„Die EU wird darauf drängen, dass Erdöl, Kohle und Gas – auch in den arktischen Regionen – im Boden bleiben.“ So heißt es in der neuen Strategie der EU für die arktischen Gebiete, die im Oktober 2021 vorgestellt wurde.
Um dieses Ziel zu erreichen, will Brüssel ein Erschließungsverbot für neue Erdöl-, Kohle- und Gaslagerstätten in der Arktis und den umliegenden Gebieten erreichen. Auch der Verkauf von bereits geförderten Energieträgern aus der Arktis soll verboten werden. Um die Arktis zu schützen, die laut der Strategie unter dem Klimawandel schwer zu leiden hat, sind die EU-Kommission und ihre Partner bereit, die damit einhergehenden vielfältigen juristischen Verpflichtungen auf sich zu nehmen.
Dieser radikal wirkende Vorstoß ist keineswegs neu. Bereits 2017 wollte das Europäische Parlament in einen Bericht zur Arktispolitik der EU ein komplettes Bohrverbot aufnehmen und Brüssel dazu aufrufen, Druck auf seine internationalen Partner auszuüben, um die Erschließung arktischer Lagerstätten zu stoppen. Diese Initiative scheiterte damals jedoch bei der Abstimmung im Plenum.
Die hartnäckigen Versuche der EU, sich zu einem bedeutenden Akteur in der Arktispolitik aufzuschwingen, spiegeln das Streben der EU nach einer größeren Rolle in der Weltpolitik und insbesondere in der arktischen Region wider. Die EU hält sich selbst für einen vollwertigen Akteur in der Arktis und möchte bei der Ausarbeitung der Regeln für die Region eine Vorreiterrolle übernehmen. Hierbei ist zu beachten, dass die EU gar keinen Sitz im Arktisrat hat, der als „Schattenregierung“ der Region gilt und dessen Mitglieder bereits seit 25 Jahren ohne Beteiligung von Außenstehenden an der Lösung der Kernprobleme der Region arbeiten. Die EU hat in diesem Gremium nicht einmal den Status eines Beobachters inne, obwohl dieser von Brüssel bereits 2008 beantragt wurde.
Ausgerechnet Norwegen machte 2017 den Abgeordneten im Europäischen Parlament einen Strich durch die Rechnung bei dem Versuch, Bohrungen in der Arktis zu verbieten. Laut dem EUobserver spielten dabei Verhandlungen norwegischer Parlamentarier mit EU-Beamten in Brüssel eine Rolle, aber auch ein Brief des norwegischen Abgeordneten und Vorsitzenden der parlamentarischen Delegation für die Zusammenarbeit in der Arktis, Eirik Sivertsen. Darin hieß es, der Klimawandel ließe sich nicht mit solchen „symbolischen Maßnahmen“ stoppen wie einem kompletten Öl- und Gasbohrstopp.
Dass gerade das nicht-EU-Mitglied Norwegen damals an vorderster Front gegen das Verbot zu Felde zog, ist nicht verwunderlich. Das Land hat die größte Öl- und Gasindustrie Westeuropas, und ein beeindruckend hoher Anteil seiner Lagerstätten befindet sich in der Arktisregion. Daher war von Anfang an deutlich, was die norwegische Regierung auch jetzt ganz klar verlauten lässt: Oslo wird nicht absehen von seinen Plänen für den Öl- und Gassektor.
