Die aktuelle Situation als „europäische Gaskrise“ zu bezeichnen, geht komplett an der Wahrheit vorbei. Ihre Bedeutung geht weit über die reine Regulierung des Gasmarktes hinaus. Es handelt sich um eine ausgewachsene Energiekrise mit potentiell weitreichenden Folgen – alle Segmente des europäischen Energiesystems haben mit strukturellen Problemen zu kämpfen. Der Subsektor der Gaserzeugung ist lediglich der Brennpunkt, an dem die zahlreich vorhandenen Widersprüche sichtbar werden. Dies liegt vor allem daran, dass gerade in diesem Bereich die größten taktischen und strategischen Fehler begangen wurden. Die Verantwortung für die Preisanstiege beim Gas in Europa liegt bei der Führungsriege der EU und bei denjenigen europäischen Staaten, die am lautesten schreien, dass Moskau hinter dieser Krise stecke, während sie gleichzeitig die Zusammenarbeit der EU mit Russland im Gasbereich torpedieren. Zu diesen Ländern gehört Polen, das auf nicht-marktwirtschaftlicher Grundlage versucht, künstlich eine geopolitische und wirtschaftliche Basis für sein mitteleuropäisches Bündnisprojekt „Intermarium“ zu schaffen. Des Weiteren die Ukraine, die mit allen Mitteln versucht, die EU-Mitgliedstaaten und Russland dazu zu bringen, die Modernisierung des ukrainischen Gastransportnetzes zu finanzieren. Auch die baltischen Länder mit ihrer russlandfeindlichen Wirtschaftspolitik sind hier zu nennen. Die entscheidende Frage ist, inwieweit es den europäischen Staaten gelingen wird, die jetzige Destabilisierung zu begrenzen und einen zumindest mittel-, besser natürlich langfristigen Rahmen für die Entwicklung des Marktes zu schaffen. Die wirtschaftlichen Widersprüche, sich innerhalb der letzten Jahre in der EU gehäuft herausgebildet haben, zeigen sich während der jetzigen Phase der Energiekrise in vielen Facetten.
Drei Faktoren haben den Charakter des europäischen Gasmarktes bestimmt:
- Die Betonung auf mittel- statt langfristige Planung unter Ausschluss der Möglichkeit eines Worst-Case-Szenarios. Europa hat sich bei der strategischen Einschätzung des Energiebedarfs eindeutig verkalkuliert, genauso wie beim Ersatz alter Energiegewinnungsmethoden durch neue. Der Teilbereich Erdgas hat aufgrund seiner hybriden Natur einfach am empfindlichsten auf das Fehlen eines langfristigen Entwicklungsplans reagiert. Ein neuer Faktor ist die große Anfälligkeit des europäischen Marktes für Investitionsmanipulationen in einzelnen Marktsegmenten. Dies zeugt von der Schwäche der Sicherungsfunktionen des Marktes, die normalerweise von anderen Teilbereichen übernommen werden. Die EU hat schließlich auf eine Diversifizierung der Lieferanten gesetzt, was in diesem Fall jedoch nicht funktioniert hat. Diese Anfälligkeit wird sich im Übrigen kurzfristig nicht aus der Welt schaffen lassen, auch nicht durch einen hohen Mitteleinsatz. Was erforderlich ist, ist eine grundlegende Überprüfung der Ideologie, die hinter dem Aufbau des europäischen Energiesystems steckt. Ganzbesonders notwendig ist eine Abkehr vom erzwungenen Übergang zu erneuerbaren Energien und davon, dass außereuropäische Energielieferanten ebenfalls zwangsverpflichtet werden.
- Der Primat der gesamteuropäischen Gesetze (die „Energiepakete“ der EU) gegenüber den nationalen: ein Souveränitätskonflikt, der sich beim Bau von Nord Stream 2 in vollem Umfang zeigte. Eine der jüngsten einschlägigen Entscheidungen war das Urteil des EuGHs im Juli dieses Jahres zugunsten der polnischen Forderung, die Kapazität der OPAL-Pipeline, die Nord Stream mit dem Gasnetz Mittel- und Südeuropas verbindet, auf 50 Prozent zu beschränken. Auch dieses Urteil trug seinen Teil bei zur Destabilisierung des europäischen Gasmarktes. Nicht zuletzt spielt bei der Entstehung der Krise auch der europäische Zwangskurs hin zu einer Energiewende mit erneuerbaren Energien, aber ohne Rücksichtnahme auf die Verfasstheit des Energiesystems und der Wirtschaft als Ganzes eine wichtige Rolle.
