Die Energiesicherheit Europas unter der Gaskohle

Das Thema der europäischen Energiesicherheit ist ein ewiger Streitpunkt sowohl in den Beziehungen der EU und Russlands als auch unter den europäischen Eliten. Wir sollten wohl endgültig unseren Frieden machen mit dem manipulativen Charakter der Diskussion über die sichere Energieversorgung Europas, die weit entfernt von der wirtschaftlichen Realität geführt wird. Unter diesem Gesichtspunkt sollten wir den Boden der ökonomischen Tatsachen, der komplizierter ist als ein durch die Propaganda gezeichnetes Bild ist, nicht verlassen.

Bedeutsam war die Festlegung von Rahmengrenzwerten für das prioritäre Ziel einer Verringerung des Gasverbrauchs zugunsten der Nutzbarmachung alternativer Energiequellen ohne Beeinträchtigung der Konkurrenzfähigkeit im Jahr 2016/17. Die Fortsetzung der Politik der Gassubstitution, die in den Jahren 2010 bis 2015 ihren Höhepunkt auf Grund der wirtschaftlichen Stagnation in der EU und situativer Faktoren (wie warmen Wintern) erreichte, dürfte nun um einiges schwieriger werden. Europa ist konfrontiert mit der Notwendigkeit der Gestaltung eines Energiehaushalts, der die globale Konkurrenzfähigkeit der EU als entwickelte Industrieregion und einem der wichtigsten Schwerpunkte der Weltwirtschaft für die Zeit nach 2030 gewährleistet.

Der Handlungsspielraum der EU befindet sich allerdings auf einer schwierigeren Ebene. Es geht um eine Entscheidung zwischen den politisch unbequemen Beziehungen mit Russland, von denen die Erdgaslieferungen nicht unberührt bleiben, und dem Beschreiten von unbekanntem Gelände mit schwer kontrollierbaren neuen Risiken, denen in der Regel keine wirtschaftliche Ursache zugrunde liegt und die zur Beeinflussung der Konkurrenzfähigkeit Europas im Verlauf eines globalen wirtschaftlichen Wettrennens genutzt werden.

Für eine Einschätzung des allgemeinen Zustands der Energiesicherheit Europas gilt es, das Augenmerk auf einige wesentliche Faktoren zu lenken:

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Unklarheit in Bezug auf die Entwicklungsperspektiven der US-amerikanischen Öl- und Gasbranche.Nicht von der Hand zu weisen sind die Risiken infolge von Manipulationen bei möglichen Schiefergaslieferungen aus den USA, unter anderem auf Grund möglicher gravierender innenpolitischer Veränderungen nach 2020-22. Diese Risiken rangieren in ihrer Tragweite auf dem Niveau des noch radikaleren politisierten Umgangs mit Risiken im Zusammenhang mit der andauernden Praxis des vorherrschenden Bezugs von Erdgas aus Russland.

Wenn mit Russland sogar nur irgendwelche persönlichen Widersprüche hinsichtlich einzelner Aspekte der „Gasabkommen“ im Rahmen normaler Wirtschaftsarbitrageverfahren beigelegt werden können, so sind Meinungsverschiedenheiten mit den USA grundsätzlich kaum auf diesem Weg und außerhalb eines politischen Kontextes ausgeräumt werden.

Die USA haben bislang die strukturelle Erneuerung ihres Öl- und Gassektors noch nicht abgeschlossen und hätten gern eine Deckung ihrer Ausgaben für die Entwicklung und Modernisierung auf Kosten der Europäer, indem die Umstrukturierung als konkrete Aufgabenstellung zur Vereinnahmung eines bedeutenden Segments des europäischen Gasmarktes umgesetzt wird. Schlüsselfaktor bei der Entscheidungsfindung für ein Modell der Energiesicherheit Europas ist die in den kommenden ein bis anderthalb Jahren zu erwartende sog. „dritte Schieferwelle“, die sehr radikale Szenarien möglich macht und zu einer ernst zu nehmenden Destabilisierung der Marktsituation führen kann. Bislang gibt es keine Anhaltspunkte, von einer möglichen Erwägung tatsächlich weitreichender Kartellbildugsszenarien auf dem Markt seitens der USA zu sprechen.

