Deutschland wird im Sinne des Klimaschutzes bis 2022 vollständig auf Atomstrom und bis 2038 auf Kohlestrom verzichten. Als zentrales Element bei der Dekarbonisierung betrachtet Berlin neben dem Erdgas den Wasserstoff und alles, was damit zusammenhängt – eine entsprechende Strategie wurde letztes Jahr von der Regierung Merkel angenommen und verabschiedet. Energy Brief ist der Frage nachgegangen, wie diese Strategie konkret aussieht.
Die Bundesregierung schätzt, dass der Wasserstoffbedarf in Deutschland bis 2030 bei ca. 90 bis 110 Terrawattstunden (TWh) jährlich liegen wird. Man geht davon aus, dass der Großteil nicht aus eigener Erzeugung abgedeckt werden kann, sondern importiert werden muss. Im Hinblick auf die eigene Produktion hat Deutschland sich zum Ziel gesetzt, bis 2030 Anlagen zur Erzeugung von Wasserstoff einschließlich der dafür erforderlichen Offshore- und Onshore-Energieerzeugungsanlagen zu bauen, die eine Gesamtleistung von bis zu fünf Gigawatt (GW) erbringen. Mit fünf GW können 14 TWh „grüner“ Wasserstoff hergestellt werden. Bis 2040 sollen die Kapazitäten dann um weitere fünf GW erweitert werden.
Um sich vorstellen zu können, um welch gewaltiges Vorhaben es sich handelt, muss man sich vergegenwärtigen, was die Einheit Gigawatt bedeutet – sie ist eine Maßeinheit zur Messung der Leistung. Und man muss verstehen, was sich hinter der Zahl von fünf Gigawatt verbirgt. Fünf GW entsprechen der Leistung von fünf Atomreaktoren, also genug, um z. B. während eines ganzen Jahres den Energiebedarf Litauens zu decken, eines Landes mit 2,8 Millionen Einwohnern.
Der nationale Wasserstoffverbrauch liegt in Deutschland gegenwärtig bei ca. 55 TWh im Jahr. Hauptverbraucher der Wasserstoffenergie ist die in Deutschland traditionell starke Chemieindustrie. Gerade wegen dieser Branche legt Deutschland so viel Wert darauf, Zugang zu dem verhältnismäßig günstigen Gas zu haben, denn diese Industrie verbraucht viel Energie. Deutschland ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme in der EU, da nur wenige Mitgliedstaaten ein ähnliches Energieverbrauchsschema aufweisen.
Laut den Daten des unabhängigen Informationsdienstes Strom-Report, der den Energieverbrauch analysiert und sich mit Umweltfragen beschäftigt, wurden 2020 in Deutschland 488 TWh Strom erzeugt. Davon entfielen 50,5 % auf erneuerbare Energien, allein durch Windturbinen wurden 132 TWh erzeugt. Fast 25 % wurden in Kohlekraftwerken erzeugt, und 12,5 % stammten aus Atomenergie. Der Erdgasanteil betrug 12,1 % bzw. 59 TWh. Der Anteil der Kohlekraftwerke geht ständig zurück, der Anteil der erneuerbaren Energien wächst dagegen. Dabei liegt die Windenergie auf dem ersten Platz, es folgen Photovoltaik und Biomasse. Der Anteil der Wasserkraft ist bisher nicht groß und beträgt laut offiziellen Angaben lediglich etwas mehr als 3 %.
Nach Auffassung von Experten werden dem deutschen Stromnetz bis 2030 18 Gigawatt an Energie verlorengehen – je zur Hälfte durch den Wegfall von Atomstrom und Kohlestrom. Unter anderem um dieses Defizit ausgleichen zu können, plant Deutschland, seine Kapazitäten bei der Windkrafterzeugung in den nächsten drei Jahren um 5 Gigawatt zu erhöhen. Und im EU-Maßstab ist die Schaffung von Kapazitäten zur Wasserstofferzeugung in Höhe von 6 Gigawatt geplant.
