Die „Große Gasstraße“ aus dem östlichen Mittelmeerraum nach Europa ist bisher in keinem Atlas verzeichnet

Die Situation im Zusammenhang mit Projekten, die in Verbindung mit der Versorgung Europas mit Mittelmeergas stehen, entwickelt sich weitgehend entsprechend der konservativen Prognose vieler Experten. Dies hat sowohl mit den wirtschaftlichen als auch mit den politischen Aspekten der sich entwickelnden Situation zu tun. Dazu gehören der Status der Türkischen Republik Nordzypern, der ungelöste Streit um die Seegrenzen zwischen dem Libanon und Israel, der Mangel an ernsthaften Fortschritten bei der Beilegung des israelisch-palästinensischen Konflikts und natürlich ernstzunehmende Anzeichen einer Eskalation in dieser Frage. All dies zusammen bremst die Entwicklung des Energiepotenzials des östlichen Mittelmeerraums erheblich.

Gegenwärtig wirken sich die Bemühungen Ankaras, seine wirtschaftliche und militärische Präsenz in den zyprischen Hoheitsgewässern zu verstärken, sehr negativ auf die Aussichten für Gaslieferungen aus dem Mittelmeerraum nach Europa aus. Auch für die auf dem Festlandssockel tätigen europäischen Energieunternehmen steigen die Risiken, insbesondere für den französischen Konzern TOTAL, der gemeinsam mit dem italienischen Konzern ENI die Genehmigung für Bohrungen in 7 von 13 Blöcken der zyprischen exklusiven Wirtschaftszone (EWZ) besitzt. Die Position Ankaras im Hinblick auf die Situation in der exklusiven Wirtschaftszone Zypern wirkt insgesamt wie ein Versuch, die europäischen Staaten unter Zuhilfenahme des wachsenden wirtschaftlichen und politischen Einflusses der Türkei zu erpressen. Dabei kommt man nicht umhin, festzustellen, dass Ankara sich bei seinem Vorgehen ein Umfeld zunutze macht, das von den Europäern selbst geschaffen wurde: die Einbeziehung politischer Faktoren in rein wirtschaftliche Fragen der Energiesicherheit Europas, die Politisierung der Entscheidungsprozesse.

Es entsteht der Eindruck, dass Ankara unter Berufung auf eine angebliche (in Wirklichkeit manipulativ aufgeblähte) Notwendigkeit, im östlichen Mittelmeer neue Gasvorkommen zu erschließen, nicht nur rein wirtschaftliche Fragen zu klären sucht, sondern auch die international nicht anerkannte Türkische Republik Nordzypern in der Welt politisch wie wirtschaftlich salonfähig machen möchte und darüber hinaus seine militärische und politische Vorherrschaft in der Region mit seiner Rolle als Garant sicherer Erdgaslieferungen legalisieren will. Tatsächlich lässt sich die Notwendigkeit einer forcierten Erschließung der Erdöl- und Erdgasvorkommen in der Region wirtschaftlich nicht restlos begründen, und schon gar nicht der Bau einer Pipeline nach Italien. Ganz zu schweigen von der äußerst komplizierten Gemengelage wirtschaftlicher Faktoren und nicht wirtschaftsbezogener Risiken.  

Als entscheidend ist wahrscheinlich die Haltung Israels anzusehen. Einerseits ist Israel bestrebt, bis zur Lösung der Widersprüche in der Region seine eigenen Vorhaben zur Förderung von Erdgas voranzutreiben und richtet dabei sein Hauptaugenmerk auf Jordanien und Ägypten. So ist 2019 nach der Inbetriebnahme des Leviathan-Gasfeldes (45 Milliarden Kubikmeter über einen Zeitraum von 15 Jahren) ein Abkommen über eine beträchtliche Erhöhung israelischer Erdgaslieferungen nach Jordanien in Kraft getreten. Ende September dieses Jahres wurde in Kairo ein Vertrag unterzeichnet, dem zufolge Ägypten über einen Zeitraum von 15 Jahren 85 Milliarden Kubikmeter „blauen Kraftstoff“ aus Israel beziehen wird. Es ist wahrscheinlich, dass Ägyptens Gasbedarf weiter steigt, wenn das Land politisch und sozial stabil bleibt und sein bisheriges Tempo beim Wirtschaftswachstum beibehält. Andererseits schränkt die politische Ungewissheit bezüglich der Zusammensetzung und Ausrichtung der politischen Führung Israels mittelfristig gesehen erheblich den Spielraum für „politische Entscheidungen“ in wirtschaftlichen Fragen ein, einschließlich möglicher Investitionsgarantien. Noch stärker wird sich in dieser Hinsicht auswirken, wie gegen die Korruption vorgegangen werden wird, die in Israel in letzter Zeit zugenommen hat.

