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Vor über drei Jahrzehnten wurde in der französischen Provence eines der größten internationalen Energieprojekte ins Leben gerufen – der Kernfusionsreaktor ITER (International Thermonuclear Experimental Reactor). Die Bauherren sind davon überzeugt, dass der riesige Reaktor mit der ersten vollständigen Kernfusionsreaktion, die 2035 stattfinden soll, eine Energierevolution auslösen wird. Von der Komplexität her ähnelt das Projekt dem riesigen Teilchenbeschleuniger des CERN: es enthält über zehn Millionen Komponenten. Das Projekt stößt auf viel Kritik: es sei verspätet, überteuert und veraltet.
Das ursprüngliche Ziel des Projekts bestand darin, die Machbarkeit sicherer Kernfusionstechnologie und ihre friedliche Nutzung zu demonstrieren. Die dem Reaktor zugrundeliegende Idee wurde bereits in den 1950er Jahren von den sowjetischen Wissenschaftlern Andrej Sacharow und Igor Tamm entwickelt. Der ITER-Reaktor begann 1988 als gemeinsames west-östliches Wissenschaftsprojekt. Den Anstoß dafür gaben 1985 der Generalsekretär der UdSSR, Michail Gorbatschow, und der amerikanische Präsident Ronald Reagan.
Alexander Alexejew, der wichtigste Berater des ITER-Generaldirektors Bernard Bigot, war von Anfang an dabei. In einem Interview mit Energy Brief in der ITER-Zentrale im französischen Cadarache erinnert er an den Wissenschaftler Evgenij Welichow, der Gorbatschow das Projekt vorgeschlagen hatte.
Heute sind die EU, die USA, Russland, China, Japan, Korea und Indien an dem Projekt beteiligt.
2005 wurde die Standortentscheidung zugunsten von Cadarache getroffen. Im selben Jahr noch begannen die Vorbereitungen für die Bauarbeiten. Aus einem Waldgebiet nahe dem Ort wurde 2007 eine 400 Fußballfelder große Baustelle. 2010 begannen die Bauarbeiten am Gebäude für den Tokamak: auf dem insgesamt etwa 42 Hektar großen Areal wurde das zentrale, siebenstöckige Gebäude von 120 mal 80 Metern errichtet. Insgesamt sind über 2000 Ingenieure, Techniker und Bauarbeiter am Bau des ITER beteiligt. Weltweit arbeiten ungefähr 200 000 Menschen an dem Projekt.
Andrej Sacharow schreibt in seinen Erinnerungen, er habe bereits 1949 begonnen, sich mit der Frage einer kontrollierten Kernfusionsreaktion auseinanderzusetzen. 1950 zeigte man ihm den Brief eines jungen Matrosen der Pazifikflotte, Oleg Lawrentjew, der an die sowjetische Regierung und die Akademie der Wissenschaften adressiert war. Darin betonte der Absender die Bedeutung der Kernfusion für die Energieversorgung der Zukunft und schlug vor, mit Hilfe von elektrostatischer Isolierung heißes Deuterium-Plasma zu erzeugen. Sacharow hielt das Thema für äußerst wichtig, befürwortete jedoch die im Brief vorgeschlagene Vorgehensweise nicht. Das Ergebnis seiner Zusammenarbeit mit Tamm war ein System, das später die Bezeichnung Tokamak erhielt (die russische Abkürzung für „toroidale Kammer in Magnetspulen“). Diese Bezeichnung findet mittlerweile auf der ganzen Welt Verwendung, und russische Wissenschaftler vergleichen den Begriff gern mit anderen „Markennamen“ wie „Sputnik“ und „Matroschka“.