Was die Wasserstoffproduktion angeht, so kann für die Herstellung aus Wasser mittels Elektrolyse Strom aus erneuerbaren Energiequellen wie Wind und Sonne genutzt werden. Dies ist der so genannte „grüne“ Wasserstoff, der, wenn man den Worten der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek, Glauben schenken darf, künftig Priorität besitzen wird. Denn in der EU wird der Wasserstoff nach „Farbe“ unterschieden, d. h. in Abhängigkeit von Schadstoffemissionen, die bei der Herstellung erfolgen: „grüner“ Wasserstoff, der aus Wasser gewonnen wird, ist der ökologisch sauberste Wasserstoff, frei von CO2. Als „blauer“ Wasserstoff wird die Substanz bezeichnet, bei deren Herstellung CO2 ausgestoßen wird, daher kommen die Verfahren der CO2-Abscheidung und -Speicherung zum Einsatz (engl. Carbon Capture and Storage, CCS). Und bei der Herstellung von „grauem“ Wasserstoff werden fossile Kohlenwasserstoffe verwendet.
Insgesamt kommen bei der Herstellung von Wasserstoff mittels Elektrolyse vier Verfahren zum Einsatz: Die alkalische Elektrolyse (AEL), die Protonenaustauschmembran-Elektrolyse (PEM), die Anionenaustauschmembran-Elektrolyse (AEM) und die Hochtemperaturelektrolyse (HTE). Das Verfahren der alkalischen Elektrolyse ist seit mehr als 100 Jahren bekannt und hat sich wirtschaftlich seit langem bewährt, die PEM-Elektrolyse ist ein wesentlich neueres Verfahren, das ebenfalls kommerziell angewendet werden kann. Die Hochtemperaturelektrolyse befindet sich noch in der Pilotphase der Entwicklung, wird aber in Zukunft von großer Bedeutung sein, meint man im Bundeswirtschaftsministerium.
Es ist offensichtlich, dass Deutschland seinen Bedarf an „grünem“ Wasserstoff langfristig nicht allein wird abdecken können. Bisher ist nicht abschließend geklärt, wie dieser Bedarf abgedeckt werden soll; es ist jedoch klar, dass Wasserstoff importiert werden wird, weshalb man auf eine strategische Partnerschaft u. a. mit Afrika setzt, wo durch die klimatischen und geografischen Voraussetzungen der Bau von Wasserstoff-Erzeugungsanlagen möglich ist.
Im Rahmen der Nationalen Wasserstoffstrategie (NWS) wird ein so genannter „Potenzialatlas“ erarbeitet, der Aufschluss darüber geben soll, welche Regionen für die Herstellung von Wasserstoff am geeignetsten wären, außerdem wird untersucht, wie Liefer- und Importketten aussehen könnten. All dies muss von deutschen und europäischen Wissenschaftlern zwar erst noch herausgearbeitet werden, aber deutsche Politiker haben schon mehrfach davon gesprochen, dass die neue, fast fertiggebaute Pipeline „Nord Stream 2“ unter anderem für solche Energielieferungen genutzt werden könnte.
Der Nationale Wasserstoffrat, der die Bundesregierung bei der Erarbeitung der Nationalen Wasserstoffstrategie beraten hat, besteht aus 25 Experten. Die Vorsitzende Katherina Reiche kritisiert die bisher von der Bundesregierung unternommenen Schritte. Während andere Länder bereits mit aller Kraft eigene Kapazitäten und Verfahren zur Wasserstoffproduktion entwickelten, hinke Deutschland stark hinterher. Als ein Haupthindernis sieht sie dabei die Strompreise an: „Die größten Ausgaben bei der Herstellung von Wasserstoff mittels Elektrolyse fallen durch die Strompreise an. Unternehmen, die in die Wasserstoff-Elektrolyse investieren möchten, müssen sich langfristig darauf verlassen können, dass der Strompreis ernsthaft subventioniert wird“ erklärte sie vor Journalisten. Die entsprechenden, von der Bundesregierung geschaffenen rechtlichen Voraussetzungen lösten das Problem nur bis zu einem gewissen Grade, hier seien ihrer Meinung nach Änderungen notwendig.
Insgesamt zweifelt sie daran, dass es bis 2030 gelingen wird, das selbstgesteckte Ziel zu erreichen und die Wasserstofferzeugung auf eine Gesamtleistung von fünf Gigawatt hochzufahren. Darüber hinaus hält sie es für möglich, dass diese 5 GW nicht ausreichen, um die geplanten 14 TWh „grünen“ Wasserstoff jährlich zu produzieren. So wird ihrer Auffassung nach im Jahr 2030 in jedem Fall ein Defizit von ca. 40 TWh bestehen, das den Import von Wasserstoff unbedingt erforderlich machen wird. Und es werden bedeutende Mengen an Wasserstoff importiert werden, der auf der Grundlage von Erdgas hergestellt wurde.
