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Der Beginn des Krieges in der Ukraine im Februar und die darauffolgenden umfassenden Sanktionen gegen Russland haben zu einer Kehrtwende in der Energiepolitik der EU geführt. Unter dem Druck ihrer Partnerländer und der eigenen politischen Elite erklärte die EU, ab 2027 ganz auf russisches Gas, Öl und Kohle verzichten zu wollen. Und dies obwohl die Zusammenarbeit im Energiebereich ein halbes Jahrhundert lang und sogar während tiefer politischer Krisen einer der wichtigsten Pfeiler der Beziehungen zwischen der Sowjetunion bzw. Russland und Europa gewesen ist.
Diesmal sind es nicht nur Polen und die baltischen Staaten, die an vorderster Front gegen die Abhängigkeit von den russischen Energieträgern kämpfen, sondern auch Deutschland, das immer ein Vorkämpferland für die russisch-europäischen Beziehungen gewesen ist. Ab Mitte der 2010er Jahre war es die energiepolitische Partnerschaft, die die deutsch-russischen Beziehungen vor einer weiteren Verschlechterung bewahrte, und das diplomatische und wirtschaftliche Tauziehen um Nord Stream 2 war eines der wenigen Themen, bei denen Moskau und Berlin gemeinsam agierten, gegen die Interessen der USA und einer Reihe von EU-Mitgliedstaaten. Damit ist jetzt jedoch Schluss. Bis Mitte 2022 will die Bundesregierung den Import russischen Erdöls halbieren und bis Jahresende den Anteil des russischen Gases an den Gesamtimporten von jetzt knapp 50 auf etwa 30 Prozent senken.
Andere EU-Mitglieder wollen sich sogar noch schneller von den russischen Energieträgern verabschieden. So hat beispielsweise Bulgarien angekündigt, den Ende dieses Jahres auslaufenden Vertrag mit Gazprom nicht verlängern zu wollen. Aus Polen kam eine ähnlich lautende Ankündigung.
Europa steht vor der Herkulesaufgabe, den Import von Öl und Gas vom Osten auf den Westen umzulenken. Der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, ist der Ansicht, dass man sich mit Hilfe neuer Lieferanten, einer größeren Energieeffizienz und mehr erneuerbaren Energiequellen aus der Abhängigkeit von Russland befreien könne. Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte ebenfalls umfassende Maßnahmen zur Diversifizierung der Lieferanten an. 2045 soll Deutschland CO2-neutral sein. Schlüsselfaktoren hierbei sind der Ausbau der Infrastruktur für erneuerbare Energien und der Bau zweier LNG-Terminals.
Das europäische Spektrum der Lieferanten soll durch die LNG-Lieferländer USA, Katar, Norwegen und Afrika ergänzt werden. Zweifellos werden die USA bei der Bedienung des europäischen Marktes die Führungsrolle übernehmen. Die Amerikaner haben in den vergangenen Monaten ihre Gaslieferungen in die EU bereits stark erhöht. Sie versuchen schon lange mit allen Mitteln, den russischen Marktanteil beim Erdgas in Europa deutlich zu begrenzen, und werden zweifellos auch die Haupt-, wenn nicht sogar die einzigen Nutznießer der jetzigen Lage sein.
Washington geht davon aus, dass die EU die Energiewende weiterhin so gut wie möglich vorantreiben wird, dass Russland dabei bei den Energielieferungen in den Hintergrund treten wird und dass sich die EU von der amerikanischen Öl- und Gasindustrie wird beliefern lassen.
Fachleute warnen jedoch einstimmig, dass sich diese neue Energiepolitik der EU (Abkehr von Russland, stattdessen amerikanisches LNG und erneuerbare Energien) erst in relativ ferner Zukunft wird umsetzen lassen, wenn überhaupt.