Italien als potenzieller Hauptabnehmer des Erdgases bleibt bei seiner skeptischen Haltung gegenüber dem Projekt. Italienische Investoren und Energieunternehmen betrachten die EastMed-Pipeline als technisch, geografisch und kommerziell unrentables Projekt. Selbst im Falle einer erfolgreichen Umsetzung des Vorhabens wären die Endkosten für italienische Verbraucher wesentlich höher als bei aus Russland bezogenem Gas. Und der Zugang zu den osteuropäischen Ressourcen wird für die südeuropäischen Länder noch erleichtert, wenn die South-Stream-Pipeline mit der geplanten Kapazität in Betrieb genommen wird. Investoren für das Mittelmeerprojekt können nur gefunden werden, wenn die Politik nicht nur die Sicherheit der Investitionen in den technischen Teil des Vorhabens garantiert, sondern auch Gaskäufe zu einem bestimmten, hohen Preis gewährleistet. Dies ist nur möglich, wenn die Rolle und der Einfluss der gesamteuropäischen Institutionen bedeutend erweitert werden, was angesichts der Situation in Italien zweifelhaft ist. 

Das Hauptproblem des Projekts ist somit das äußerst komplexe Investitionsumfeld. Verbessert werden kann die Situation durch eine umfassende Kreditfinanzierung durch einen Pool von Investoren, die gleichzeitig über ausreichende Lobbymöglichkeiten verfügen, um dieses Vorhaben in ein Vorzeigeprojekt bei der Gasversorgung Südeuropas zu verwandeln. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit dafür nicht sehr hoch, schon gar nicht angesichts des gegenwärtigen politischen Kurses der EU und der sich verschlechternden Beziehungen zwischen Ankara und Brüssel.

In letzter Zeit lassen sich keine ernsthaften Anzeichen für systemische Versuche erkennen, einen Pool von Investoren für das Projekt zu bilden, nicht einmal für seine Anfangsphase (umso mehr, als sich schon allein die Aufteilung des Projekts in Investitionsphasen und operative Phasen als schwierig erweist, denn eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung von EastMed ist gerade die technische Unteilbarkeit des Projekts). Die Türkei allein verfügt nicht über ausreichende Investitionsmittel, um das Projekt eigenständig zu verwirklichen – nicht einmal für die Vorbereitungsphase. Nur die größten Öl- und Gasunternehmen und ihre Servicepartner sind dazu in der Lage.

Von außen könnten China und Katar als Investoren hinzukommen. Im letzteren Fall, Katar, wäre dies nur in einem wesentlich breiteren Kontext möglich, der auch mit einer politischen Lösung des Syrien-Konflikts und der Einbeziehung mindestens eines Pipeline-Strangs aus Katar verbunden wäre, wobei auch hier erhebliche Schwierigkeiten beim Zugang zum europäischen Markt bestehen. Und diese Variante wird von Ankara wahrscheinlich ernsthaft in Erwägung gezogen. Dagegen ergibt es für die Türkei keinen Sinn, die operative Kontrolle an einem politisch derartig heiklen Projekt in fremde Hände zu legen, was jedoch durchaus eine Bedingung chinesischer Investoren für den Einstieg in das Vorhaben sein könnte: Sie könnten das Recht auf operative Kontrolle und Kontrolle der Finanzströme fordern.

