Die Ursachen der Entwicklungsprobleme auf dem europäischen Gasmarkt liegen im Zusammenspiel zweier Faktoren begründet.
Einerseits betrieben die Europäer in den vergangenen 20 Jahren auf Ebene sowohl der nationalstaatlichen Behörden als auch übergeordneter Strukturen intensiv die Einführung von Regulierungsinstrumenten auf dem europäischen Energieträgermarkt. Als Begründung wurde dabei die Gewährleistung von Wettbewerb zwischen den Spitzenunternehmen bei der Förderung der klassischen Kohlenwasserstoffe angeführt. Zeitgleich entstanden dadurch unweigerlich Bedingungen mangelnder Wettbewerbsfähigkeit für „alternative“ und „erneuerbare“ Energiequellen. Das Ergebnis am Ende unseres Jahrzehnts ist ein Markt mit einem hohen Grad an politischer Verwaltung und fehlenden Selbstregulierungsmechanismen auf der Grundlage einer klassischen Marktpreisentwicklung. In Zeiten verhältnismäßiger politischer Stabilität konnte damit noch umgegangen werden, jedoch können dadurch erhebliche Disproportionen entstehen, die sich in krisengezeichneten Entwicklungsperioden noch verschärfen.
Andererseits entstehen dadurch, dass Schlüsselinvestitionen in die Entwicklung der eigenen Energiebasis neben der Entwicklungsförderung „alternativer“ Energiequellen (die nach wie vor vergleichsweise teuer sind) in Technologien zur Energieeinsparung und Energieeffizienz (wo beachtliche Erfolge erzielt wurden: der Energieverbrauch fiel zurück auf das Niveau der frühen 90er Jahre, nämlich 1,6 Mrd. Tonnen Öleinheiten) flossen, ungeachtet der formal positiven Ergebnisse erhebliche Risiken. Die Abhängigkeit von Kohlenwasserstoffexporten steigt bei gleich bleibend hohem Niveau des öffentlichen Energieverbrauchs, doch das Wesentlichste ist, dass Deutschland als Lokomotive der europäischen Wirtschaft und bedeutende Industriestaaten der EU wie die Niederlande, Polen und Großbritannien noch immer ausnahmslos einen hohen Verbrauchsanteil an fossilen Brennstoffen – und im Kern klassischer Kohlenwasserstoffe – ausweisen.
Natürlich hat sich die Struktur des Energiehaushalts der EU gewandelt, jedoch nicht in ausreichendem Maß, um grundlegend neue Verhältnisse zu schaffen. Darüber hinaus ist unter den Bedingungen eines verhältnismäßig langsamen globalen und europäischen Wirtschaftswachstums kaum mit einer nennenswerten Beschleunigung der Restrukturierungsprozesse auf dem Energiemarkt zu rechnen, da hierfür die Investitionsmittel fehlen. Diese könnten aber zu Verfügung stehen, gäbe es keine politische Konfrontation mit Russland oder die Aussicht auf eine Zuspitzung der amerikanisch-chinesischen Handelsstreitigkeiten.
Setzen sich die aktuellen Tendenzen fort, wird die EU Objekt der Energiepolitik der größten Lieferanten bleiben.
Folglich wird zur Hauptbedrohung für die Energiesicherheit in der EU nicht die Abhängigkeit von Russland, die sich im Verhältnis zum Ausbau der Lieferung von russischen Energieträgern auf den chinesischen Markt und insgesamt auf die südostasiatischen Märkte de facto verringern wird, sondern die Möglichkeit einer faktisch neuen Kartellbildung auf dem europäischen Kohlenwasserstoffmarkt, sobald an die Stelle Russlands als zentralem Systembestandteil die USA treten, die unter Anwendung bekannter Technologien und mithilfe politischen Drucks unverblümt alle in Europa geschaffenen Regulierungsmechanismen quasi „auf Null setzen“, indem sie deren Unantastbarkeit formal achten, den Inhalt jedoch aushöhlen.
Europa hat einen Strategiefehler begangen, indem es Energieprojekten mit dem Iran oder der Kaspischen Region zu großen Stellenwert einräumte. Kohlenwasserstofflieferungen aus dem Iran wurden als unmittelbarer Ersatz für die russischen betrachtet, woraus in Europa auch kein Hehl gemacht wurde. Vermutlich begünstigte dieser Umstand in vielerlei Hinsicht die harte Position europäischer Eliten im Verhältnis zu Moskau nach dem Frühjahr 2014.