Um LNG aus den USA und anderen Ländern importieren zu können, muss die EU praktisch aus dem Nichts die entsprechende Infrastruktur aus dem Boden stampfen und ein gemeinsames Transportsystem aufbauen. Zurzeit gibt es in der EU und vor allem in Mittel- und Osteuropa nicht genügend LNG-Terminals, ganz unabhängig von ihrer durchschnittlichen Auslastung. Auch Deutschland, der größte Gasmarkt Europas, verfügt bislang noch über keine eigenen LNG-Terminals. Der Import nach Deutschland läuft größtenteils über Terminals in Belgien und den Niederlanden. Schon 2018 plante die Bundesregierung den Bau von vier eigenen Terminals in Wilhelmshaven, Brunsbüttel, Rostock und Stade. Doch die energiewirtschaftlichen Gegebenheiten standen einer Umsetzung der Pläne im Weg.
Das Wilhelmshavener Terminal, über das vor allem amerikanisches LNG importiert werden sollte, wäre nicht rentabel gewesen. Mittlerweile ist beschlossen worden, die eingemotteten Pläne wieder hervorzuholen, wobei neben LNG auch gleich grüner Wasserstoff importiert werden können soll. Doch auch bei diesen „grünen“ Lieferungen ist eine gewisse Skepsis angebracht, da der Transport, die Lagerung und der Weitertransport des Wasserstoffs innerhalb des Landes sowie die hohen Kosten die Umsetzung der ehrgeizigen Pläne erschweren. Es lässt sich daher nicht mit Sicherheit sagen, was die Erweiterung des Lieferantenspektrums Deutschland und die EU kosten wird.
Es ist außerdem fraglich, ob sich der von der EU angestrebte Ausbau der erneuerbaren Energien schnell wird umsetzen lassen. Bei der Energiewende plante vor allem Deutschland eine Übergangsphase, bis der Energiebedarf ganz aus alternativen Quellen gedeckt werden kann. Selbst radikale Umweltschützer gingen davon aus, dass sich der Ausstieg aus dem russischen Gas über mindestens 10 bis 15 Jahre hinziehen würde, statt in einer Hauruck-Aktion vollzogen zu werden. Während der Übergangsphase wollte die Bundesregierung verstärkt Erdgas nutzen und sich dabei in erster Linie auf die zusätzlichen russischen Lieferungen über Nord Stream 2 stützen. Jetzt, nach Beginn des Ukrainekrieges, ist diese Pipeline jedoch für lange Zeit auf Eis gelegt, wenn nicht sogar ganz vom Tisch. Womit lässt sich jetzt das Gas ersetzen, das Deutschland über Nord Stream 2 hätte erreichen sollen?
Katar ist neben den USA der wichtigste Lieferant von verflüssigtem Erdgas auf dem europäischen Markt. Doch auch hier droht eine Sackgasse für die Pläne Europas, sich von Russland zu lösen. 2020 lieferte Katar etwa 27 Milliarden Kubikmeter LNG nach Europa. Zum jetzigen Zeitpunkt hat das Land noch etwa 16 bis 17 Milliarden Kubikmeter übrig, und dieses LNG könnte an die EU und damit auch nach Deutschland geliefert werden. Katar verfügt aber nicht über die hierfür notwendige Tankerflotte. Außerdem würde die Lieferung von über 15 Milliarden Kubikmetern LNG nach Europa selbst im besten Fall mindestens ein halbes Jahr in Anspruch nehmen. Hinzu kommt, dass Europa auf dem Markt jetzt preislich mit Katars traditionell bevorzugten Importpartnern in der Region Asien-Pazifik konkurrieren muss.
