Kein Grün ohne Blau. Ohne könnte Europa seine Energieziele verfehlen

In diesem Winter haben die steigenden Energiepreise die wirtschaftliche Belastung für europäische Unternehmen und Bürger gleichermaßen verschärft. Da Solar- und Windkraftanlagen zur Deckung des Energiebedarfs nicht ausreichen, kristallisierte sich der Mangel an Energiereserven (wie Erdgas oder andere Brennstoffe) als einer der Hauptfaktoren der steigenden Preise heraus.

Eine wichtige alternative Quelle für grünen Strom könnte Wasserstoff sein. Heute wird er hauptsächlich aus Erdgas gewonnen und daher als blauer Wasserstoff bezeichnet. Die sauberste Art ist grün und wird ohne Treibhausgasemissionen hergestellt. Die EU strebt an, nur die grüne Art zu nutzen, aber die Tatschen deuten darauf hin, dass blauer Wasserstoff für eine lange Übergangszeit die einzige wahre Option ist.

„Wenn blauer Wasserstoff strenge Emissionskriterien erfüllt, könnte er eine wichtige Rolle bei der Steigerung der Wasserstoffmengen spielen“, heißt es in einem 118-seitigen Bericht Geopolitics of the Energy Transformation: The Hydrogen Factor [Die Geopolitik der Energiewende: Der Wasserstoff-Faktor] der Internationalen Agentur für erneuerbare Energien (Irena). „Darüber hinaus könnte blauer Wasserstoff zusätzliche Flexibilität auf dem Wasserstoffmarkt bieten.“ Es wird geschätzt, dass blauer Wasserstoff mindestens bis 2030 billiger sein wird als grüner.

Die Europäische Kommission hält jedoch nachdrücklich an der Idee einer lokalen Herstellung von grünem Wasserstoff fest. „Europa muss sich von fossilen Brennstoffen verabschieden und zu saubereren Energiequellen übergehen“, wurde Frans Timmermans, Vizepräsident für den Europäischen Green Deal, während einer Videokonferenz im vergangenen Dezember zitiert, als sich die Gaspreiskrise bereits abzeichnete.

Fragen zur europäischen Wasserstoffstrategie

Die Europäische Kommission legte 2020 ihre Wasserstoffstrategie (Eine Wasserstoffstrategie für ein klimaneutrales Europa) vor, die darauf abzielt, die Nutzung von Wasserstoff bis 2050 im 27-Länder-Block flächendeckend zu gestalten. Sie legt fest, dass der verwendete Wasserstoff aus erneuerbaren Energiequellen (EE) hergestellt werden muss. Streng genommen ist auch Wasserstoff, der mit Hilfe von Kernenergie erzeugt wird, umweltfreundlich, doch wird diese Art von Wasserstoff in dem Dokument nicht erwähnt.

Der Strategie zufolge soll die Produktion von grünem Wasserstoff bis 2024 auf 1 Million Tonnen pro Jahr und bis 2030 weiter auf 10 Millionen Tonnen pro Jahr steigen. Nach 2030 soll grüner Wasserstoff in einem „systemrelevanten Umfang“ produziert werden. Laut der Studie Hydrogen Roadmap Europe verbraucht die EU jedoch derzeit jährlich etwa 9,7 Millionen Tonnen Wasserstoff (ein Teil davon wird importiert).  Nur ein verschwindend geringer Teil davon (etwa 4-5 %) wird aus erneuerbaren Energien innerhalb oder außerhalb Europas erzeugt.

Was der Strategie jedoch fehlt, sind klare Angaben darüber, woher der Wasserstoff kommen soll. Andere große Energieimporteure, die eine Wasserstoffstrategie verfolgen, wie Japan und Südkorea, legen fest, dass der betreffende Kraftstoff importiert werden muss. Sogar einige Länder innerhalb der EU bekunden ihre Absicht, Wasserstoff zu importieren. In der im Juni 2020 verabschiedeten Nationalen Wasserstoffstrategie Deutschlands heißt es eindeutig, dass das Land Wasserstoff aus Russland importieren wird, während in einem ähnlichen Dokument Frankreichs festgelegt ist, dass es Wasserstoff nicht nur importieren, sondern auch mit Hilfe der Kernkraftwerke des Landes erzeugen werden soll.