Die Zahlen, die als angestrebte Exportmenge beispielsweise von Gas aus dem Iran in EU-Länder kursierten, nämlich 38 bis 42 Mrd. Kubikmeter jährlich (bei Zugrundelegung von prognostizierten 75 bis 80 Mrd. Kubikmetern Exportpotenzial des Irans nach Aufhebung der Sanktionen und Modernisierung der Gasinfrastruktur), vermochten das russische Gas nicht vollständig vom europäischen Markt (mit einem Volumen von 170 bis 180 Mrd.; der Rekord von 193 Mrd. Kubikmetern im Jahr 2017 ist als Ausnahme zu betrachten, da er aus „technischen“ Gründen – durch die Reverse-Flow-Lieferungen in die Ukraine – zustande kam) zu verdrängen. Zusammen genommen mit anderen Projekten des sog. südlichen Korridors (einschl. der transkaspischen Projekte sowie der mit Nachdruck für den Zeitraum 2014/15 geplanten Transarabischen Pipeline von Katar über das zerfallene und schwache Syrien zu den türkischen Mittelmeerhäfen) wäre dadurch nicht nur ein starker Druckhebel für die russischen Kohlenwasserstofflieferanten entstanden. Es hätte den gesamteuropäischen Strukturen zu einer dominierenden Rolle im Restrukturierungsprozess des europäischen Gasmarktes verholfen.
Anscheinend hat man in Brüssel (in vielerlei Hinsicht anders als in den arabischen Ländern oder sogar Moskau) die Tragweite und strategische Bedeutung der „Schieferrevolution“ richtig eingeschätzt und schlussfolgerte daraus die Unausweichlichkeit einer neuen Kartellbildung auf dem europäischen Gasmarkt, wodurch der Erhalt des mittels der „Energiepakete“ geschaffenen Monopols über die Marktregulierung schwer aufrecht zu erhalten sein wird. Wesentlich zielführender war hier der Weg präventiver Eingriffe in die Marktstruktur und der Anpassung künftiger „Spielregeln“ an eine neue Struktur. Die einzige Möglichkeit, rasch eine neue Marktsituation herbeizuführen, war die Einspeisung großer Mengen iranischer Kohlenwasserstoffe (unabhängig von deren Qualität und sogar vom Grundpreis) oder ein für politische Eliten und Fachkreise überzeugender „Erwartungseffekt“ hinsichtlich ihres Eintreffens auf dem Markt.
Unter den aktuellen Bedingungen einer kontrollierten Verschärfung der Lage um den Iran, resultierend sowohl aus dem Vorgehen der USA als auch den iranisch-saudischen Kontroversen, die zunehmen werden, wird die Abhängigkeit der EU von stark risikobehafteten Kohlenwasserstofflieferungen fortdauern. Sollte es selbst auf der Stelle gelingen, ein Auswachsen der politischen Spannungen zwischen Amerika und dem Iran zu einer direkten militärischen Auseinandersetzung zu verhindern, müsste jede Planung bezüglich des Umsatzes iranischer Kohlenwasserstoffe mit einem höheren Niveau der Risikodiskontierung betrachtet erfolgen. Dies gilt besonders, zieht man die Möglichkeit einer wirkungsvollen und zielführenden einseitigen Verhängung zumindest finanzieller Sanktionen gegen den Iran durch die USA ohne gravierende Gründe und Absprache mit ihren europäischen Partnern in Betracht.
Das Ergebnis dieses Zusammenspiels von Ereignissen ist völlig klar: Die Möglichkeit einer erneuten Kartellbildung auf dem europäischen Markt für Energieträger und der gesamten Energiewirtschaft unter Beteiligung amerikanischer Unternehmen, die in diesem Prozess den Ton angeben und, gestützt auf ihre politischen Handlungsoptionen, die grundlegenden Spielregeln diktieren werden. Das amerikanische Interesse leuchtet vollends ein: Es soll ein Umfeld generell überhöhter Preise für Energieträger auf dem europäischen Markt herbeigeführt werden, wofür unter Anderem Instrumente zur Manipulation und für einen zweigleisigen wirtschaftlichen Wettbewerb zum Einsatz kommen sollen.
