Die bereits vor 20 Jahren konzipierte Transkaspische Pipeline soll theoretisch das Potenzial besitzen, den europäischen Energiemarkt zu verändern. Jedoch ist dieses für die europäische Energiesicherheit so wichtige Projekt aus einer ganzen Reihe von Gründen geopolitischer, finanziell-wirtschaftlicher und ökologischer Natur ins Stocken geraten. Und die Aussicht darauf, dass der europäische Markt mit turkmenischem Erdgas beliefert wird, das als echte Alternative zu russischem Erdgas fungieren könnte, ist völlig ungewiss.
Die technische Seite des Vorhabens stellt sich verhältnismäßig einfach dar, denn die Röhren, die auf 300 km Länge von Turkmenbaschi nach Baku am Boden des Kaspischen Meeres verlaufen würden, könnten unter Anwendung moderner Technik in nur wenigen Monaten verlegt werden. 2019 wurde die Transkaspische Pipeline von der EU-Kommission in die Liste vorrangiger internationaler Energieprojekte aufgenommen. Das Projekt steckt jedoch nach wie vor im Vertragsstadium fest, bei seiner Umsetzung sind keinerlei Fortschritte zu verzeichnen. Nicht nur wurden sämtliche schon anfangs bestehenden Risiken (der Investitionsrahmen, die Sicherstellung ausreichender Gaslieferkapazitäten und der politische Kontext des Vorhabens) nicht beseitigt, sie haben sich im Laufe der Zeit lediglich noch verschärft.
Bereits jetzt liegen die Kosten für die Pipeline bei 20 Milliarden US-Dollar und haben sich damit im Vergleich zu den ursprünglich veranschlagten Kosten vervierfacht. Derart gestiegene Ausgaben sind hauptsächlich durch die Notwendigkeit umfassender Investitionen in die Erweiterung der Infrastruktur des Südlichen Gaskorridors bedingt. Auf die Hilfe der USA kann Turkmenistan dabei kaum zählen, weder in finanzieller noch in technischer Hinsicht. Denn das Projekt zu unterstützen, stünde in direktem Widerspruch zu den Interessen der amerikanischen Fracking-Industrie, die ihr Flüssigerdgas nach Europa liefern will. Dass die USA bei diesem Projekt überhaupt „mitmachen“, lässt sich einzig durch den Umstand erklären, dass sie durch eine rein formale Unterstützung des Vorhabens und durch Druck auf Brüssel versuchen, neue Vereinbarungen zwischen Russland und der EU über langfristige Erdgaslieferungen nach Europa zu verhindern.
Die Pläne Turkmenistans, den Erdgasexport nach Europa mit Hilfe der Transkaspischen Pipeline zu intensivieren, werden auch durch andere Akteure ernsthaft erschwert – durch Aserbaidschan, Kasachstan, Iran und Russland. Aserbaidschan betrachtet die Pipeline ungeachtet der Tatsache, dass es formal ihren Bau unterstützt, nicht als Quelle zur Bespeisung des Südlichen Gaskorridors, und bei Umsetzung des Vorhabens würde es automatisch einen Konkurrenten auf dem europäischen Markt bekommen. Die Aussichten für das Projekt sind auch deshalb ungewiss, weil sich der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev und sein turkmenischer Kollege Gurbanguly Berdimuhamedow nicht wohlgesonnen sind – Aliyev steht einer möglichen Erhöhung der Haushaltseinnahmen Turkmenistans durch die Anbindung der Pipeline an den Südlichen Gaskorridor negativ gegenüber.
Baku möchte maximalen Nutzen aus der Transanatolischen Pipeline (TANAP) ziehen und ist weder an der Einspeisung turkmenischen Erdgases noch am Bau weiterer, neuer Pipeline-Stränge interessiert, jedenfalls nicht, solange es die Ausgaben für den Bau der Pipeline noch nicht hat kompensieren können. Angesichts niedriger Gaspreise und aufgrund von Schwierigkeiten bei der Ausbeutung der Vorkommen ist geplant, die Ausschreibung zur Vergabe zusätzlicher Kapazitäten von 10 bis 20 Milliarden Kubikmeter für die Transadriatische Pipeline (TAP) um mindestens ein Jahr zu verschieben.
Was kasachische Erdgaslieferungen betrifft, so erschien diese Variante, die Transkaspische Pipeline zu bespeisen, schon früher recht unwahrscheinlich, obwohl ein Großteil der kasachischen Ressourcen in der Region des Kaspischen Meeres anzutreffen ist und das Projekt für Kasachstan von Interesse sein könnte. Aber das Land hat nicht die Mittel, in das Projekt zu investieren, da es – sozusagen gefesselt an Händen und Füßen – voll und ganz an seine Lieferverpflichtungen gegenüber der Volksrepublik China gebunden ist und einfach nicht über ausreichend freie oder zusätzliche Gaslieferkapazitäten verfügt, um Erdgas über die Transkaspische Pipeline zu exportieren. Wenn man den Angaben des Statistik-Ausschusses des kasachischen Wirtschaftsministeriums Glauben schenken darf, ist der Erdgasexport nach China 2019 im Vergleich zum Vorjahr um 60 % gestiegen. Die Prioritäten der kasachischen Regierung in Sachen Umweltschutz machen die Anbindung des Landes an die Transkaspische Pipeline ebenfalls illusorisch.