Schließlich stellt sich noch die Frage nach den Kosten. Der Preis für die Produktion von blauem Wasserstoff liegt derzeit bei 2 Euro pro Kilogramm, für grünen Wasserstoff sind die Kosten mit 6 Euro pro Kilogramm dreimal so hoch. Die optimistischsten offiziellen Schätzungen gehen davon aus, dass grüner Wasserstoff bis 2030 weniger als 1,8 Euro pro Kilogramm kosten könnte, so EU‑Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die EU-Strategie stützt sich auf diese Schätzungen. Die meisten Experten sind sich aber einig, dass es viel länger dauern wird, die Kosten zu senken. Der Bericht Hydrogen4EU von Deloitte schätzt, dass Europa bis zum Jahr 2050 bis zu 2 Billionen Euro einsparen könnte, wenn es gasbasierten Wasserstoff in seinen Energiemix aufnimmt. Die Schätzung berücksichtigt die Ausgaben für die Aufrüstung der Verkehrsinfrastruktur und der Anlagen, damit diese die CO2-Emissionen auffangen können.

Woher kommt der Wasserstoff?

Außerhalb von den politischen Erklärungen ist klar, dass Europa, auch wenn in Europa hergestellter grüner Wasserstoff das ultimative Ziel bleibt, auf Importe von Wasserstoff oder Kraftstoff zur Herstellung in lokalen Anlagen angewiesen sein wird. Nach Schätzungen von Deloitte wird sich der Gesamtbedarf bis 2050 auf etwa 100 Millionen Tonnen belaufen, was die geschätzten EE-Kapazitäten bei weitem übersteigt.

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Wenn Energieimporte unvermeidlich sind, stellt sich die Frage der Energiesicherheit und -diversifizierung von neuem. Die mit dem Transport großer Mengen reinen Wasserstoffs auf dem Land- oder Seeweg verbundenen Risiken sind wesentlich höher als beim Transport durch Pipelines. Damit bleiben Europa zwei Möglichkeiten: entweder LNG zu importieren und sich mit in Europa produziertem blauem Wasserstoff zu begnügen oder die bestehende Pipeline-Infrastruktur für den Wasserstofftransport zu nutzen. Nach groben Schätzungen von Irena liegen die Kosten für den Transport von Wasserstoff über Pipelines um etwa 30-40 % höher als die Transportkosten von Erdgas. Selbst dann sind Wasserstofflieferungen aus Russland für die EU rentabler als LNG-Importe aus den USA, die derzeit eine erhebliche Rolle in der europäischen Energiebilanz spielen. Wenn weitere Kosten der Wasserstoffproduktion in Europa berücksichtigt werden, könnte der Transport über Pipelines 2-2,5 mal wirtschaftlicher sein.

Auch die Gaspipelines, die die EU mit Norwegen, Russland und anderen Lieferanten verbinden, wurden nicht für reinen Wasserstoff konzipiert. Ihre Aufrüstung kostet jedoch laut Noé van Hulst, Berater für Wasserstoff bei der Internationalen Energieagentur (IEA), „nicht mehr als 20 %“ der gesamten Infrastrukturkosten. Diese Umstrukturierung scheint bei einem Projekt im Wert von 10 Milliarden Euro vernachlässigbar zu sein. Darüber hinaus sind für den Transport eines Gemischs aus Wasserstoff und Erdgas keine Umrüstungen oder Ausgaben erforderlich.

