Das auf Polen zurückgehende geopolitische Projekt eines Intermariums (polnisch „Międzymorze“), auch bekannt als „Drei-Meere-Initiative“, steht bereits seit fünf Jahren auf der Tagesordnung und schlägt von Zeit zu Zeit hohe Wellen in den Medien. Dennoch fallen die politischen bzw. propagandistischen Erfolge Warschaus wesentlich bescheidener aus als seine wirtschaftlichen Erfolge. Der Dialog, den die polnische Seite von 2018 bis 2020 mit ihren deutschen Partnern über eine Zusammenarbeit im Rahmen des Investitionsfonds der Drei-Meere-Initiative führte, war nicht von Erfolg gekrönt. Es ist Warschau nicht gelungen, konkrete Vereinbarungen mit der Europäischen Investitionsbank (EIB) abzuschließen. In den EU-Institutionen wollte man die investitionsbasierten Vorhaben der Drei-Meere-Initiative nicht kofinanzieren und keine Mittel für ihre Verwirklichung bereitstellen. Dies ist wohl kaum allein auf die Verzögerungen zurückzuführen, von denen Investitionsaktivitäten in Europa pandemiebedingt gerade generell betroffen sind. Entscheidend sind die überaus hohen Risiken des Projekts und seine Abhängigkeit vom Faktor Energie, der die hauptsächliche Triebfeder für das Vorhaben ist, denn die energiebezogene Komponente der Drei-Meere-Initiative baut praktisch vollständig auf der Möglichkeit auf, amerikanisches Flüssiggas zu beziehen, zu verarbeiten und weiterzuverteilen.
Daraus erwächst auch der Hauptfaktor, dessen Bedeutung bisher weder von den Anhängern noch von den Gegnern der Drei-Meere-Initiative hinlänglich bedacht wurde, obwohl bereits deutlich wahrnehmbar ist, wie sehr er das Verhalten potenzieller Investoren beeinflusst. Es geht um die veränderte Einstellung zur Frackingindustrie in den USA selbst. Donald Trump diente das Fracking weniger als Instrument zur Erhöhung des politischen Drucks denn als reale Antriebskraft für nationales Wirtschaftswachstum. Mit diesem Plan wäre ein Durchbruch auf den ausländischen Märkten jedoch nur im Falle einer maximal positiven Einstellung zum Fracking im eigenen Land garantiert gewesen, wofür es nicht ausgereicht hätte, die Nachfrage nach Erdöl und Erdgas nachhaltig zu stützen, sondern man auch zu einer positiven Einstellung bezüglich der Einhaltung von Umweltauflagen hätte kommen müssen. Dies verhinderte jedoch der Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen, mit dem man auf politischer Ebene demonstrierte, dass man die Umwelt gegenüber dem Wirtschaftswachstum als zweitrangig erachtete. Jetzt hat sich die Situation grundlegend geändert: Die „Umweltfrage“ ist nun einer der sichersten Hebel, den die Regierung von Joe Biden ansetzen kann, wenn es darum geht, die politischen Forderungen der radikalen Linken in der liberalen Koalition zu erfüllen und gleichzeitig die wirtschaftliche Grundlage der Trumpisten zu schwächen. Doch solch eine „grüne Wende“ in der Energiepolitik der USA wird sich fast zwangsläufig auf die polnischen Ambitionen auswirken, die energetische Dimension der Drei-Meere-Initiative weiterzuentwickeln und Polen zu einem regionalen Erdgas-Hub zu machen. Und dies nicht nur, weil eine Kopplung des amerikanischen Beitrags zum Investitionsfonds an die Durchsetzung der „Klima- und Energieagenda“ das Interesse, sich an der Drei-Meere-Initiative zu beteiligen, weiter verringern könnte. Auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Verwirklichung dieses Mammutprojekts, das einen riesigen geographischen Raum umspannt, würden an Attraktivität einbüßen.
Auch ohne eine „grüne Wende“ würden sich Lieferungen amerikanischen Fracking-Gases nach Europa schwierig gestalten. Selbst wenn man den Umstand außer Acht lässt, dass sich die Krise des Fracking-Gases in den USA (sowohl die Zahl der in Betrieb befindlichen Anlagen als auch die Preisgestaltung betreffend) sogar noch schneller entwickelt hat als die des Fracking-Öls, würde das potenzielle Exportvolumen von Flüssiggas (mit einem Hauptanteil an Fracking-Gas) für alle Regionen (das in preislicher Hinsicht vorrangige Ostasien wie auch Lateinamerika eingeschlossen) bis 2025 nicht mehr als 167 Milliarden Kubikmeter betragen. Und dies selbst, wenn alle Flüssiggasanlagen, deren Bau geplant ist, fristgerecht den Betrieb aufnehmen würden. Dabei war ursprünglich geplant, die Exportkapazitäten ab 2022 zu erweitern. Es ist klar, dass diese Zeitpläne nun mindestens verschoben werden müssen, vor allem wird sich jedoch für die exportorientierten amerikanischen Fracking-Projekte in puncto Investitionen einiges ändern. Die „grüne Wende“ hat nicht nur sämtliche bereits von Anfang an im Programm der „Fracking-Expansion“ enthaltenen Widersprüche verschärft, sie hat den politischen und investitionsbezogenen Kontext dieser Pläne grundlegend verändert.
