Die süd- und südosteuropäischen Länder könnten schon bald über eine neue Magistrale Gas aus der Kaspischen Region erhalten, wodurch laut jüngsten Einschätzungen einiger Experten fast der gesamte Bedarf der Region am „blauen Treibstoff“ gedeckt werden könnte. Die Türkei und Aserbaidschan haben mitgeteilt, dass im Juni die Transanatolische Gaspipeline (TANAP) in Betrieb gehen soll. Eine genauere, im Verlauf der letzten Monate durchgeführte Analyse zur Ressourcenbasis der kaspischen Gaslagerstätten nährte allerdings Zweifel, dass dieses türkisch-aserbaidschanische Gemeinschaftsprojekt die Erwartungen der daran interessierten Länder und Organisationen erfüllen wird.
In diesem Zusammenhang sind von europäischen Energieexperten immer öfter positive Worte zum „Türkischen Strom“ – einem Projekt, das Moskau und Ankara gemeinsam umsetzen – zu vernehmen. Dabei scheinen diese Stimmen weitaus stärker zu sein als jene, die dazu aufrufen, über die Suche nach alternativen Energiequellen nachzudenken.
Mag man in den europäischen Hauptstädten auch noch so oft über die wachsende Rolle alternativer Energiequellen und darüber, dass der Bedarf an russischem Gas bereits morgen verschwunden sein könnte, sprechen – es bleiben Worte aus eher politischen als wirtschaftlichen Beweggründen. Laut Berechnungen von Analytikern global führender Energieunternehmen wird sich in den kommenden acht Jahren bis zum Jahr 2025 der Bedarf an russischem Gas durch europäische Verbraucher im Gegenteil erhöhen, und das nicht nur um zwei oder drei, sondern um ganze 25 Prozent im Vergleich zu den derzeitigen Mengen, was in absoluten Zahlen 70 bis 80 Mrd. Kubikmeter jährlich ausmachen wird.
Einfache Expertenberechnungen belegen, dass nur über den „Türkischen Strom“ ein solcher Umfang zu gewährleisten ist. Die grundlegende Entscheidung über den Beginn des Baus an der Gaspipeline trafen Russland und die Türkei Anfang 2015 – einige Wochen nachdem der russische Präsident Wladimir Putin (und nach ihm der Chef des größten globalen Lieferanten fossiler Energieressourcen Gasprom, Aleksej Miller) das Ende der Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission bei South Stream verkündet hatte. Damals, im Januar 2015, wurde sogleich eine neue Pipelineroute bestimmt. Es wurde erklärt, dass diese auf 660 Kilometern dem alten South-Stream-Korridor folgen und 250 Kilometer über eine neue Strecke bis zum europäischen Teil der Türkei verlaufen würde.
Bereits zwei Monate später unterzeichneten die Außenminister der Türkei, Griechenlands, Ungarns, Serbiens und Mazedoniens eine Kooperationserklärung für einen Weg der wirtschaftlich fundierten Diversifizierung der Lieferrouten und -quellen zum Erdgastransport aus der Türkei in Länder Europas. Der Baubeginn für die Pipeline war für Juni 2015 angesetzt, doch nach einigen Monaten der gewohnten bürokratischen Verzögerungen zwischen Russland und der Türkei kam es zum lautstarken Konflikt wegen eines von der Türkei abgeschossenen Militärflugzeugs, weshalb das Projekt auf Eis gelegt wurde.
Über ein halbes Jahr brauchten die Schlüsselplayer des „Türkischen Stroms“, um zumindest im Energiedialog wieder eine gemeinsame Sprache zu finden, und im Dezember 2016 schließlich unterzeichnete der türkische Präsident Recep Erdoğan – und zwei Monate später sein russischer Amtskollege Wladimir Putin – die Gesetze zur Ratifizierung des Abkommens zum Bau der Gaspipeline. Nun arbeiten die Teilnehmer des Projekts daran, verlorene Zeit wieder gutzumachen und den Bau der ersten zwei Pipelinestränge auf dem Grund des Schwarzen Meeres mit einer Kapazität von jeweils 15,75 Kubikmetern jährlich zu forcieren. Die Hälfte des aus Russland kommenden Gases ist für türkische Verbraucher vorgesehen, und die restlichen knapp 16 Mrd. Kubikmeter des blauen Treibstoffs sollen von den Ländern der Region Süd- und Südosteuropa abgenommen werden. Der Bau des zweiten Abschnitts der Gaspipeline wird allerdings erst dann aktuell, wenn es Russland gelingt, sich mit der EU darüber zu einigen, dass dieses Gas auch von potenziellen Verbrauchern abgenommen wird. Experten gehen davon aus, dass solche Vereinbarungen nicht nur möglich, sondern unabdingbar sind, insbesondere weil dadurch der Ausbau ihres Gastransportnetzes ermöglicht wird: Laut den Projektbedingungen sollen die Abnehmerstaaten selbst den Bezug von Gas aus der Türkei und dessen weitere Verteilung an die Terminals selbst durchführen.
Auf den ersten Blick scheint der Bau eigener Gastransportstränge in Südeuropa eine schwere Belastung für die Haushalte ärmerer Länder in der Region zu sein, doch bei tieferer wirtschaftlicher Analyse durch Energieexperten wird klar, dass die Perspektive der Versorgung mit russischem Gas über den „Türkischen Strom“ den Verbrauchern in die Hände spielen kann. Andere Energieträgerlieferanten wie Algier, Tunis oder Katar müssen durch das Auftreten eines starken Konkurrenten in Gestalt von Gasprom auf dem regionalen Markt eine flexiblere Preispolitik entwickeln. Die Frage der Preisbildung im Gassektor berührt insbesondere Aserbaidschan, das seinen teuren Brennstoff über die transanatolische Pipeline nach Südeuropa liefert. Baku sieht sich nun der Realität von Rohbrennstoff auf dem Markt gegenüber. Und nicht nur Baku.
Auch europäische Politiker können sich dem anscheinend nicht entziehen. Ihnen bleibt nur übrig ihre kritische Haltung gegenüber den Aktivitäten Russlands mit den wirtschaftlichen Bedürfnissen Europas zusammen zu bringen und sozusagen einen goldenen Mittelweg finden, damit nicht nur die Staatshaushalte, sondern auch die Geldbeutel der Bürger von den Folgen politischer Rhetorik verschont bleiben.