Russische Ölindustrie: Jenseits von Sanktionen

Die russische Öl- und Gasindustrie hat von Anfang an das Ausmaß der Krise auf den Kohlenwasserstoffmärkten falsch eingeschätzt. Wahrscheinlich wurde die Lage als eine gewöhnliche, durch Überproduktion hervorgerufene Krise und insgesamt nützlicher Systembestandteil, wahrgenommen, der die für Investoren und die Erdölunternehmen selbst so abschreckende „Papierölblase“ hätte zum Platzen bringen können. Doch Russland nahm sowohl seitens der Regierung als auch der Erdölbranche die Herausforderung andauernd niedriger Ölpreise an und konnte über einen lang anhaltenden Zeitraum eine relativ hohe Rentabilität bei der Rohölgewinnung gewährleisten. Dabei verhinderte es nicht nur eine Finanzkrise innerhalb der Branche (hier spielten staatliche Maßnahmen eine entscheidende Rolle), sondern sogar einen kritischen Rückgang der Valutaeinnahmen, was besonders um den Jahreswechsel 2014-15 zum Tragen kam, als Russland eine Spitze bei den Zahlungen auf Auslandsanleihen durchschritt.

Insgesamt bewies die russische Ölbranche unter den Bedingungen der vergangenen drei Jahre ihr verhältnismäßig hohes Maß an Standfestigkeit und struktureller Effektivität sowie eine relativ hohe Qualität des Branchenmanagements.

Kennzeichnend für die gute Verfassung der Russischen Öl- und Gaswirtschaft ist das absolute und spezifische Wachstum des Nettoexports von Erdöl, das unter den Bedingungen eines äußerst schwierigen Preiswettbewerbs erzielt wurde. Der Anstieg der Erdölförderung belief sich auf fast 15 Mio. Tonnen pro Jahr (von 534 Mio. Tonnen im Jahr 2015 auf 549 Mio. Tonnen im Jahr 2016). Ungeachtet des Rückgangs der absoluten Mengen bei der Rohölverarbeitung und des Verarbeitungsanteils am geförderten Rohöl erhöhte sich die Verarbeitungstiefe des Rohöls spürbar von 74,4 auf 79,1 Prozent und insgesamt um 7,5 Prozentpunkte seit dem Jahr 2013. Den größten Schub gab es im vergangenen Jahr, als die Sanktionen bereits eine negative Wirkung entfalten sollten.

Rückblickend zeigt die Branchenentwicklung, dass der von der russischen Regierung eingeschlagene Weg der steuerlichen Anpassungen richtig war und ein Marktumfeld begünstigte, in dem die Notwendigkeit direkter administrativer Eingriffe minimiert werden konnte. Wenden wir uns aber einigen wichtigen Aspekten bei der Entwicklung der russischen Öl- und Gasbranche bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu:

  • Eine Verzögerung bei der Umsetzung von Schlüsselprojekten zur strukturellen Veränderung der russischen Öl- und Gasbranche ist nicht zu verzeichnen. Der Bau strategisch wichtiger Objekte wie dem Gasverarbeitungswerk Amur und der Anlage SapSibNeftechim in Tobolsk geht weiter. Probleme bei der Realisierung solcher Projekte sind lediglich auf technologische und organisatorische Ursachen und nicht auf eine Entwicklungskrise der Öl- und Gasbranche zurückzuführen.
  • Unverändert hoch ist das Niveau der Investitionen in die russische Öl- und Gasbranche. Zwar ist die Branche durch mangelnde Investitionsressourcen gekennzeichnet, doch trotz aller Aufwendungen werden PPP-Programme erfolgreich umgesetzt. Nach diesem Muster wird auch der Bau der Anlage in Tobolsk, deren Eigner die Korporation Sibur ist, verwirklicht (Projektkosten: 9 Mrd. Dollar).
  • Hauptvektor der Entwicklung im russischen Öl- und Gassektor bleibt die Steigerung der Verarbeitungstiefe. Bis 2020 ist eine Erhöhung der Verarbeitungstiefe auf 85 Prozent geplant, was für die russische Erdölbranche eine echte Revolution darstellt. Das mittelfristige Programm zur technologischen Modernisierung sieht die Inbetriebnahme von 120 neuen Raffinerieanlagen vor, wobei der größte Anteil dieses Vorhabens bis 2020 umgesetzt werden soll.