Risiken durch „neuen Transit“

Für die Entwicklung „alternativer Lieferwege“ ist zumindest in der ersten Etappe die Bildung einer neuen Gruppe von Gastransitländern vorgesehen. Eine Reihe von Staaten am Rande der EU könnte ein Gewicht bekommen, das ihrem wirtschaftlichen und politischen Potenzial nicht angemessen ist. Die Rede ist hier vor allen Dingen von Polen, Spanien und einigen anderen Ländern. Es ist eine weitere Stärkung der Position der Türkei im Verhandlungsprozess mit der EU zu beobachten, und zwar bei Weitem nicht nur in Gasfragen. Auf Seiten der neuen Transitstaaten sind unangemessene finanzielle und wirtschaftliche Forderungen, die vor allem auf den industriellen Kern der EU – in erster Linie Deutschland – abzielen, keineswegs auszuschließen.

Der „neue Transit“ ließe sich vermeiden, doch dafür sind ein Zeitraum von fünf bis sieben Jahren und vor allen Dingen erhebliche finanzielle Mittel nicht nur für den Ausbau bereits bestehender, sondern auch für den Bau neuer Flüssiggasterminals notwendig. Und auch wenn es gelingt, zusätzliche Abnahmekapazitäten für Flüssiggas bereitzustellen und ein für die Abnahme US-amerikanischen Flüssiggases kompatibles Netzwerk zu schaffen, bleibt als Problembereich nicht die Logistik, sondern die Wirtschaft. Die großen Industriekonzerne der Europäischen Union setzen heute auf die Verringerung der Produktionskosten, und durch einen Umstieg auf Flüssiggas, noch dazu mit Lieferwegen aus Übersee, ist nicht einmal mit algerischem Erdgas Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, von den russischen Gaslieferanten ganz zu schweigen. Vergleichszahlen liegen bereits vor: So lagen im Frühjahr 2018 die durchschnittlichen Kosten von Erdgas aus dem litauischen Flüssiggasterminal „Independence“ für Endverbraucher zwischen 550 und 580 US-Dollar für 1000 Kubikmeter bei 350 bis 370 US-Dollar für russischen Pipelinerohstoff. Es ist offensichtlich, dass der Bezug von Erdgas vom litauischen Terminal „Independence“ die Unternehmer vor Ort erheblich teurer zu stehen kommt, als wenn sie den Rohstoff aus einer Pipeline des unmittelbaren östlichen Nachbarn beziehen würden. Das zwingt die Eigentümer des Terminals in Litauen die Preise für ihr Erzeugnis zu erhöhen und Personalkürzungen vorzunehmen.

Auf diese Weise lässt sich der Effekt des „neue Transits“, so sehr sich die Europäische Kommission das wünschen mag, nicht beseitigen.

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Zu große Anzahl an Möglichkeiten für Gastransportrouten.Die Europäische Union ist nicht einmal in der Planungs- und noch weniger in der Organisationsphase in der Lage, die hohe Zahl an Möglichkeiten neuer Gastransportkorridore, die ins Spiel gebracht wurden, zu bearbeiten. Dadurch werden erhebliche organisatorische Ressourcen blockiert und schwierige Beziehungen mit potenziellen Gaslieferanten geschaffen.