- Der hohe Politisierungsgrad des Marktes und die direkte Einbringung von politischen Themen und Argumenten bei wirtschaftlichen Fragen. Zum Jahreswechsel 2018-2019 ist die Politisierung der Wirtschaft endgültig außer Kontrolle geraten. (Davon zeugt der Schiedsspruch des sogenannten Schiedsgerichts der Stockholmer Handelskammer im Fall Ukraine gegen Gazprom.) Das Problem besteht allerdings darin, dass die Corona-Pandemie das gesamteuropäische Instrumentarium der Wirtschaftslenkung zumindest teilweise außer Kraft gesetzt hat, da sich auf EU-Ebene alle Anstrengungen auf die Politik konzentrierten.
Das System der Widersprüche, das sich auf dem europäischen Gasmarkt gebildet hat, verhinderte eine solide mittel- oder gar langfristige Planung, wodurch das System anfällig geworden ist für akut auftretende Faktoren und Spekulationen. Ein Zusammentreffen unterschiedlichster Faktoren sorgte so für das besonders große Ausmaß der „Herbstkrise“ 2021, deren größte Gefahr darin besteht, dass sie sich wiederholen könnte. Die Erholung der Weltwirtschaft spricht für einen weiteren Anstieg des Gaspreises, auch wenn sie bislang eher asymmetrisch verläuft: die asiatischen Volkswirtschaften erholen sich schneller als die westlichen. Die große Nachfrage nach LNG in Asien wird durch die Vorbereitungen auf die olympischen Winterspiele in Peking nur noch weiter angeheizt werden. Die EU bezieht diese Faktoren bislang noch viel zu wenig in ihre Überlegungen ein. Und dies obwohl der europäische Markt dadurch mit großer Wahrscheinlichkeit zumindest für den Zeitraum 2022-23 seine Führungsposition als beliebtester Absatzmarkt verlieren wird. Dies hat nur zum Teil rein wirtschaftliche Gründe (die Preisparameter des asiatischen und europäischen Marktes sind im Prinzip vergleichbar). Vielmehr spielen auch die Überpolitisierung und -regulierung des „Marktes“ sowie die Unberechenbarkeit der nationalen und europäischen Regulierungsbehörden eine wichtige Rolle, wie sich auch in der abschließenden Bauphase von Nord Stream 2 zeigte, als eine Reihe von Regulierungsbehörden offensichtlich politisch motiviert und manipulativ handelte.
Die heutige Situation zeichnet sich durch einen sehr hohen Grad der Politisierung und ein völliges Ausbleiben jeglicher Versuche aus, ein strategisches Verwaltungssystem für den europäischen Markt zu schaffen. Es ist fraglich, ob die europäischen Eliten über genügend Einsicht verfügen, um die politisch motivierten Einschränkungen für russische Gaslieferungen relativ schnell aufzuheben, und zwar nicht nur kurzfristig während der Krise, sondern längerfristig. Unter Experten kristallisiert sich die Meinung heraus, dass die EU weder auf supranationaler noch auf einzelstaatlicher Ebene bereit ist, ihre Beziehungen zu Russland zu normalisieren. Ohne eine Normalisierung jedoch wird es keine engere Partnerschaft im Energiebereich geben, wobei eine konkrete Erhöhung der Liefermengen durchaus möglich wäre. Auch die geplante Nutzung der ukrainischen Transitinfrastruktur mutet nicht besonders logisch an, wenn man die astronomischen Summen berücksichtigt, die für Instandhaltung und Betrieb der Pipelines notwendig sind. In Brüssel unterschätzt man offensichtlich, wie schnell sich sowohl die amerikanischen als auch die russischen Lieferanten nach Asien umorientieren werden.
Eine strategische Bedrohung für den europäischen Energiemarkt besteht in der Entstehung von verschiedenen Räumen mit unterschiedlicher Energieversorgungssicherheit. Diejenigen Länder, die mit Moskau zusammenarbeiten und langfristige Lieferverträge mit Gazprom haben, werden die Krise mit geringeren Verlusten überstehen als diejenigen, die sich hauptsächlich über den Spotmarkt versorgen. Ganz zu schweigen von der mittelfristigen Wettbewerbsfähigkeit von Industrie und Landwirtschaft, die natürlich bei den Abnehmern mit langfristigen Verträgen stärker ausgeprägt sein wird. Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Länder versuchen werden, ihre Sonder-Lieferabsprachen für die Zukunft zu sichern, um sich so vor den politisierten Entscheidungen der EU-Organe zu schützen. Dadurch würden sich die Gegensätze innerhalb der EU weiter verschärfen, und Russland würde wiederum zum Sündenbock gemacht werden. Der Teufelskreis der gegenseitigen Schuldzuweisungen erhielte einen neuen Impuls.
