EU beklagt Kohlendefizit nach russischem Einfuhrverbot

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„Wir haben als Europäische Union beschlossen, dass wir unsere Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen beenden werden“, verkündete EU-Präsidentin Ursula von der Leyen im September 2022 an der Princeton University. Aber es scheint, dass die Präsidentin der Europäischen Kommission mit dieser Aussage zu schnell vorgeht. Obwohl Kohle der fossile Brennstoff ist, der am wenigsten aus Russland importiert wird und nur etwa 2 % der gesamten EU-Importe aus Russland ausmacht, sind Öl und Petrochemikalien mit 85 % und Erdgas mit 9-11 % ein Problem.

Das Embargo für russische Kohleimporte wurde im Rahmen des sechsten Sanktionspakets im April 2022 verhängt und läuft bis zum 10. August aus. Dieser Schritt erwies sich als zu radikal, und im September lockerte Brüssel die Zügel ein wenig. In den Mitte September veröffentlichten Leitlinien erklärte die Europäische Kommission, dass der Transit von Kohle und bestimmten anderen Rohstoffen für EU-Unternehmen erlaubt werden soll, „um die Nahrungsmittel- und Energieunsicherheit in der Welt zu bekämpfen“. Aber die finanziellen Verluste und logistischen Probleme sind nach wie vor beträchtlich. 

Vor dem Einmarsch in die Ukraine exportierte Russland etwa 50 Millionen Tonnen Kohle in die EU, den größten Teil davon Kesselkohle, die zur Stromerzeugung verwendet wird. 

Insgesamt verbraucht die EU jährlich etwa 435 Mio. Tonnen, wovon etwa 106 Mio. Tonnen importiert werden. Das bedeutet, dass die russischen Lieferungen fast die Hälfte aller Kohleimporte ausmachen. Nach Recherchen von Rystad Energy betrifft das Verbot inzwischen bis zu 70% der europäischen Kesselkohleimporte.

https://www.rystadenergy.com/news/europe-s-ban-on-russian-coal-is-a-double-edged-sword-that-will-keep-power-prices

Kohlepreise verdreifachen sich und die Umweltagenda ist bedroht 

 In diesem Sommer sagte die Internationale Energieagentur (IEA) aufgrund der Verknappung der Gaslieferungen einen Anstieg des Kohleverbrauchs in der EU um 7 % voraus. Die Stromerzeuger in Europa sind gezwungen, das umweltfreundlichere Erdgas durch Kohle zu ersetzen – eine unangenehme Aufgabe für einen Kontinent, der sich zum Ziel gesetzt hat, die CO2-Emissionen bis 2030 um 55% gegenüber 1990 zu senken. 

Das Problem ist, dass die EU nach und nach sowohl Kohlevorräte als auch Kohlekraftwerke abgebaut hat. Nach der COVID-bedingten Konjunkturabschwächung zeichnet sich jedoch ein Anstieg des Kohleverbrauchs ab – vor einem Anstieg von 7 % im Jahr 2022 verzeichnete die IEA 2021 einen Sprung von 14 %.

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Der starke Anstieg der Nachfrage führte zu einem entsprechenden Preisboom. Während die Kohle in Europa zu Beginn des Jahres mit 106 € pro Tonne gehandelt wurde, lag der Grundpreis im Oktober bei über 330 €. Die Strompreise ziehen nach: In einigen Teilen Deutschlands, Polens und Frankreichs haben sie sich seit Anfang des Jahres bereits verdreifacht. 

Gleichzeitig werden in einigen Regionen Kohlekraftwerke, die eigentlich stillgelegt werden sollten, wieder angefeuert. Allein in Deutschland und den Niederlanden werden in diesem Winter durch die Wiederinbetriebnahme von Kohlekraftwerken 13 Millionen Tonnen Kohle zusätzlich verbrannt, schätzt der globale Energie Denkfabrik „Ember Climate“. Das rückt die ehrgeizigen Umweltziele, die sich die EU erst vor einem Jahr mit dem Europäischen Green Deal gesetzt hat, in ein schlechtes Licht. 

Newcomer auf dem Markt und längere Strecken

Es scheint, dass es Europa nicht leicht fallen wird, die Versorgungslücke zu schließen. Anders als bei Gas ist der Kohlemarkt besser etabliert. Um diesen unzeitgemäßen Kraftstoff aus alternativen Quellen zu kaufen, muss die EU mit Verbrauchern konkurrieren, die langjährige Beziehungen zu ihren Lieferanten aufgebaut haben. Unabhängigen Experten zufolge muss die EU, um neue Verträge zu erhalten, einen Preis anbieten, der mindestens 20-30% über dem der gekündigten Verträge mit Russland liegt.