Hierbei ist anzumerken, dass es leider die Kohlenwasserstoffe sind, die weltweit als Rohstoff für die Wasserstofferzeugung dominieren. Mehr als 68 % des Wasserstoffs wird derzeit aus Erdgas erzeugt, 16 % aus Erdöl, 11 % aus Kohle und 5 % aus Wasser mittels Elektrolyse. Dies rührt daher, dass die Herstellung auf der Grundlage von Kohlenwasserstoffen verhältnismäßig günstig ist; die Herstellung mittels Elektrolyse beispielsweise ist gegenwärtig, je nach Schätzung, fünfmal so teuer wie die aus Erdgas.
Experten sagen voraus, dass Deutschland und Großbritannien die Wasserstoffwende in Europa anführen werden. Diese Länder haben im Rahmen des Pariser Klimaschutz-Abkommens erklärt, ihre Treibhausgasemissionen bis 2050 um 80-100 % senken zu wollen. Gerade der Wasserstoff könnte die entscheidende Rolle dabei spielen, dieses ambitionierte Ziel zu erreichen. Insbesondere im Energiehaushalt Großbritanniens wird Wasserstoff eine außerordentlich wichtige Rolle spielen, bis 2050 soll er etwa die Hälfte des Energieendverbrauchs abdecken (bis zu 480 TWh). In der ersten Phase soll dabei der Bedarf des Marktes durch „blauen“ Wasserstoff abgedeckt werden, der durch Dampfreformierung aus Erdgas erzeugt wird. „Grüner“ Wasserstoff wird in dem Maße wichtiger werden, wie die Kosten für die entsprechenden Technologien und die Strompreise langfristig sinken.
Was Deutschland betrifft, so ist in der Stadt Leuna in Sachsen-Anhalt gerade der Bau der weltweit größten Anlage zur Herstellung von „grünem“ Wasserstoff in vollem Gange – ihre Kapazität liegt bei 24 Megawatt (MW). Die Anlage, die vom irischen Linde-Konzern gebaut wird, wird voraussichtlich 2022 ihren Betrieb aufnehmen. Ihre relative Kapazität reicht aus, um jährlich 600 Busse mit Energie zu versorgen, die 40 Millionen Kilometer Wegstrecke zurücklegen sollen. Um es etwas bildhafter auszudrücken: Die Bewohner der ganzen Stadt Passau (53.000 Einwohner) könnten mit diesen Bussen eintausend Mal auf Höhe des Äquators die Erde umrunden.
Insgesamt belaufen sich die Investitionen der Bundesregierung in den Wasserstoffsektor auf neun Milliarden Euro. Allein in die wissenschaftliche Forschung im Bereich der Wasserstoffenergie fließen ganze 700 Millionen Euro. Berlin hofft, dass dadurch die Produktion und die Weiterentwicklung der entsprechenden Technologien beschleunigt werden können. Unter der Schirmherrschaft des Wirtschaftsministeriums haben Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit Industrievertretern im Sommer 2020 zunächst 32 Projekte ausgearbeitet, auf deren Grundlage schließlich drei Projekte erstellt wurden, die die vereinbarten Investitionen erhalten sollen. Die Projekte befassen sich mit verschiedenen Verfahren zur Herstellung von Wasserstoff und mit dem Wasserstofftransport.
Das Wirtschaftsministerium hat sich bemüht, alle Details der Pilotprojekte genau zu beschreiben, doch bisher nur auf die Zukunft bezogen. Fertige Beschlüsse, die umgesetzt werden, gibt es bisher nicht. Die Arbeit läuft also, doch ihr Tempo ruft bei Experten bisher Skepsis hervor. Volker Quaschning, Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin, weist insbesondere darauf hin, dass die Nutzung von Wasserstoff keinen Sinn ergibt, solange Strom nicht vorrangig aus erneuerbaren Energiequellen erzeugt wird. Nur dann könne auch der Wasserstoff wirklich „grün“ sein. Und bis dahin kann Deutschland keine wirkliche „Wasserstoffwende“ vollziehen.