Norwegens Ministerpräsident Jonas Gahr Støre erklärte, die Initiative der EU-Kommission habe das Potenzial, der norwegischen Wirtschaft und den Entwicklungsperspektiven der nördlichen Regionen des Landes schweren Schaden zuzufügen. In einem Interview mit der Financial Times führte er weiter aus: „Wenn es nach den kontinentaleuropäischen Resolutionen geht, soll jegliche Tätigkeit nördlich des Polarkreises eingestellt werden, doch für uns funktioniert das so nicht. Oslo hat ganz bestimmte Rechte und Pflichten, sich um unsere Wirtschaftszone und die Tätigkeiten in dieser Region zu kümmern.“
Der Export von Energieträgern ist die Haupteinnahmequelle für die norwegische Staatskasse, doch die arktischen Öl- und Gasvorkommen sind außerdem seit langem auch eine wichtige direkte Einnahmequelle für die Bevölkerung in den nördlichen Regionen des Landes. So unterstützte beispielsweise die Bevölkerung von Hammerfest von Anfang an aktiv den Bau der dortigen LNG-Fabrik, die Gas aus dem Snøhvit-Feld bezieht, vor allem aufgrund der dort geschaffenen Arbeitsplätze und der Gewinne aus der Erschließung des Erdgasfeldes. Nach Fertigstellung der Fabrikgebäude führte die Lokalregierung eine Steuer auf geschäftlich genutzte Immobilien ein, die seither jährlich 155 Millionen Kronen in den Haushalt der Region spült. Dieses Geld fließt wiederum in die Entwicklung der Region.
Es geht jedoch nicht nur um die wirtschaftlichen Einbußen durch einen Bohrstopp in der Arktis. Auch aus politischen Gründen ist die Vorgehensweise der EU für Norwegen inakzeptabel. Es besteht nämlich die Gefahr, dass eine Umsetzung dieses Punktes der EU-Arktisstrategie für Norwegen und andere Drittländer bedeuten könnte, dass sie jegliche Selbstbestimmung verlieren. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Oslo so entschieden darauf besteht, dass allein Norwegen als Arktis-Anrainer über die Erschließung von Lagerstätten auf seinem Kontinentalsockel zu entscheiden hat.
Das unüberlegte Vorgehen Brüssels könnte die EU teuer zu stehen kommen. Die Europäische Kommission gibt in ihrer neuen Arktisstrategie zu, dass die EU nach wie vor Öl und Gas aus den arktischen Gebieten importiert. Bislang deutet nichts darauf hin, dass sich dies in den nächsten Jahrzehnten grundlegend ändern könnte. Die Gaskrise dieses Winters in der EU hat bereits gezeigt, wie gefährlich unüberlegte Entscheidungen sind. Als zweitgrößtes Erdgas-Lieferland spielt Norwegen im europäischen Energiesystem eine wichtige Rolle, und während des Gas-Chaos setzte Brüssel große Hoffnungen in das norwegische Gas. „Wir haben es mit einer großen Energiekrise zu tun. Wenn wir in der Barentssee kein Gas mehr fördern würden, würde die Lage für die Europäer nur noch schlimmer werden“, so der norwegische Abgeordnete Bård Ludvig Thorheim. Laut Thorheim liefert ein einziger Tanker aus Hammerfest 55 000 europäischen Haushalten Energie für ein ganzes Jahr Kochen und Heizen.
Die Bestrebungen, den Rohstoffabbau in der Arktis zu verbieten, könnten noch einen weiteren, unerwarteten Effekt haben. Wie in allen anderen Regionen der Welt gibt es auch in der Arktis gegensätzliche Interessen verschiedener Länder sowie die entsprechenden Spannungen zwischen ihnen. Der Versuch der EU, in der Region die Führungsrolle zu übernehmen, könnte beim Thema Verteidigung der Souveränitätsrechte der Anrainerstaaten, die im hohen Norden Bodenschätze fördern, zu einer Annäherung Norwegens an Russland führen. Die großen Mengen Erdgas, die die beiden Länder an die EU liefern, sind ein weiterer Berührungspunkt.
