Nordstream ächzt unter dem Druck der USA, beugt sich jedoch nicht

Die vorsichtigen Hoffnungen deutscher Politiker, dass die neue amerikanische Regierung unter Joe Biden bei „Nordstream 2“ Gnade walten lassen wird, sind an der eisigen transatlantischen Wirklichkeit gescheitert. Washington nimmt auch weiterhin eine unversöhnliche Position ein und droht den am Projekt beteiligten Europäern mit Sanktionen. Berlin versucht trotzdem, sich dem Druck zu widersetzen und das Gesicht zu wahren, indem es die Partner in Übersee davon überzeugen will, ihre Politik zu überdenken – wenn auch bisher ohne Erfolg.

US-Außenminister Anthony Blinken gab Ende März 2021 eine neue Erklärung ab, in der er die Pipeline einen „schlechten Deal“ für Deutschland, die Ukraine, Mittel- und Osteuropa nannte. Er unterstrich, dass die Regierung Biden die Kontinuität der von Donald Trump getroffenen Entscheidungen wahrt. Alle Unternehmen, die nicht mit amerikanischen Sanktionen belegt werden wollten, müssten „unverzüglich die Arbeit an der Pipeline einstellen“. Große Entrüstung rief diese Erklärung in Berlin nicht hervor, unterschied sie sich doch kaum von den Aussagen der amerikanischen Führung in den vergangenen Monaten – es folgten keine Reaktionen der Bundesregierung.

Nichtsdestoweniger haben die Schritte Washingtons bereits dazu geführt, dass mindestens 18 europäische Unternehmen aus dem Projekt ausgestiegen sind, darunter auch deutsche – so der Industrie- und Baudienstleister Bilfinger aus Mannheim und der Versicherer Munich Re Syndicate Limited. Es handelt sich vor allem um Versicherungsgesellschaften, die ihren Sitz überwiegend in Großbritannien haben. Was russische Auftragnehmer betrifft, so bauen sie weiter – der US-Regierung ist es bisher lediglich gelungen, die Arbeiten zu verzögern und zu erschweren, jedoch nicht, sie zu stoppen. Die beiden Verlegeschiffe „Fortuna“ und „Akademik Tscherski“ befinden sich im Verlegegebiet.

Deutsche Politiker haben bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass exterritoriale Sanktionen der USA kontraproduktiv sind und die Sicherheit der Energieversorgung in ganz Europa in Frage stellen. Wenn der Bau der Pipeline gestoppt wird, werden vor allem die europäischen Steuerzahler für die steigenden Gaspreise aufkommen müssen. Zudem wird es sich negativ auf die Konkurrenzfähigkeit der europäischen Wirtschaft insgesamt auswirken, wenn die Strom- und Gaspreise steigen.

Deutschland sorgt sich ferner um die geopolitischen Folgen. Bundesaußenminister Heiko Maas gestand im Gespräch mit Journalisten ein, dass eine wirtschaftliche Isolierung Russlands kontraproduktiv sei. Schritte in dieser Richtung treiben Russland und China nur noch stärker einander in die Arme und festigen ihre Allianz. Dies entspricht wohl kaum den Interessen der EU.

Gleichwohl sind einige Beobachter in Berlin der Auffassung, dass nach den Bundestagswahlen im Herbst dieses Jahres und der Bildung einer neuen Regierung der oder die Nachfolger(in) Angelas Merkels dem Druck aus Übersee nachgeben könnte. Die Mehrheit der Experten wie auch die deutschen Großunternehmen möchten jedoch bisher keine Prognosen diesbezüglich abgeben. So äußerte Mario Mehren, der Chef der deutschen Wintershall Dea GmbH, die vorsichtige Überzeugung, dass „Nordstream 2“ fertiggebaut wird. Seinen Worten zufolge wurde das Projekt in vollkommener Übereinstimmung mit der EU-Gesetzgebung koordiniert und geplant. Die Frage, welche Regierung in welchem Land an die Macht kommt, sei unwesentlich, da das Projekt vollkommen EU-gesetzeskonform sei. Dies gelte gleichermaßen auch für das so genannte Dritte Energiepaket, das auf europäischer Ebene verabschiedet wird.

Auf den Regierungspressekonferenzen in Berlin werden die Vertreter des Wirtschaftsministeriums und des Kanzleramts mit Fragen zu den Kontakten mit Amerika bezüglich „Nordstream 2“ überhäuft, aber die Regierungsvertreter vermeiden direkte Antworten und teilen lediglich mit, es würden „auf verschiedenen Ebenen Gespräche geführt“. Nichtsdestotrotz sickert aus inoffiziellen Quellen durch, dass Berlin und Washington trotz allem die Konfrontation wegen der russischen Ostsee-Pipeline hinter sich lassen und sich an Kompromisse herantasten wollen.

So hat Bundeskanzlerin Merkel die Pipeline-Frage bereits mit Joe Biden erörtert, auch wenn offizielle Quellen diesen Meinungsaustausch nicht bestätigen wollen. Wie bekannt wurde, hat Washington eine neue Idee ins Spiel gebracht: Die Pipeline soll mit einem Abschaltmechanismus für den Notfall versehen werden. Dieser Notfall wird so definiert, dass die Gaslieferungen gestoppt werden könnten, falls „Moskau versuchen sollte, mit einer „Drosselung der Lieferungen“ durch die bestehende Transit-Pipeline „Druck auf die Ukraine auszuüben“. Insgesamt möchte die neue amerikanische Regierung die Gaslieferungen durch die „Nordstream 2“-Pipeline um jeden Preis mit dem Transit russischen Erdgases durch die Ukraine verknüpfen, obwohl dies schon längst erfolgt ist – das Transitabkommen zwischen der Ukraine und Russland wurde vor vielen Monaten unterzeichnet, Deutschland hatte dabei eine aktive Vermittlerrolle inne.