Erster Kandidat für den endgültigen Übergang ist das Projekt des Südlichen Gastransportkorridors, wobei es sich im Grunde um eine Verbesserung von „Nabucco“ handelt, dessen Hauptbestandteil die Verknüpfung mit einem aserbaidschanischen Projekt war, wodurch sich in Wirklichkeit nur die Risiken und Schwierigkeiten des Projekts erhöhen. Abgesehen von der Notwendigkeit großer Anfangsinvestitionen (zwischen 25 und 30 Mrd. Dollar) steht noch die Frage im Raum, womit die Pipeline befüllt werden soll. Dafür muss mindestens der Konflikt mit Turkmenistan und dem Iran überwunden werden und günstigstenfalls eine Harmonisierung der Beziehungen zwischen Baku und Teheran erreicht werden. Dazu müsste Baku dazu gezwungen werden, seine Anteile am europäischen Gasmarkt mit Teheran zu teilen und parallel dazu der Iran davon überzeugt werden, einen Teil seiner noch vorhandenen Marktanteile künftig zugunsten Bakus abzugeben, um dessen Interesse zu erhalten. Die Aussichten für den Bau der Transkaspischen Gaspipeline für eine Einspeisung turkmenischen Gases in den südlichen Gaskorridor sind ohne gegenwärtig allenfalls als finanzielles Wunschdenken zu qualifizieren. Die Konzeption des südlichen Gaskorridors ist zu kompliziert für eine Preisbildung auf derzeitigem Niveau.

Bei Berücksichtigung der Kündigung des iranischen Nuklear-Deals durch Donald Trump darf die EU mittelfristig keinen Durchbruch in der Frage der Organisation von Lieferungen über den südlichen Gaskorridor erwarten. Das betrifft sowohl das iranische als auch das turkmenische Gas, das über iranisches Gebiet transportiert werden soll. Die europäische Wirtschaft kann diese Tatsache nicht ignorieren und wird gezwungen sein, die von Washington verursachten Einschränkungen für die Zusammenarbeit mit Teheran mit einzukalkulieren. Der Iran wird seinerseits unter den aktuellen Bedingungen kaum grünes Licht für den Bau der Transkaspischen Pipeline geben.

Es ist klar, dass durch die fortgesetzte Diskussion einer großen Zahl an Transportmöglichkeiten von Gas nach Europa Druck auf Schlüssellieferanten, allen voran Russland, ausgeübt werden soll. Diese Taktik ist gegenwärtig aber kontraproduktiv. Die EU wird sich früher oder später von einigen Vorhaben trennen müssen. Daraus resultiert eine strategische Unbestimmtheit, durch die der europäische Markt, der bereits seine frühere absolute Priorität verloren hat, an Attraktivität einbüßt.

Die unklaren Perspektiven für den südlichen Korridor und das Unterliegen der EU im Iran bedingen ihrerseits eine Stärkung des chinesischen Einflusses auf die turkmenische Gaswirtschaft.

Wesentlichster Punkt ist aber die politisch motivierte und künstlich aufrecht erhaltene Diversifizierung von Logistikprojekten, wodurch richtige Investitionsentscheidungen erschwert werden und eine verzerrte Vorstellung von der tatsächlichen Investitionslandschaft im Gassektor entsteht.

Nichtkontrollierbarkeit politischer und militärischer Risiken für die Lieferung von „alternativem Gas“.Betrachten wir einmal den Verlauf „alternativer“ Gastransportstrecken auf dem Gebiet von Ländern mit einem hohen Niveau von militärischen und politischen Risiken, die sich überdies größtenteils der Kontrolle durch die EU-Staaten entziehen.

Auch wenn die Gründung einer gesamteuropäischen Armee erfolgreich sein sollte, bleibt die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass die EU in den kommenden 10 bis 12 Jahren, des zum Aufbau eines neuen Energieversorgungssystems kritischen Zeitraums, das Potenzial zur Gewährleistung von Sicherheit in den relevantesten Gasförderregionen erlangen wird.

Eine Ausnahme bildet hierbei die Situation im Mittelmeerraum, doch auch hier wird die EU unweigerlich mit ernsten Herausforderungen im Bereich der Sicherheit von Lieferungen – auch nicht traditioneller – konfrontiert werden. Versuche, diese Risiken durch politische (Erkaufen von Loyalität) und militärischer (Schaffung spezieller Instrumente zur Gewährleistung der Sicherheit) Mittel abzufedern werden die Kosten in die Höhe treiben, was auf die europäischen Gasverbraucher umgelegt wird.