Aus der so entstandenen Lage ergeben sich einige Schlussfolgerungen:
- Es besteht die Möglichkeit, dass die Krise immer wieder aufflammt, und zwar nicht nur durch Manipulationen, sondern als echte Krise. Die künstlichen Barrieren, die die EU für russisches Erdgas errichtet hat, könnten dazu führen, dass diesen Winter verstärkt Gas aus den Speichern entnommen wird. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass es bereits zum Jahreswechsel 2020-2021 zu einem neuen Krisenhöhepunkt kommen könnte. Die Füllmenge der Erdgasspeicher gilt als kritisch und kann sich binnen kurzer Zeit zu einer Krise auswachsen. Wenn man den offiziellen Daten Glauben schenken kann, fehlen in den Speichern im Vergleich zum Vorjahr 20,5 Milliarden Kubikmeter. 28 Prozent der Kapazitäten sind bislang ungenutzt, das entspricht 18,6 Milliarden der 66,2 Milliarden Kubikmeter, die den europäischen Speichern letzten Winter entnommen wurden. Für sich allein genommen ist dies keine direkte Bedrohung, da die Entnahme des Erdgases dadurch verlangsamt werden kann, dass nicht mehr rentable Unternehmen keinen Bedarf mehr anmelden. Hier ergibt sich jedoch ein riesiges Spielfeld für kurzfristige Preismanipulationen. Russland kann unter den jetzigen Regulierungsbedingungen die Liefermengen für Europa unmöglich schnell erhöhen, gerade auch weil der kommende Winter in Russland selbst voraussichtlich sehr kalt werden wird. Zur Destabilisierung führ vor allem der Schlüsselfaktor, dass die Gaslieferungen nach Europa aufgrund der politisch motivierten und chaotischen Vorgehensweise der europäischen Institutionen noch nicht einmal mittelfristig geplant werden können.
- Die „Krise des Ungleichgewichts“ könnte noch lange anhalten. Die großen Schwankungen auf dem europäischen Gasmarkt dauern vielleicht noch bis zum Ende des Winters fort, doch die „Nachbeben“ – vorübergehende, durch Spekulationen ausgelöste Krisen – könnten auch danach noch weiter auftreten, je nachdem ob die USA bei ihrem Exportgrundsatz „China zuerst“ bleiben. Es ist nicht ausgeschlossen, dass bei extremen Kälteeinbrüchen die Spotpreise für Gas am virtuellen Handelspunkt TTF in den Niederlanden die ohnehin schon rekordverdächtigen Notierungen überflügeln werden, die durch Spekulationen zeitweise bei über 2000 Dollar pro Kubikmeter lagen. Im Falle akuter Stimuli von außen könnte die Steigerung sogar noch höher ausfallen. Der Versuch, über die Berichterstattung in den Medien die Schuld für die Preisschwankungen beim Erdgas und für die Energiekrise ausschließlich auf Russland abzuwälzen, muss als Hinweis darauf gewertet werden, dass es der EU komplett an Ideen für einen strukturellen Wandel des Marktes fehlt. Die heutige Lage, unter der die europäischen Verbraucher, die Industrie und der Handel zu leiden haben, ist eine Folge der Brüsseler Orientierung hin zu amerikanischem LNG als wichtigstem Bestandteil des Energiemixes. Dieser Ansatz ist kurzsichtig, sowohl mit Blick auf die tatsächlichen LNG-Volumina, die die USA Europa zur Verfügung stellen konnten, als auch mit Blick auf die ausschließlich auf kurzzeitige Exporte ausgerichtete amerikanische Gaspolitik. Es liegt die Prognose nahe, dass die Verstimmung in Moskau noch größer werden wird: dort ist immer häufiger die Rede von der Unmöglichkeit einer Kursänderung. Es ist bezeichnend, dass einige Experten jetzt vorfühlen, inwieweit eine „Steuerung von außen“ des europäischen Energiemarktes möglich wäre (durch die USA und Russland, ohne Rücksprache mit den europäischen Partnern), um weitere der für die Weltwirtschaft sehr gefährlichen Schwankungen zu verhindern.
Die Energieversorgungsprobleme Europas können nicht mehr nur mit situationsabhängigen taktischen Entscheidungen gelöst werden. Die Zeit ist reif für eine tiefgreifende Überprüfung des Energieversorgungsmechanismus auf europäischer Ebene wie auf Ebene der einzelnen Länder – und zwar unter Beteiligung der globalen Akteure USA und Russland.