Obgleich die Bauarbeiten zur Gaspipeline Nord Stream 2 tatsächlich bereits begonnen haben (seit dem 3. Mai laufen im deutschen Lubmin die Arbeiten zur Errichtung des Anlandepunkts), wollen die Emotionen rund um das Projekt nicht abebben. Im Februar 2018 versicherte der russische Präsident Wladimir Putin dem österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz bei einem Treffen, die Gaspipeline Nord Stream 2 sei selbstverständlich und ohne jeden Zweifel absolut entpolitisiert. Kann man diesem Politiker aufs Wort glauben? Die Gegner des Projekts sind überzeugt, dass dieses die Energiesicherheit Europas untergräbt. Gleichwohl bestreiten eben diese eifrigen Gegner nicht den wirtschaftlichen Nutzen der Pipeline.
Für und Wider aus wirtschaftlicher Sicht
Die Zweckmäßigkeit eines Umlenkens des russischen Gasstroms nach Deutschlands über Nord Stream 2 wird bereits beim Blick auf die Landkarte deutlich. Eine direkte Pipeline ist schon allein dank des verkürzten Transportwegs wirtschaftlicher als die herkömmlichen Transitrouten über Polen, die Slowakei, Weißrussland und die Ukraine. Auf Grund der Lagererschöpfung in Ostsibirien verlagert sich die Erdgasförderung in Russland Schritt für Schritt nach Norden und die Ostseeroute nach Deutschland über Nord Stream 2 wird im Vergleich zum Transit über die Ukraine im Schnitt um 1000 Kilometer kürzer sein (die Länge von Nord Stream 2 wird insgesamt etwa 1200 Kilometer betragen).
Darüber hinaus garantiert Nord Stream 2 den Europäern Lieferungen über eine moderne Gaspipeline, deren Betriebsdauer auf 50 Jahre ausgelegt ist, während die Transitinfrastruktur auf anderen Routen verfällt.
Neben den Transitstaaten äußern ihr Unbehagen in Bezug auf Nord Stream 2 jene EU-Staaten, die auf den Import teureren Flüssiggases (LPG) aus den USA gesetzt haben. In Litauen wurde kürzlich ein Flüssiggasterminal mit einer Kapazität von 4 Mrd. Kubikmetern eröffnet, wobei Litauen selbst weniger als 3 Mrd. Kubikmeter Gas im jährlich verbraucht. Das bedeutet, dass dieses Projekt nur dann wirtschaftlich sinnvoll ist, wenn es Litauen gelingt, einen erheblichen Teil des Gases in Nachbarstaaten zur exportieren.
Mit einem vergleichbaren Problem sieht sich Polen konfrontiert, wo 2015 eine große Anlage zur Flüssiggaswandlung in Betrieb ging. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki bezeichnete bei seiner Rede beim Abschluss der Frühjahrstagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO in Warschau Nord Stream 2 als „Giftpille“ für die europäische Sicherheit, die nach seinen Worten weitreichende geopolitische Folgen nach sich ziehen könne. Zur wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit äußerte er sich nicht.
Im Übrigen, so hatte es Kanzlerin Merkel zuvor anlässlich eines Treffens mit ihrem polnischen Amtskollegen erklärt, werde Nord Stream 2 keine Bedrohung für die regionale Sicherheit darstellen, und meinte damit unter Anderem, dass die Nachfrage nach Flüssiggas stabil bleiben werde. Den gesamten Bedarf Europas mit amerikanischem Flüssiggas zu decken wird dabei kaum gelingen. Es sei dabei bemerkt, dass die Projektkapazität von Nord Stream 2 110 Mrd. Kubikmeter Gas pro Jahr beträgt, wohingegen die USA in absehbarer Zukunft nicht in der Lage sein werden, vergleichbare Volumina zu liefern.
Die Europäische Kommission auf der Suche nach Ausweichrouten
Um die Kontrolle über die Einzelheiten von Lieferungen zu behalten, strebte die Europäische Kommission anfänglich ein Mandat von den EU-Staaten zur Aufnahme von Verhandlungen mit Russland über die Bedingungen für den Bau der Pipeline an, jedoch ohne Erfolg. Nach europäischer Gesetzgebung bleiben derartige Entscheidungsprozesse Aufgabe der Mitgliedsstaaten, sodass Brüssel in dieser Frage lediglich eine beratende Funktion hat. Nichtsdestoweniger müssen nach den Worten des Vertreters der Generaldirektion Energie der Europäischen Kommission Klaus-Dieter Borchardt alle auf dem Gebiet der EU an Land verlaufenden Pipelines, einschließlich der durch Drittstaaten führenden, einheitlichen Regelungen unterworfen sein. Es geht dabei um die Grundsätze des dritten Energiepakets, unter dessen Geltungsbereich Nord Stream 2 als Offshore-Pipeline lediglich teilweise fällt.