Die derzeit sprunghaft ansteigenden Ölpreise ohne sachliche ökonomische Grundlage sind im Wesentlichen auf Manipulationen zurückzuführen und Ausdruck aktueller Wirtschaftsinteressen der amerikanischen Schiefergaslobby. Dies zeigt jedoch, über welch wirkungsvolle Instrumente zur Steuerung des Kohlenwasserstoffmarktes in einem Schwankungskorridor von plus/minus 15 Dollar pro Barrel Erdöl die USA verfügen, was in Zeiten eines ansteigenden Kohlenwasserstoffverbrauchs vor dem Hintergrund einer zu erwartenden Überwindung der wirtschaftlichen Depression in Europa eine gewichtige Rolle spielen kann.
Ziel der amerikanischen Schiefergaslobby, deren Interessen von der Trump-Administration flankiert werden, ist die Schaffung eines langfristigen Mechanismus zur Eintreibung einer Energierendite von den europäischen Verbrauchern. Das neue europäische Kartell, an dem die USA einen Anteil von 35 bis 45 Mrd. Kubikmetern (was seltsamerweise genau dem von europäischen Politikern und Bürokraten „kalkulierten“ Anteil des Irans am EU-Markt entspricht) haben werden, kommt ihnen da genau zupass, insbesondere wenn es zusätzlich mit politisch motivierten Beschränkungen für eine Reihe von Lieferanten (vor allem dem Iran und Russland sowie möglicherweise dem Irak, der zum Verbündeten des Iraks erklärt werden könnte, und Aserbaidschan als „undemokratischem“ Regime) ausgestattet wird, wodurch sich die Präsenz der USA auf dem Spotmarkt während „klimatischer“ Verbrauchsspitzen erhöht. Zudem wird der „Schlüssel“ zum System politischer Manipulation und zum Sanktionssystem damit immer in US-amerikanischer Hand sein.
Europa kann nicht mehr ständig zu den USA hinüber blicken. Jeder Versuch, mit dem transatlantischen Partner große Energieprojekte zu vereinbaren, bei denen die Amerikaner eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielen sollen, ist zum Scheitern verurteilt. Zumindest ab und zu würde hier ein Blick in die Vergangenheit lohnen: Amerika versuchte bereits früher, sich großen europäischen Energieprojekten, die in erster Linie eine stabile Abnahme volatiler Kohlenwasserstoffe aus Russland zum Ziel hatten, in den Weg zu stellen. So verhängte bereits im Jahr 1981 die US-Administration unter Ronald Reagan Sanktionen gegen amerikanische und europäische Unternehmen, die am Bau von Gaspipelines nach Frankreich oder Westdeutschland beteiligt waren. Dadurch kam es zu einer deutlichen Abkühlung der Beziehungen zu Europa. Als klar war, dass sich die Europäer demzufolge nicht beirren lassen würden, zogen sich die Amerikaner einfach zurück.
Die europäischen Energie- und Industrieunternehmen wie auch die gesamteuropäischen Strukturen sehen sich heute mit der Tatsache konfrontiert, dass sich das bisherige Modell der Kartellbildung auf dem europäischen Markt überlebt hat und folglich mit Nachdruck ein neues entwickelt werden muss. Dabei gilt es selbstverständlich die Versorgungsstabilität und ein günstiges Lieferpreisgefüge zu wahren, um Wirtschaftswachstum zu gewährleisten und somit – zumindest kurzfristig – politisch motivierte Entscheidungen zur Verringerung der russischen Präsenz auf dem russischen Kohlenwasserstoffmarkt abzufedern. Mittelfristig könnte es zielführend sein, den Weg der Schaffung eines breiteren gemeinsamen Systems für Industrieinvestitionen, das vergleichsweise unabhängig von den USA funktioniert und Sanktionsdruck sowie Handelskriegen widersteht, zu beschreiten. Dazu müssten allerdings die europäischen Gasabnehmer und Regulierungsbehörden von nun an mit den russischen Lieferanten als Wirtschaftssubjekte zusammenwirken und sie nicht als verlängerten Arm der russischen Regierung, mit dem bestimmte „politische Pakete“ vereinbart werden können, begreifen.