Ein Tokamak ist eine ringförmige Kammer, die von toroidalen Magnetfeldspulen umschlossen ist. Das von den Spulen gebildete Magnetfeld sorgt dafür, dass sich die ionisierten Bestandteile des Plasmas in der Brennkammer auf bestimmten Bahnen bewegen. Die Luft aus der Brennkammer wird abgesaugt, anschließend wird die Kammer mit einer Mischung aus Deuterium und Tritium gefüllt. Dann wird durch elektromagnetische Induktion ein Plasmastrom erzeugt, wodurch sich das Plasma erhitzt. Einige Tokamak-Anlagen entstanden im Moskauer Kurtschatow-Institut, darunter der Tokamak T-10, der seit 1975 in Betrieb ist und zum damaligen Zeitpunkt der größte seiner Art weltweit war. Bei dieser Anlage konnte eine Rekordtemperatur von 100 Millionen Grad Celsius erreicht werden – selbst auf der Sonne ist es nicht so heiß.
„Die wichtigsten Komponenten des Tokamak sind die Vakuum-Brennkammer und das Magnetsystem. Die Magnetfeldspulen bilden ein toroidales Magnetfeld zur Lenkung des Plasmas. Weil starke Magnetfelder und große Ströme erforderlich sind, wird ein hochleitendes Magnetsystem verwendet, das auf 4 Grad Kelvin gekühlt wird – nahe am absoluten Nullpunkt der Kelvin-Skala. Um einen Wärmeverlust zu vermeiden, ist das Ganze in eine riesige Vakuum-Kältekammer eingebettet, die mit einem Durchmesser von 30 m und einer Höhe von ebenfalls 30 m die größte der Welt ist“, erläutert Alexejew.
Das Projekt ist außerordentlich kostspielig. In der Presse kursieren die verschiedensten Summen, die Rede ist von 20 bis 35 Milliarden Euro. Laut den Experten, die von Energy Brief befragt wurden, gestaltet sich die Abschätzung der Gesamtkosten schwierig, da die teilnehmenden Länder den ITER nicht in erster Linie mit Geld, sondern vor allem mit Sachleistungen wie Komponenten unterstützen. Das zeichnet dieses Projekt aus.
Die Leistungen werden von den entsprechenden nationalen Agenturen verwaltet. Im Februar 2021 entschied die EU, für den Bau des Reaktors in den Jahren 2021-27 weitere 5,7 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen. Laut ITER-Vertrag ist übrigens Euratom der Empfänger der Gelder. Die EU ist außerdem mit einem Kostenanteil von knapp 40 % die größte Geldgeberin des Projekts.
Die Hauptaufgabe des ITER besteht darin, die wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten der Kernfusion im industriellen Maßstab zu demonstrieren und die entsprechenden Verfahren zu entwickeln. Laut den Wissenschaftlern ermöglichen Fusionsreaktoren sichere Energiegewinnung im großen Stil, ohne CO2-Emissionen und mit minimalem Abfallaufkommen.
„In einem Kernreaktor findet eine Spaltung statt. Bei Erreichen der „kritischen Masse“ wird eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, die unaufhaltsam ist und mit einer Atomexplosion endet. Vereinfacht ausgedrückt, sorgt das System dafür, dass diese Reaktion unter Kontrolle bleibt. Bei der Kernfusion hingegen ist alles darauf ausgerichtet, optimale Bedingungen für die Fusionsreaktion herbeizuführen. Wenn etwas schiefläuft, kommt die Reaktion einfach von selbst zum Erliegen“, erläutert Alexejew.
Ein zweiter wichtiger Aspekt ist laut Alexejew der, dass ein Kernkraftwerk riesige Mengen Brennstoff benötigt. Im Falle eines Reaktorunfalls kann tonnenweise radioaktiver Brennstoff freigesetzt werden und große Flächen verseuchen. Bei einem Fusionsreaktor sei ein solches Szenario unmöglich.
„Bei der Kernfusion bewegen wir uns beim Brennstoff in der Kategorie ‚Gramm‘. Es geht um 1, 2 oder 3 Gramm Tritium und Deuterium. Der Unterschied ist riesig. Bei Kernreaktoren geht es um Tonnen, hier um Gramm. Im dem unwahrscheinlichen Fall, dass jemand einen Fusionsreaktor so in die Luft sprengt, dass er in kleine Stückchen zerrissen wird, wäre Eisen das Einzige, was „strahlen“ würde. Eine radioaktive Wolke kann bei der Kernfusion nicht entstehen“, so Alexejew. Alexejew ist der Ansicht, dass es momentan keine Alternative zur Kernfusion gibt, da der dafür notwendige Brennstoff in unendlichen Mengen zur Verfügung steht.