Bei Betrachtung der Entwicklungsaussichten für die russische Öl- und Gaswirtschaft gilt es eine Reihe wichtiger Aspekte einzubeziehen:

Erstens: Russland ging klar als Sieger aus dem Preiskampf verschiedener Ölproduzenten hervor, indem es weder Staatsinsolvenzen noch eine erhebliche Verringerung der Goldreserven zuließ, ganz im Gegensatz zur Mehrheit aller anderen Ölexporteure und sogar der USA, wo die Schieferölgewinnung nur dank politischer Entscheidungen zur Verlängerung der Rentabilitätsabsicherung für Schlüsselproduzenten tragfähig bleibt. Jüngste Erklärungen offizieller Vertreter Russlands, die Wirkung der Erdöl-Förderdrosselung sei hinter den Erwartungen zurück geblieben, lassen den Schluss zu, dass Moskau insgesamt zu einer neuen Konfrontations- und Dumpingrunde im Kampf um Marktpositionen bereit ist.

Zweitens: Die Verzögerungen bei der geologischen Erschließung und Ausbeutung von Erdöllagerstätten in Russland (das „Erbe“ der sowjetischen Öl- und Gaswirtschaft ist vollends aufgebraucht) hatte bislang keine schwerwiegenden Folgen. Sie werden erst nach 2020-22 spürbar, wenn die Möglichkeiten zur Ausfuhr von Kohlenwasserstoffen tatsächlich weniger werden dürften. Betrachtet man dabei jedoch die diffizile Dynamik auf dem globalen Rohölmarkt, so wird ein „natürlicher“ Rückgang der Erdölexporte Russlands möglicherweise keinen so schlimmen Ausgang haben, sondern eine sanfte Anpassung an die neue Struktur und Größe des Marktes ermöglichen.

Drittens: Natürlich wird Russland im Hinblick auf die Geschwindigkeit des Wirtschaftswachstums auch künftig von den Rohölpreisen abhängen, aus gesellschaftlicher Sicht hat sich diese Abhängigkeit aber merklich verringert. Es fand eine rigorose, aber wirkungsvolle Umstrukturierung der Binnennachfrage sowohl beim öffentlichen als auch beim privaten Verbrauch statt. Als Druckmittel gegen Russland wird der Ölpreis in Zukunft nie mehr funktionieren. Damit verlieren Manipulationen des Ölpreises und verschiedenste Sanktionen gegen die Öl- und Gasbranche die sakrale Tragweite, die dieser Aspekt über einen langen Zeitraum hatte. Immerhin gehörte die Möglichkeit von Ölpreiseinstürzen zu den wichtigsten Druckhebeln gegen Moskau im Verlauf sowohl politischer als auch wirtschaftlicher Verhandlungen mit dem Westen.

Viertens: Ein Bereich der russischen Öl- und Gasindustrie, in dem es in Folge der Sanktionen tatsächlich zu Schwierigkeiten kam, ist generell die Expansion russischer Erdölunternehmen in andere Länder und Regionen, ist die Globalisierung der russischen Erdölbranche. Im vergangenen Jahrzehnt gewann dieser Prozess an Fahrt, setzt sich aber heute nur auf deutlich geringerem Niveau fort. Hiervon hebt sich lediglich das Engagement der Firma LUKOIL im Irak (Ölfeld West Qurna) ab. Das wirkt sich selbstverständlich negativ auf die globale Stellung der russischen Unternehmen aus, hat allerdings aus Sicht der russischen Regierung auch sein Gutes, indem es die Erdölunternehmen regulierbarer und kontrollierbarer macht und sie dazu zwingt, sich auf Projekte innerhalb Russlands zu konzentrieren. Hauptverlierer dieser Entwicklung sind nun ausländische und vor allem westliche Investoren.