Auch eine neue Logistik muss erst noch aufgebaut werden, aber bisher wandte sich die EU dem asiatischen Markt und insbesondere Indonesien zu, da dieses Land der weltweit führende Exporteur von Kesselkohle ist. So hat das staatliche Kohlebergbauunternehmen PT Bukit Asam in diesem Jahr Verbindungen mit Italien, Deutschland und Polen geknüpft, während ein anderes Unternehmen, PT Adaro Energy Indonesia, sich Verträge mit den Niederlanden und Spanien gesichert hat. Die EU‑Kommissarin für Energie, Kadri Simson, besuchte Indonesien kürzlich im Rahmen der G20-Präsidentschaft und besichtigte eine Kohlemine im Land. Zu den anderen wahrscheinlichen Exporteuren gehören Kasachstan, Australien, Kolumbien, die USA und Südafrika.

Für die meisten dieser Produzenten gibt es nur eine Liefermöglichkeit – die Verschiffung von Kohle nach Europa. Die europäischen Häfen müssen daher ihren Betrieb umorganisieren: Bisher wurden bis zu 20 % der Kohlelieferungen auf dem Landweg transportiert, entweder über die Straße oder die Schiene. Dies erhöht sowohl die Lieferzeit als auch die Risiken im Vergleich zu kürzeren Lieferdistanzen aus Russland. Langfristig werden sich die neuen Routen durchsetzen, für den kommenden Winter bedeutet es allerdings weitere Preissteigerungen für europäische Verbraucher und Unternehmen. 

Seit dem Sommer beaufsichtigt die EU die Ausgaben von Tausenden von Euro für die Infrastruktur und Logistik fossiler Brennstoffe.  Die europäischen Regierungen werden in diesem Winter mindestens 50 Milliarden Euro für neue Routen für Gas und Kohle ausgeben, berichtet die Financial Times unter Berufung auf eine Analyse von Ember Climate.

Weitreichende Konsequenzen

Die Bedrohung durch den Mangel an Kohle und anderen Brennstoffen geht weit über das Risiko hinaus, dass die Häuser in Europa nicht mehr warm werden und die Weihnachtsbeleuchtung gedimmt wird. Auch die Industrie wird einen schweren Schlag erleiden. Zahlreiche moderne industrielle Prozesse, vom Schmieden von Metallen bis zum Pasteurisieren von Käse, sind von fossilen Brennstoffen abhängig. In manchen Fällen funktionieren die teuren Metallgeräte, die zum Halten von geschmolzenem Glas verwendet werden, bei zu niedriger Temperatur nicht.

„In den nächsten Wochen, Monaten und bis ins Jahr 2023 hinein wird sich zeigen, wie sich die anhaltend hohen Gas- und Strompreise auf die Industrie auswirken werden“, sagte Mauro Chavez, Forschungsdirektor für europäisches Gas bei Wood Mackenzie, und fügt hinzu, dass „empfindlichere“ Industrien möglicherweise keine andere Wahl haben, als ihren Standort zu verlagern oder sogar zu schließen. 

Mit einem hohen Anteil an russischem Gas und Kohle in seiner Energiebilanz einerseits und einer entwickelten Schwerindustrie andererseits scheint Deutschland in dieser Hinsicht am verwundbarsten zu sein. Deutsche Schwergewichte der Industrie wie der Chemiekonzern BASF und der Maschinenbauer Siemens haben bereits gewarnt, dass ein Energiedefizit in der absehbaren Größenordnung zum Verlust von Zehntausenden von Arbeitsplätzen und zum Stillstand der Produktion führen könnte.

Im September erklärte Europas größter Autokonzern Volkswagen, der seinen Hauptsitz ebenfalls in Deutschland hat, dass er über Verlagerungsoptionen nachdenkt, falls die Energiekosten in den Ländern, die am stärksten von russischen Treibstoffexporten abhängig sind, zu hoch werden: Die Produktion könnte aus Ländern wie Deutschland, der Tschechischen Republik und der Slowakei in südwestliche Teile Europas verlagert werden.

Entweder war die EU mit dem vollständigen Verbot russischer Kohle zu voreilig, oder sie war zu langsam, und verbot sie nicht früh genug; in jedem Fall muss sie jetzt ihren eigenen Kurs in einer schwierigen und heiklen Situation steuern, für die es keine einfachen Lösungen gibt.