Es ist natürlich naiv, zu erwarten, dass Washington bereits lancierte Flüssiggas-Projekte stoppt. Allerdings werden weder die USA noch die europäischen Staaten in Zukunft noch bereit sein, der Frackingindustrie fiskalische Vergünstigungen wie z. B. Steuererleichterungen und erweiterte Investitionsgarantien zu gewähren. Und für die europäischen Verbraucher ist die Preisgestaltung das Entscheidende: Angesichts einer Rezession im Anschluss an die Pandemie, die noch stärker sein wird als bisher angenommen, wird die europäische Elite kaum bereit sein, zu nicht gleichwertigen Bedingungen in „Moleküle der Freiheit“ („molecules of freedom“) zu investieren.
Es muss auch angemerkt werden, dass die von Warschau so eifrig beworbene Drei-Meere-Initiative vor allem ein geopolitisches und weniger ein geoökonomisches Projekt ist. Die Verwandlung Polens in eine „Energie-Supermacht“, die praktisch die Energiebilanz nicht nur in Osteuropa, sondern am gesamten östlichen Ende des „alten“ Europa reguliert, war angesichts der unausweichlichen Krise in den Beziehungen zur EU und der Eingrenzung des EU-Investitionsraums ein Instrument zur Sicherstellung sozialer und wirtschaftlicher Stabilität in Polen. Die Bedeutung der „Fracking-Komponente“ der Drei-Meere-Initiative liegt gerade darin, dass mit ihr die wirtschaftliche Grundlage dafür geschaffen werden konnte, das Projekt mit anderen, im Hinblick auf Investitionen „anspruchsvolleren“ Programmen auszustatten, darunter auch solche, die mit Bürgschaften der EU-Kommission und anderer EU-Institutionen realisiert werden. Geoökonomisch gesehen beruhte die Initiative hauptsächlich auf dem Versuch, Iran und Russland das Projekt eines globalen „Nord-Süd-Korridors“ abzujagen. Und mit der Verwandlung Polens in einen „europäischen Erdgas-Hub“ sollte erreicht werden, dass massiv Investitionen in besagten geoökonomischen Raum fließen, wobei diese Investitionen hauptsächlich von den USA und nur zum Teil von Polen selbst kontrolliert worden wären.
Jetzt befindet sich die gesamte, Handel und Investitionen betreffende Komponente der Drei-Meere-Initiative und insbesondere die Energie-Komponente, die in Nach-Pandemiezeiten eine beträchtliche Krise durchlebt, in unruhigem, ja stürmischem Fahrwasser. Die einzige Chance für Polen besteht jetzt darin, mit dem Abbau der eigenen Schiefergasvorkommen zu beginnen (übrigens die größten in Europa), was dem Land in Zeiten geoökonomischer Ungewissheit helfen wird, durchzuhalten. Dafür sind jedoch kolossale Anfangsinvestitionen erforderlich, da die Schiefergasvorkommen in Polen nicht einmal wirklich vollständig erschlossen sind und ihr Umfang auf 770 Milliarden bis 5 Trillionen Kubikmeter geschätzt wird. Es ist bis jetzt nicht klar, welche Menge rein technisch gefördert werden kann, und auch nicht, wieviel gefördert werden kann, ohne dass daraus ernsthafte soziale Folgen erwachsen. Bei näherer Betrachtung ist jedoch – natürlich unter bestimmten Voraussetzungen für den Beginn des Investitionszyklus᾿ – die Variante, dass Warschau eigene Energieressourcen nutzt, keine schlechte Ersatzvariante.
Es muss daran erinnert werden, dass die Drei-Meere-Initiative anfangs gerade durch politische Impulse vorangetrieben wurde, darunter solche, die mit der Schaffung eines von Donald Trump propagierten Systems des „new atlantism“ verbunden waren. Das bedeutet, dass die radikal-konservative polnische Elite, die sich bereits im Konflikt mit den EU-Institutionen befindet, zur Lösung entstehender Probleme möglicherweise politische Spannungen provozieren könnte, so z. B. ein weiteres Auseinanderdriften der USA und des „alten“ Europa.
So gesehen lassen sich weitere destruktive Schritte Warschaus im Zusammenhang mit dem Nordstream 2-Projekt erwarten, das einerseits eine große wirtschaftliche Bedrohung für Polens Pläne darstellt, andererseits aber auch die Möglichkeit für einen allmählichen Interessenausgleich zwischen Europa, den USA und Russland in Fragen der Energiesicherheit auf dem europäischen Kontinent bietet. Der letztgenannte Faktor könnte das polnische Projekt ans Ende der europäischen Agenda verbannen, zumindest in der Form, wie es ursprünglich konzipiert war. Das heißt jedoch ganz und gar nicht, dass dieses Projekt schon morgen in der Versenkung verschwindet. Eher wird es so sein, dass es von Zeit zu Zeit noch einmal auf der Agenda auftaucht – aus politischen oder informationstechnisch-manipulativen Erwägungen derjenigen, die es konzipiert haben. In den nächsten ein bis zwei Jahren wird sich zeigen, ob diese Prognose zutreffend ist.