten für das Gas und seinen Transport werden derzeit durch die herrschende Panik und Unsicherheit im Hinblick auf die zukünftige Versorgungslage überlagert.

In den letzten Monaten haben die Hauptverbraucher Europas, die Unternehmen, aufgrund der gestiegenen Preise 30 Prozent weniger Gas verbraucht als letztes Jahr. Für die Gasvorräte im Hinblick auf die winterliche Heizperiode ist dies eine gute Nachricht, keineswegs jedoch für die europäische Industrie. Man munkelt bereits von einer Deindustrialisierung.

Drosselung der Produktion

Produktionsausfälle werden wohl unvermeidlich sein. Die deutsche Energiebranche, die für 60 Milliarden Euro Wertschöpfung sorgt, wird am schwersten betroffen sein. Anfällig sind auch die energieintensiven Branchen, die bereits umfassende Produktionseinschränkungen vornehmen mussten: in der Metallindustrie beträgt der Rückgang etwa 5 Prozent, in der Chemieindustrie liegt er bei ungefähr 8 Prozent. Die Düngemittelindustrie hat ihre Produktion gar um 70 Prozent zurückgefahren, wobei teilweise auch Standorte geschlossen wurden.

Diese rapiden Veränderungen könnten die Wirtschaftsstruktur Deutschlands für immer verändern. Oliver Falck, Leiter des Ifo-Zentrums für Industrieökonomik, macht eine düstere Vorhersage: „Bleiben die Energiepreise langfristig so hoch wie derzeit, kann das dazu führen, dass sich einige Industrien aus Deutschland verabschieden.“ Laut einer Umfrage des BDI hat jedes zehnte mittelständische Unternehmen die Produktion aufgrund der hohen Energiepreise zurückgefahren oder eingestellt.

Die Chemiebranche, Herzstück der deutschen Industrie, ist besonders gefährdet. Sie hat sehr unter den schnell steigenden Energiepreisen zu leiden.  Die Lieferverträge vieler kleiner Unternehmen laufen bald aus, und für viele Firmen sind die neuen Konditionen unbezahlbar. Die Chemieindustrie konnte in den vergangenen Monaten ihren Gasverbrauch um 15-20 Prozent senken und ist damit so effizient wie nie zuvor. Doch weitere Einsparungen lassen sich nur durch eine Einschränkung der Produktion erzielen.

Ganz besonders schwer betroffen ist beispielsweise die Ammoniakherstellung. Ammoniak ist nicht nur ein Düngemittel, sondern eine Grundsubstanz, die in vielen Bereichen benötigt wird, wie zum Beispiel für die Herstellung von Autolacken und in der Pharmaindustrie. Und ein wichtiger Rohstoff für die Ammoniakproduktion ist ausgerechnet die Mangelware Erdgas.

Unzureichende Hilfe

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Die Bundesregierung hat ein Hilfspaket für die Wirtschaft im Wert von 5 Milliarden Euro geschnürt. Das Maßnahmenpaket hat mehrere Komponenten, darunter ein Kreditprogramm, ein Margining-Absicherungsprogramm und ein Energiekostendämpfungsprogramm.  Energie- und handelsintensive Unternehmen können Subventionen von bis zu 50 Millionen Euro für die Gas- und Stromkosten in Anspruch nehmen. Experten schlagen dennoch Alarm: 5 Milliarden sei viel zu wenig, um die Industrie ohne Verluste durch den bevorstehenden Winter zu bringen. Die Förderung müsse um ein Vielfaches erhöht werden.

Hinzu kommt, dass die bisher von der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft, darunter der Bau bzw. das Leasen mehrerer LNG-Terminals und die Rückkehr zur Kohle- und Ölverstromung, nicht ausreichen, um das russische Erdgas zu ersetzen.  Gerade auch die Rückkehr zum Öl wird sich kaum positiv auswirken, da sie komplex und kostspielig ist.

Anfang September konnte Deutschland einen Monat vor dem ursprünglich anvisierten Datum einen Füllstand der Erdgasspeicher von 85 Prozent bekanntgeben.  Ausschlaggebend hierfür waren die Einsparungen in der Wirtschaft. Alle Modelle sagen jedoch voraus, dass die Speicher zum Ende des Winters hin praktisch leer sein werden. Ein strenger Winter ist in diesen Szenarien der größte Risikofaktor, denn in den Haushalten fällt 85 Prozent des Gasverbrauchs auf den Zeitraum Oktober bis April. Doch die Frage, wie es mit der Industrie weitergehen soll, muss bereits jetzt beantwortet werden – es darf nicht abgewartet werden, wie der Winter tatsächlich wird.

Die jetzige Krise beeinflusst nicht nur die heutige Wirtschaftslage, sondern auch die langfristige Entwicklung der Wirtschaft. Es gibt kaum noch Hoffnung auf eine Wiederaufnahme der Produktion und auf mehr Investitionen. Laut einer Umfrage des BDI vom September halten über 90 Prozent der Unternehmen die Preisanstiege für eine starke oder sogar existenzielle Herausforderung (58 bzw. 34 Prozent). Der BDI fordert von der Politik Maßnahmen zur Verhinderung von Unternehmensinsolvenzen und weiterer sozialökonomischer Erschütterungen.

Selbst wenn Deutschland ohne eine Rationierung von Gas durch den Winter kommt, wird das Land vor dem nächsten Winter wiederum vor ähnlichen Schwierigkeiten und Ausgaben stehen wie jetzt, wenn es um das Auffüllen der Gasspeicher geht, warnen Experten. Es ist keine signifikante Preissenkung in Sicht, und die strukturellen Schäden an der deutschen Wirtschaft beginnen sich jetzt erst langsam abzuzeichnen. -0-