Nach derzeitigem Stand ist von grundlegendem Gewicht für die russische Ölwirtschaft weniger die Frage der Sanktionen und Lieferungen von Spezialausrüstung für konkrete Projekte (z. B. schwer gewinnbares Erdöl oder Erdöl in der arktischen Zone) als vielmehr die eines Gewährleistung effektiven und ausgeglichenen innerrussischen Investitionsprozesses bei Sicherstellung eines nachhaltigen Finanzsystems. Und in diesem Sinne sind sie dazu verdammt, mit dem Staat in der Rolle des Seniorpartners in den unterschiedlichsten Bereichen zusammenzuwirken. In jüngster Zeit unternehmen sowohl der russische Staat als auch unternehmerische Strukturen verstärkte Anstrengungen zur Diversifizierung der Exportströme von Kohlenwasserstoffen auf Kosten eines Umschwenkens gen Osten. Ungeachtet der anfänglichen Skepsis seitens der Europäer belegen die reziproken Tätigkeiten Chinas in Bezug auf Russland, dass dieses Land eine historische Chance und die Zeit der Sanktionen zur Stärkung und Festigung seiner Präsenz im russischen Brennstoff- und Energiesektor nutzen will. China sieht Russland inzwischen ernsthaft als strategischen Partner im Energiesektor und möchte sich damit langfristig lukrative Bedingungen für den Zugang zu den Ressourcen in Russland sichern, was de facto zu Lasten der europäischen Energiesicherheit geht. Die Heizperiode 2017-18 hat im Ergebnis deutlich gemacht, dass die zentralasiatischen Lieferanten nicht in der Lage waren, stabile Lieferungen nach China zu gewährleisten. Im Januar dieses Jahres musste der Staatskonzern Turkmengas drei Mal seinen Gasexport nach China unterbrechen. Eine Verringerung der Lieferungen nach China war im genannten Zeitraum auch im Fall Kasachstans zu beobachten. All das zwingt die Chinesen, über Liefermöglichkeiten von Gas aus Russland nachzudenken. Es genügt der Hinweis, dass die Kapazität des Gasverarbeitungswerks Amur die Gasmengen, die Russland in die Ukraine vor Beginn der Krise in den bilateralen Beziehungen exportierte, fast um das Anderthalbfache übersteigt.

Russland nutzt den „vorübergehenden Stillstand“ im Entwicklungsplan der Förderung aktiv für den Ausbau der Infrastruktur und die Steigerung der Verarbeitungstiefe, da der Versuch der Erschließung neuer Förderhorizonte für Kohlenwasserstoffe zwischen 2012 und 2014 vor allem in der Arktis aus Sicht der Infrastruktur nicht überzeugend war. Die Verwirklichung des Projekts „Jamal SPG“ hebt die Umsetzung von Projekten im Öl- und Gassektor auf eine neue Stufe. Nicht unerwähnt bleiben sollten große Projekte wie „Tor zur Arktis“ (in Mys Kamenny, Umschlagskapazität 8,5 Mio. Tonnen Rohöl jährlich, was 5 Prozent der gesamten gegenwärtigen Erdölförderung Russlands entspricht) sowie die Modernisierung der Häfen von Archangelsk und Dickson, die ebenfalls aus diesen Überlegungen umgesetzt werden.

In Russland wird die Entwicklung der Lage realistisch eingeschätzt und Probleme durch Regulierung sowohl durch den Markt als auch mit administrativen Mitteln betrachtet. Beachtung findet beispielsweise die Expertendiskussion mit Fragestellungen aus dem Energieministerium, die die Konsolidierung der Rohölverarbeitung und Senkung der Planziele für die Volumina raffinierten Öls umfassen. Nach wie vor erheblich ist das Problem der vergleichsweise niedrigen Energieeffizienz. Ebenfalls zu erwähnen ist das Interesse an erneuerbaren Energiequellen. Darin zeigt sich, dass e auf allen involvierten Ebenen ein Verständnis dafür vorhanden ist, dass der globale Kohlenwasserstoffmarkt instabil ist und die Branche insbesondere im Bereich der Qualität besser aufgestellt werden muss. Bezeichnend ist des Weiteren, dass grundlegenden Modernisierungsprogramme als Planungshorizont das Jahr 2020 haben – genau den Zeitpunkt, zudem laut Prognosen erste Anzeichen einer Krise bei der Rohölgewinnung zu erwarten sind und die russische Öl- und Gaswirtschaft eine neue Qualität erreicht haben soll.