Im November 2017 unterbreitete die Europäische Kommission Änderungsvorschläge zur europäischen Gesetzgebung, denen zufolge geltende EU-Normen auch auf die Infrastruktur, über die das Gas nach Europa gelangt, ausgeweitet werden sollten. Dieser Schritt führte zu einer Vielzahl juristischer Widersprüche mit den Rechtssystemen, unter deren Geltungsbereich in diesem Fall die Pipeline fällt, und die Lösung dieser juristischen Hürden kann Jahre in Anspruch nehmen. Der Juristische Dienst des Europäischen Rates beantwortete die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Änderungen zur Gasrichtlinie der Europäischen Union negativ. Die Juristen gelangten zu dem Schluss, dass diese Korrekturen der Europäischen Union schaden würden und zudem Artikel 56 und 68 des Seerechtsübereinkommens der UN widersprächen.
Eile mit Weile
Der Vorschlag der Europäischen Kommission wurde in Deutschland mit Besorgnis aufgenommen: Berlin erstellte ein eigenes Rechtsgutachten, in dem insbesondere davon die Rede ist, dass die Bundesrepublik kein einziges nachvollziehbares Argument für diese Änderungen sehe.
Aus Sicht der Bundesregierung erscheint eine Abkehr von Nord Stream 2 wie ein Versuch, ein schwaches WLAN-Signal eines Nachbarn zu erwischen, während einem angeboten wird, ein Hochgeschwindigkeitskabel direkt in die Wohnung zu verlegen.
Deutschland verweist darauf, dass derlei gravierende Änderungen an der Gasgesetzgebung der EU unmöglich ohne detaillierte Diskussion und Bearbeitung gemeinsam mit allen Mitgliedsstaaten vorgenommen werden könnten. Andernfalls führe eine solche Reform zu einer verringerten Energiesicherheit in der Europäischen Union und zum Preissteigerungen beim Gas für Endverbraucher.
Wahrscheinlich werden die Arbeiten an den Gesetzesänderungen fortgesetzt, doch auf den Bau von Nord Stream 2 wird das keine Auswirkungen haben.
Ökologischer Faktor
Nicht unbedeutende Faktoren sind in dieser Frage die Ökologie und das Klima. Für die Erfüllung ihrer Verpflichtungen nach dem Pariser Klimaschutzabkommen muss die Europäische Union beständig ihren Kohleverbrauch durch sauberere Energieträger, unter denen Erdgas zu den meist verfügbaren und kostengünstigsten gehört, ersetzen. Gegenwärtig entfällt noch ein Viertel des Energiehaushalts der EU auf die Kohle.
Laut einer Studie des Klimaforschungsinstituts Climate Analytics ist für die Erreichung des im Pariser Abkommen festgeschriebenen Ziels einer Begrenzung der Erderwärmung auf höchstens 2 Grad Celsius bis zum Jahr 2050 eine Senkung der Treibhausgasemissionen in Europa auf 6,5 Mrd. Tonnen, also um 80 Prozent im Vergleich zum Stand des Jahres 1990, erforderlich. Ohne eine starke Absenkung des Verbrauchs von Kohle als Treibstoff ist dies aber schlicht unmöglich.
Die Konfrontation zwischen Befürwortern und Gegnern von Nord Stream 2 zeugt auch noch nach Beginn der Projektumsetzung von den erheblichen Widersprüchen innerhalb der Europäischen Union. Auf der derzeitigen Etappe sind das Schicksal dieses Projekts und sein Einfluss auf die Beziehungen zwischen den Staaten innerhalb und außerhalb der Europäischen Union schwer vorherzubestimmen. Bisher haben zwei von fünf Ländern, durch deren Hoheitsgewässer die Gaspipeline führen soll, ihre Genehmigung zum Bau noch nicht erteilt. Deshalb ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es zu Fristverschiebungen in Form von Verzögerungen der Pipelineverlegung kommen wird. Zweifel, dass die Bridge over troubled Baltic water dennoch fertig gestellt wird, sind allerdings nicht angebracht.