„Es gibt sehr viel Brennstoff: er reicht nach vorsichtigen Schätzungen für tausend Jahre. Deuterium wird aus Wasser gewonnen, Tritium aus Lithium (die Erdkruste enthält etwa zweihundertmal mehr Lithium als Uran – Anmerkung der Redaktion).
Insofern ist es die Aufgabe des ITER, eine kontrollierte Kernfusion zu demonstrieren, bei der sehr viel Energie freigesetzt wird“, so Alexejew.
Ein Gramm der Brennstoffmischung aus Deuterium und Tritium entspricht der Energiemenge von 8 Tonnen Erdöl. Das Deuterium, das in einer Flasche Wasser enthalten ist, entspricht der Energiemenge von einem Fass Benzin.
Bei Inbetriebnahme des Reaktors und zu Beginn der Versuche 2025 ist vorgesehen, mit einem Energieeinsatz von 50 Megawatt insgesamt 500 Megawatt Fusionsenergie zu gewinnen. Aus diesen 500 Megawatt können dann wiederum etwa 200 Megawatt Strom gewonnen werden. Diese Menge würde ausreichen, um 200 Haushalte mit Strom zu versorgen. Die Wissenschaftler wollen zeigen, dass die Entwicklungsphase der Technologie beendet ist und künftig also Kernfusionsreaktoren geplant und gebaut werden können.
„Wenn die Technologie erst einmal ausgereift ist und alle Probleme gelöst sind, dann werden Planung und Bau viel schneller vonstatten gehen können…Ich bin davon überzeugt, dass dies die zweite Revolution sein wird, nach der ersten in den 1960er Jahren, als die sowjetischen Wissenschaftler den Tokamak erfanden“, so der wichtigste Berater des ITER-Generaldirektors.
Die zahlreichen Kritiker des Projekts sind hierin mit Alexejew absolut nicht einverstanden. Ihrer Ansicht nach ist der ITER überholt, und man sollte jetzt alles auf die Weiterentwicklung der erneuerbaren Energien setzen.
„Die kommerzielle Anwendbarkeit dieser Technologie steht in den Sternen und wird im besten Fall gegen Ende des Jahrhunderts möglich sein…Zu teuer, zu spät und zu ungewiss – ITER entpuppt sich immer deutlicher als Milliardengrab ohne Happy End“, so Sylvia Kotting-Uhl, die atompolitische Sprecherin der Grünen.
Matthias Bartelmann, Professor für theoretische Astrophysik an der Universität Heidelberg, verweist auf die hohen Kosten des Projekts, bei denen allenfalls die Internationale Raumstation mithalten kann.
Dennoch wird zurzeit mit Hochdruck an der Anlage in Cadarache gearbeitet. Der untere Teil der Kältekammer ist bereits fertiggestellt. Die Inbetriebnahme wird für 2025 erwartet, die erste vollständige Kernfusionsreaktion soll 2035 stattfinden.
Die entscheidende Frage ist jetzt jedoch, ob die Kernfusionstechnologie in der Zukunft überhaupt noch gebraucht werden wird. Hier dominieren eindeutig die Optimisten. Denn selbst Fusionskritiker kommen nicht umhin zuzugeben, dass 2050 der Energiebedarf der Weltbevölkerung mit erneuerbaren Energien allein unter Umständen nicht abzudecken sein wird. Einige Experten sagen voraus, dass 2050 die ersten Kernfusionsreaktoren zur industriellen Anwendung im Bau sein werden. Dann bestünde durchaus eine Chance, dass die Menschheit im 21. Jahrhundert eine künstliche Sonne erlebt.