Daher ist es nur möglich, die Investitionsindikatoren zu verbessern, wenn die größten nicht wirtschaftsbezogenen Risiken im östlichen Mittelmeerraum beseitigt werden und sie gleichzeitig in anderen Gasförder- oder Gastransitregionen beträchtlich steigen, was die Aufmerksamkeit der Analysten eindeutig auf das Kaspische Meer und die Türkei lenkt (darunter auch auf die Situation im Gebiet des südlichen Gaskorridors). Mit anderen Worten: Die Attraktivität der vorliegenden – für die EU aus politischen Gründen interessanten – Projekte für Investitionen steht in proportional umgekehrtem Verhältnis zueinander, und die politischen Forderungen und Voraussetzungen laufen auf ein reines Nullsummenspiel hinaus. Diese Situation kann nur durch bedeutende, langfristig angelegte Investitionen grundlegend geändert werden, und der Investor sollte alle nicht wirtschaftsbezogenen Risiken des Projekts verstehen und über Möglichkeiten verfügen, diese durch Sicherungsgeschäfte abzufedern. Dass ein solcher Investor erscheint, ist beim gegenwärtigen Zuschnitt des Projekts nicht vorstellbar.

Anhand der Erfahrung mit Infrastrukturprojekten in den vergangenen Jahren lässt sich absehen, dass die grundlegenden (Anfangs-)Investitionskosten solch umfassender und technisch äußerst komplexer Projekte am Ende um das Anderthalb- bis Zweifache steigen. Und EastMed betreffend lässt diese Prognose wichtige politische und soziale Gegebenheiten außer Acht.   

Wichtig ist auch, dass eine Fortsetzung des bisherigen Kurses in den amerikanisch-türkischen Beziehungen verschiedene amerikanische Sanktionen gegen Ankara nach sich ziehen wird, die zumindest den türkischen Finanzsektor und vor allem auch den Energiesektor unausweichlich treffen werden, insbesondere die Gasbranche, in der sich die Zusammenarbeit mit Russland intensiviert. Unter solchen Bedingungen wird die Umsetzung eines derartig komplexen Projektes unmöglich. Ganz zu schweigen davon, dass bei einer Verhängung der Sanktionen bereits während der Bauphase ein Fall von höherer Gewalt bezüglich der Investitionen eintreten würde, der die Aufhebung einzelner oder aller vertraglichen Verpflichtungen zur Folge hätte.

Die Analysten sind der Auffassung, dass die Ankündigung von EastMed ein Versuch war, einen weiteren Konkurrenten für den russischen Gasmonopolisten Gazprom auf dem europäischen Markt zu etablieren. Die Aussichten für den Bau der EastMed-Pipeline sind angesichts der derzeitigen Erdgaspreise in der EU äußerst unklar, doch die Türkei wird bestrebt sein, die Erörterung des Projekts verhältnismäßig hochrangig anzusiedeln, um sowohl auf die EU als auch auf Russland Druck auszuüben und vor allem seinen Anspruch nicht nur auf die politische, sondern auch auf die wirtschaftliche Vorherrschaft im östlichen Mittelmeer zu demonstrieren.

Die realistischste Variante von Gaslieferungen aus den Lagerstätten im östlichen Mittelmeer – und zwar nicht nur aus Israel und dem Libanon, sondern auch aus Ägypten (falls das in der exklusiven Wirtschaftszone des Landes liegende Zohr-Gasfeld ab 2020-2024 effizient ausgebeutet wird) – sind Flüssiggaslieferungen. Aber auch in diesem Fall wird das Hauptproblem die unbedingt erforderliche Stabilisierung der militärisch-politischen Situation in der Region sein, vor allem im Hinblick auf die Sicherheit auf See. Und auch im Hinblick darauf, dass das Problem der Begrenzung der Wirtschaftszonen der führenden Staaten in der Region gelöst werden muss, damit Konflikte auf See vermieden werden, insbesondere in den Gewässern um Zypern.

Insgesamt gesehen erfordert die praktische Umsetzung von EastMed einen grundsätzlich anderen Ansatz bei der Erstellung eines Business-Plans – einen Ansatz, der neue geopolitische Gegebenheiten in der Region berücksichtigt. Und eine der wichtigsten Voraussetzungen ist die Stabilisierung der militärisch-politischen Situation in den syrischen Hoheitsgewässern, die allerdings auch das Risiko einer ständigen Präsenz der russischen Kriegsmarine mit sich bringen könnte.