Die Tatsache, dass der Bau der Pipeline auch mit eigenen wirtschaftlichen Interessen der USA verbunden ist, wird von der Regierung Biden mit keiner Silbe erwähnt. In Berlin zweifelt jedoch kaum jemand daran, dass die USA ihr Frackinggas als Flüssiggas nach Deutschland liefern wollen. Und die Terminals dafür sollen in relativer geografischer Nachbarschaft zu den beiden „Nordstream“-Leitungen gebaut werden: Die russische Pipeline verläuft am Grund der Ostsee und landet im Gebiet der Stadt Lubmin in der Nähe von Greifswald in Norddeutschland an, und in nur 350 km Entfernung von der „russischen“ Pipeline sollen an der Nordseeküste drei Terminals für amerikanisches Flüssiggas gebaut werden.

In diesem Zusammenhang sind sowohl „Nordstream“ als auch die Flüssiggasterminals ins Visier deutscher Umweltschützer geraten. Insbesondere die Umweltaktivisten der Deutschen Umwelthilfe e.V. (DUH) sprechen sich ausdrücklich dagegen aus, dass das LNG-Terminal in Stade, das 2026 in Betrieb genommen werden soll, genehmigt wird, da dieses gigantische Depot für importiertes Gas 21 Millionen Tonnen CO2 im Jahr produzieren würde. Dies ist vergleichbar mit dem CO2-Ausstoß eines Kohlekraftwerks.

Mit anderen Worten: Die Experten stellen fest, dass nicht nur „Nordstream 2“, sondern auch die Vorhaben der USA strittig sind und dass Deutschland aufgrund seiner geografischen Lage zum „geostrategischen Spielball zwischen den USA und Russland“ werden könnte. Und an die Aufrichtigkeit der Überlegungen und erst recht der Äußerungen der US-Regierung, die dafür kämpft, Europa aus der „Abhängigkeit von russischem Erdgas“ zu befreien, glauben nicht einmal mehr jene deutschen Politiker, die den Vereinigten Staaten recht wohlgesonnen sind. Umso mehr als die Amerikaner schon allein wegen ihrer Flüssiggas-Strategie und deren fraglicher Vereinbarkeit mit den Umweltzielen Deutschlands und der EU ein Problem mit den Deutschen bekommen könnten. Im Hinblick auf die „grüne Wende“, von der die neue US-Regierung zu sprechen begonnen hat, ist es außerdem gut möglich, dass die Deutschen von den Amerikanern verlangen werden, alle Informationen zum „CO2-Fußabdruck“ des Flüssiggases offenzulegen. Und dass sie Biden dazu bringen werden, die Umweltauflagen für die amerikanische Fracking-Industrie ernsthaft zu verschärfen.

Deutschland selbst setzt schon seit langem kontinuierlich und konsequent seine eigene Umweltagenda um. Dabei geht es vor allem um den nationalen Entwicklungsplan für den Energiesektor, der den Atomausstieg bis 2022 und die Dekarbonisierung bis 2038 zum Ziel hat. Die Regierung Merkel setzt für die nächsten Jahre auf einen Mix aus alternativen Energiequellen und Erdgas. Außerdem sollen in Übereinstimmung mit der neuen EU-Umweltstrategie und dem entschiedenen Kurs zur Senkung der Emissionen von Treibhausgasen Steinkohle und Braunkohle europaweit durch umweltfreundliche Energiequellen ersetzt werden. Und diese Energiequellen beinhalten nach heutigem Stand sowohl alternative Energien als auch klimaneutrales Erdgas.

Nach Auffassung einer Reihe renommierter Experten ist es gerade das Erdgas, das es der europäischen Wirtschaft mittelfristig ermöglichen wird, während der Bewältigung von Pandemie und Wirtschaftskrise die Energiepreise auf einem vernünftigen Niveau zu halten. Preiserhöhungen, gleich welcher Art, würden sowohl von den europäischen Privathaushalten als auch von den großen europäischen Industrieunternehmen äußerst negativ aufgenommen werden. Und für europäische Privatunternehmen, die wieder das Niveau erreichen wollen, auf dem sie sich vor Ausbruch der Pandemie befanden, ist es äußerst wichtig, ihre Wettbewerbsfähigkeit auf internationaler Ebene nicht zu verlieren.

Berlin wird sich bei der Ausgestaltung der Umweltstrategie außerdem mit der negativen Prognose befassen müssen, dass die Förderung eigenen Erdgases in Europa weiterhin stetig zurückgeht. Insbesondere der Förderstopp in Groningen in den Niederlanden führt dazu, dass Nordwesteuropa, Deutschland eingeschlossen, ca. 40 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr fehlen werden. Weitere 10 Milliarden Kubikmeter werden in der Energiebilanz dadurch fehlen, dass Norwegen versprochen hat, Polen unter Umgehung Deutschlands jährlich mit 10 Milliarden Kubikmeter Erdgas durch die Pipeline Baltic Pipe zu beliefern. In Berlin versteht man sehr wohl, dass zur Deckung dieses Defizits eine solide Infrastruktur erforderlich ist, mit der Nordwesteuropa zusätzliche Gaskontingente aus Norwegen wie auch aus Russland und anderen verlässlichen Lieferquellen beziehen könnte.