Man darf auch nicht vergessen, dass Norwegen, das bei der arktischen Zusammenarbeit der nordischen Länder aktiv stabilisierend agiert, an zuverlässigen Beziehungen mit Moskau interessiert ist, um die Stabilität in der Region wahren zu können. Davon zeugt die ziemlich enge Zusammenarbeit Russlands und Norwegens im Rahmen des Arktisrates und beim Euro-Arktischen Barentsrat. Der Botschafter Norwegens in Russland, Rune Resaland, erklärte, die Arktisstrategien der beiden Länder hätten gemeinsame Zielsetzungen. „Dabei handelt es sich um die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Bewohner der Arktis“, so der Botschafter.
Auf diese Weise könnten die ungeschickten Versuche der EU, sich die arktische Region zu eigen zu machen, Norwegen in die Arme Russlands treiben. Umso mehr, als der norwegische Ministerpräsident Gahr Støre bereits erklärt hat, dass Norwegen enger mit Russland zusammenarbeiten müsse und dass sich gerade die Arktis als vielversprechendes Gebiet hierfür anbiete.
Oslo muss sich jedoch nicht nur gegen die Versuche der EU zur Wehr setzen, Norwegen die Förderung seiner arktischen Ressourcen zu verbieten, sondern auch gegen Umweltschützer, die bereits seit zwei Jahrzehnten versuchen, ein Förderverbot für den norwegischen Kontinentalsockel zu erreichen. Bei ihnen fand der Vorstoß Brüssels logischerweise großen Widerhall. „Wir stellen jetzt schon fest, dass die Nachfrage nach norwegischem Öl und Gas langsam nachlässt“, so der Präsident und Gründer der Umweltschutzorganisation Bellona, Frederic Hauge. Darüber hinaus ist seit Juni 2021 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Klage norwegischer Umweltschützer anhängig, die behaupten, die Erteilung von Lizenzen für die Rohstoffförderung auf dem Kontinentalsockel nördlich des Polarkreises, wo bislang keine Förderung stattgefunden hat, sei eine Menschenrechtsverletzung.
Was allerdings die Umweltschützer nicht verstehen oder aber nicht verstehen wollen: Wenn sie erfolgreich Druck auf die norwegische Regierung ausüben und die Rohstoffförderung in der Arktis stark eingeschränkt oder sogar ganz eingestellt wird, so wäre das der Todesstoß für das Pariser Klimaabkommen sowie für die „grünen“ Ziele Norwegens, aber auch die der EU. In der jetzigen Phase der Energiewende Richtung Netto-Null geht es nicht ohne Erdgas. Experten gehen davon aus, dass das Gas sowohl für die Herstellung von Wasserstoff gebraucht wird als auch für die Produktion von Ammoniak und Methanol, die für eine umweltfreundliche Schifffahrt unentbehrlich sind. Allerdings plant Oslo gleichzeitig auch eine Emissionsverringerung, die den Zielen der EU entspricht.
Die Umweltschützer ignorieren außerdem die Absicht Norwegens, den staatlichen Ölfonds für Investitionen in „grüne“ Projekte zu nutzen. Dabei könnte eine Finanzierung von Übergangsmaßnahmen hin zu erneuerbaren Energiequellen durch den Fonds, der über 1,4 Billionen Dollar Kapital verfügt, die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens bedeutend schneller vorantreiben als die Arktis-Initiativen aus Brüssel oder die Klagen der Umweltschützer, die sich von der Europäischen Kommission gestützt fühlen. Im Übrigen scheint momentan kaum jemand an eine Umsetzung der neuen Arktisdoktrin der EU in absehbarer Zukunft zu glauben. Davon zeugt auch die jüngste Lizenzierungsrunde APA 2021, die das große Interesse norwegischer, aber auch europäischer Bohrfirmen an einer weiteren Erkundung des norwegischen Kontinentalsockels zeigt. Im Ergebnis wurden 53 neue Lizenzen erteilt, 28 davon in der Nordsee, 20 im Europäischen Nordmeer und fünf in der Barentssee. Die Lizenzen verteilen sich auf insgesamt 28 Ölfirmen, unter denen sich sowohl große internationale Unternehmen als auch kleine norwegische Explorationsunternehmen befinden.