Aus diesem letztgenannten Grund stellen sich auch Iran und Russland offen gegen die Transkaspische Pipeline, abgesehen von Beweggründen wie der offensichtlichen Konkurrenz und Unstimmigkeiten mit Turkmenistan in Fragen des Erdgasexports. Moskau und Teheran erklären einstimmig, dass – gemäß der 2018 unterzeichneten Konvention über den Rechtsstatus des Kaspischen Meeres – die Durchführung jedes transkaspischen Infrastrukturprojekts die Bestätigung aller Teilnehmerstaaten erfordert, dass das Projekt ökologisch unbedenklich ist. Was bei den geologischen Besonderheiten der Kaspi-Region bedeutende Risiken für die Umwelt birgt.
Vor allem jedoch entsteht der Eindruck, dass auch Aschgabat selbst bereits keine Perspektive mehr für turkmenisches Erdgas auf dem europäischen Markt sieht. Die Hauptfrage lautet: Sind die Ressourcen Turkmenistans ausreichend, um alle eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen? Ursprünglich hatte Aschgabat der EU einen langfristigen Deal vorgeschlagen – Lieferungen von 30 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr über einen Zeitraum von 30 Jahren. Das Defizit wurde jedoch schon bei der Verwirklichung des von Brüssel vorgeschlagenen, vergleichsweise kleinen Deals von 5 Milliarden Kubikmeter Erdgaslieferungen pro Jahr deutlich, die durch Leitungen am Boden des Kaspischen Meeres gepumpt werden sollten. Auch die kürzlich erfolgte Wiederaufnahme der turkmenischen Gaslieferungen nach Russland ist ein wesentlicher Faktor, und es gibt Grund zu der Annahme, dass die russisch-turkmenische Zusammenarbeit noch verstärkt werden wird.
Ein weiterer Faktor, der die Transkaspische Pipeline bremsen könnte, ist die Absicht der EU, Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien zu intensivieren. Das britische Analysezentrum Ember veröffentlichte im Sommer 2020 einen Bericht über die Lage auf dem europäischen Energiemarkt im ersten Halbjahr 2020. Zum ersten Mal in der Geschichte lag der Anteil der erneuerbaren Energien höher als der Erdgas- und der Kohleanteil (erneuerbare Energieträger 40 %, fossile Energieträger 34 %, Atomenergie 26 %). Die Experten merken an, dass der Anteil der erneuerbaren Energien in der Zukunft in Abhängigkeit von den natürlichen Gegebenheiten oder nichtkalkulierbaren Faktoren variieren wird (z. B. mehr Angebot als Nachfrage während des Lockdowns aufgrund der Covid-19-Pandemie). Fakt bleibt allerdings Fakt: Die EU hat sich das Ziel gesetzt, den Anteil der erneuerbaren Energien bei der Stromerzeugung bis 2050 auf 70 % zu erhöhen.
Logisch, dass die Turkmenen unter diesen Bedingungen gezwungen sein werden, sich auf eine für sie wichtigere Aufgabe zu konzentrieren – den Bau der TAPI-Pipeline (Turkmenistan – Afghanistan – Pakistan – Indien) mit einer geplanten Kapazität von 33 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr und die Absicherung des Projekts durch ausreichende Ressourcen. Denn der Hauptabnehmer turkmenischen Erdgases ist bis jetzt China, und zwar zu ziemlich niedrigen Preisen: Die Erdgaslieferungen nach China dienen zur Tilgung eines Kredits von 4 Milliarden Dollar, den Peking dem turkmenischen Staat für den Bau einer Erdgasleitung zur Verfügung gestellt hatte. Diese Verpflichtungen gegenüber dem Reich der Mitte belasten die wirtschaftliche Gesamtsituation in Turkmenistan schwer. Dank der neuen Pipeline könnte Turkmenistan jedoch Erdgas in südasiatische Länder liefern, in denen der Bedarf kontinuierlich steigt. Und um die Inbetriebnahme der TAPI-Pipeline zu beschleunigen, forciert Aschgabat trotz bestimmter politischer Risiken den Gesprächsprozess mit Islamabad.
Genau dieses Vorhaben – und nicht die Transkaspische Pipeline – könnte zum Rettungsanker für die turkmenische Wirtschaft werden, denn es könnte dabei helfen, die „Ketten zu sprengen“ und die wachsende Belastung durch die Verpflichtungen gegenüber China zu mindern. Der gleichzeitige Bau zweier Export-Pipelines und die Sicherstellung einer ausreichenden Fördermenge, um beide Pipelines zu bespeisen, ist eine Aufgabe, die Aschgabat zum jetzigen Zeitpunkt nicht bewältigen kann.
Die Tatsache, dass das Projekt Transkaspische Pipeline angesichts der gegenwärtigen geopolitischen und finanziell-wirtschaftlichen Gegebenheiten trotz allem erörtert wird, deutet nicht etwa auf eine Vorbereitung der Inbetriebnahme hin, sondern sieht eher wie ein Betrugsmanöver aus, mit dem Turkmenistan sein Gesicht gegenüber der EU und den USA wahren könnte und gleichzeitig weder die Unterstützung Russlands verlieren noch die an der Pipeline interessierten potenziellen Investoren schockieren würde. Unter diesen Bedingungen sollten die Europäer, die zum jetzigen Zeitpunkt die treibende Kraft hinter dem Projekt sind, die tatsächliche Lage der Dinge nüchtern beurteilen und dem Beispiel Chinas folgen, das im Dialog mit Turkmenistan einen eher sachlichen Ton anschlägt.