All diese Umstände sind konstante Größen von grundlegendem Gewicht, und in ihrem Rahmen wird sich die Versorgungssicherheit im europäischen Energiesektor entwickeln, wodurch vergleichsweise schwierige Rahmen für die Problementwicklung entstehen. Die Hauptaufgabe der europäischen Politiker und Bürokraten besteht hierbei nun darin, den Umfang von Kosten und Risiken, zumal für das eigene Geld, nicht zu vergrößern.

Legt man diese Rahmenbedingungen zugrunde, so bekommt das Projekt Nord Stream 2 einen völlig neuen Klang. Freilich erfolgt die Umsetzung für die EU in einem Rahmen unbequemer Stereotype („Abhängigkeit von russischem Gas“), entzieht sich aber voll und ganz den bereist beschriebenen neuen Herausforderungen für die Energiesicherheit, vor allem bei der Notwendigkeit zusätzlicher nicht erstattbarer Investitionen und dem manuellen Aufbau eines neuen Transportsystems.

Aus wirtschaftlicher Sicht gilt es für das Problem von Entwicklungsalternativen für den EU-Gasmarkt auch unter Berücksichtigung eines Übergangs zum Spothandel und rückläufiger absoluter Volumina zwei Dinge festzustellen:

Aus der Sicht wirtschaftlicher Zuverlässigkeit und einem niedrigen Niveau operativer Risikenverfügt Europa lediglich über zwei zuverlässige Gaslieferanten: Russland und Aserbaidschan. Nur diese Länder können Gaslieferungen nach Europa nach vollständig transparenten operativen und finanziellen Verfahren und unter Anwendung der bekannten Instrumente zur Minimierung der operativen Risiken realisieren. Alle übrigen potenziellen Lieferanten befinden sich entweder in Gebieten mit einem militärischen Risiko (Algerien, Katar und Turkmenistan), was die operative Effizienz und Liefersicherheit verringert, oder die Zusammenarbeit mit ihnen ist gekennzeichnet durch ein für die Europäer schlecht kontrollierbares manipulatives Umfeld, wodurch Liefergarantien keine bedingungslose Priorität ist (Iran und USA) und wo die Schlüsselfaktoren zur Entscheidungsfindung politischer Natur sind.

Unter den realen operativen Gegebenheiten ist die einzige vollwertige Alternative zum heutigen europäischen Energielieferhaushalt eine Ausweitung des Zugangs US-amerikanischen Schiefergases zum europäischen Markt. Nur die USA können garantiert und in verhältnismäßig klarem Kostenumfang stetige Lieferungen großer Gasmengen nach Europa gewährleisten, jedoch unter der Bedingung der Schaffung der für diese Lieferungen notwendigen Infrastruktur und dadurch garantierten Absatz.

Die USA sind keinesfalls bereit in den kommenden fünf bis sieben Jahren ihre eigenen Investitionsressourcen für einen langfristig angelegten Systemumbau der europäischen Gasversorgung auf der Grundlage amerikanischen Schiefergases einzusetzen. Der Hauptanteil der Anfangsinvestitionen muss von den Europäern aufgebracht werden, wobei diese Mittel nicht zurück erwirtschaftet werden können.

Die Frage der Versorgung Europas mit großen Mengen europäischen Schiefergases ist politischer Natur. Ihr positiver Ausgang wird nicht nur politische (Fortsetzung der transatlantischen Zusammenarbeit zu den Bedingungen der USA), sondern auch ökonomische Folgen haben. Die „technologische Rendite“ in der europäischen Energiewirtschaft wird den Amerikanern zugutekommen, und nicht den Europäern. Deswegen ist es mindestens wenig weitsichtig, wenn Europa und einzelne Staaten auf die Einfuhr amerikanischen Flüssiggases setzen und Milliarden in den Ausbau der Abnahmekapazitäten für Flüssiggas investieren. Die Zukunft des europäischen Energiehaushalts und der langfristigen Sicherheit des gesamten Liefersystems in Europa und Fähigkeit, wirtschaftlichen Nutzen und unternehmerische Prinzipien klar von politischen Ambitionen und Vorurteilen zu trennen, wird zur zentralen Aufgabe für die europäischen Eliten.