Die Ausgaben werden bei modernen Pipelines geringer sein, während bei älteren Pipelines eine Umrüstung unrentabel oder sogar unmöglich sein kann. So kann die Nord Stream 2-Pipeline laut einer Vorstudie der Nord Stream 2 AG bereits in 10 Jahren einen oder beide ihrer Zweige für den Transport von reinem Wasserstoff nutzen. Das Gemisch aus Erdgas und Wasserstoff kann bei Bedarf umgehend transportiert werden.

Andererseits sind viele Transitpipelines in der Ukraine und in Weißrussland wahrscheinlich nicht für den Transport von Wasserstoff geeignet.

Auch einige europäische Nachbarländer haben ihre eigenen Wasserstoffstrategien. So verabschiedete Russland seine Strategie im Sommer 2021 verabschiedet, die Ukraine im Dezember 2021.

Im Gegensatz zu anderen hat Russland gute Chancen, bald mit der Wasserstoffversorgung zu beginnen.  Laut seiner jüngsten, im Juni 2020 verabschiedeten Energiestrategie soll Russland bis 2024 0,2 Millionen Tonnen und bis 2035 2 Millionen Tonnen Wasserstoff erzeugen. Ein Teil dieser Menge kann als grüner Wasserstoff nach Europa transportiert werden, wenn die EU die Kernenergie (die zu seiner Herstellung verwendet wird) als emissionsfrei anerkennt. Entsprechende Gespräche finden bereits Brüssel statt.

Im Gegensatz zu den auch von vielen EU-Ländern angenommenen Rahmendokumenten hat Russland einen sehr klaren Plan für die Entwicklung der Wasserstoffproduktion und nennt sogar die verantwortlichen Parteien. So soll es beispielsweise bis 2023 eine technologische Lösung für Gasfeldraffinerien geben, um blauen Wasserstoff vor Ort zu produzieren. Die industrielle Produktion von grünem Wasserstoff soll bis 2024 entwickelt werden.

Moskau scheint bereit zu sein, „Wasserstoff-Beziehungen“ mit dem europäischen Cluster aufzubauen.  Gleichzeitig hat Russland aber auch die lukrativen asiatischen Energiemärkte im Auge. Im Frühjahr 2021 behauptete Oleg Aksiutin, stellvertretender Vorstandsvorsitzender von Gazprom, in seiner Kolumne, dass das Unternehmen sich darauf vorbereite, Wasserstoff in der Region Fernost zu produzieren und zu den Verbrauchern in China, Japan und Südkorea zu transportieren.

Nord-Süd-Spaltung

Innerhalb der EU herrscht keine Einigkeit in der Frage der Wasserstoffimporte. Der industriellere Norden ist weit weniger gegen den Import von Wasserstoff eingestellt, während die südlichen Länder, die traditionell weniger Energie verbrauchen, nur lokale Lösungen unterstützen.

Länder wie Deutschland, die Niederlande und Belgien sind bestrebt, die Versorgung auszubauen.  In der im Juni 2020 verabschiedeten Nationalen Wasserstoffstrategie Deutschlands wird die Notwendigkeit von Wasserstoffimporten eindeutig festgehalten.

Andererseits lehnen Frankreich, Ungarn und Polen sowohl Erdgas- als auch Wasserstoffimporte mit dem Argument, dass Europa seine eigenen Kapazitäten entwickeln und auf erneuerbare Energien setzen sollte strikt ab.

Es ist noch nicht klar, wie lange die Debatten noch andauern werden. Sicher ist, dass der industrielle Norden mehr Wasserstoff importieren muss, wenn er den grünen Übergang fortsetzen will. Die EU wird dies letztendlich akzeptieren müssen, und zwar besser früher als später. Es könnte sich als klug erweisen, wenn Brüssel die niedrig hängenden Früchte nicht ablehnt und den Import von blauem Wasserstoff über bestehende Pipelines aus Russland, Norwegen und anderen derzeitigen Erdgaslieferanten in Betracht zieht.