Währenddessen erreichen die Weltmarktpreise für Gas und Öl immer wieder neue Rekordhöhen. Anfang März wurden Future-Verträge für Gas mit 3900 US-Dollar gehandelt, ein Barrel Öl kostete über 120 US-Dollar. Der russische Energieminister Alexander Nowak betont, die Abkehr vom russischen Öl könne katastrophale Folgen für den Weltmarkt haben: Der Preis für ein Barrel Öl werde womöglich auf bis zu 300 US-Dollar ansteigen. Dabei übertreibt der russische Minister nur leicht: Die Beratungsfirma Rystad Energy hat einen Bericht vorgelegt, laut dem bei der Ölsorte Brent bis zum Sommer ein Anstieg auf 240 US-Dollar je Barrel zu erwarten ist.
Im Westen macht man sich verständlicherweise Sorgen über mögliche Engpässe aufgrund der Sanktionen gegen Russland und des Embargos der USA gegen russisches Öl und damit zusammenhängende Erzeugnisse. Diese Sorgen sind durchaus begründet. Der erklärte Kurs der EU, auf russische Energieträger verzichten zu wollen, kann zu Versorgungsengpässen für die Verbraucher bei Erdöl und Erdgas und damit auch zu Preisschocks führen. Der starke Anstieg der Preise und die gestiegenen Kosten für die Verbraucher verschlimmern die Energiekrise weiter. Der deutsche Versorger Gasag hat für die nächste Heizsaison bereits eine Preiserhöhung angekündigt: ab Mai 2022 kostet das Gas 26 Prozent mehr.
Die EU hat aufgrund ihrer vielfältigen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zu Russland, die jetzt gekappt sind, viel mehr unter der Situation zu leiden als die USA und Großbritannien. Der Verzicht auf russische Energieträger könnte beispielsweise Deutschland kurzfristig bis zu 3 Prozent seiner jährlichen Wirtschaftsleistung kosten, berechnete das Europäische Netzwerk für wirtschafts- und steuerpolitische Forschung, EconPol Europe.
„Die Kosten eines Stopps der Energieimporte wären erheblich, wenn man bedenkt, dass die Corona-Pandemie etwa 4,5 Prozent an Wirtschaftsleistung gekostet hat“, sagt Andreas Peichl von EconPol Europe. Auch größere wirtschaftliche Einbrüche und Verwerfungen könnten nicht ausgeschlossen werden, so Peichl. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass sich weite Teile der Wirtschaft noch nicht von der Pandemie erholt haben. Karen Pittel, Leiterin des Münchner ifo Zentrums für Energie, Klima und Ressourcen, geht davon aus, dass die Energiepreise für Unternehmen und Verbraucher so stark steigen könnten, dass „gezielte Unterstützungsmaßnahmen für besonders betroffene Industrien und gesellschaftliche Gruppen ergriffen werden“ müssen.
Deutschland warnt am lautesten vor der übereilten Verhängung eines Importembargos für russisches Öl und Gas, durch das es zu einem europaweiten Preisanstieg kommen könnte. Die Vorsicht der Deutschen ist verständlich: das Land bezieht beinahe 50 Prozent seines Gases, 45 Prozent seiner Kohle und 35 Prozent seines Öls aus Russland.
So rief denn auch der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer dazu auf, keinen europäischen Lieferstopp für Gas aus Russland zu verhängen, da ansonsten die Sicherheit und Stabilität des Energiemarktes gefährdet sei. „Blockaden von Gaslieferungen müssen wechselseitig als Druckmittel in diesem aktuellen Konflikt ausgeschlossen werden“, erklärte Kretschmer. „Die Spekulationen über ein Energieembargo sorgen für wilde Preissprünge an den Rohstoffmärkten. Der Preisschock trifft die Verbraucher, aber vor allem gefährdet er auf dramatische Weise Arbeitsplätze und Unternehmen“, so Kretschmer weiter.
Die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer erläutert, dass ein Einfuhrstopp für russisches Gas zu einer Rezession führen könne. „Ohne Gas aus Russland würden wir noch durch den Winter kommen, der mild war und schon fast vorbei ist. Aber im nächsten Winter würde die Versorgung der Industrie nicht mehr vollständig gewährleistet sein“, so Schnitzer. „Die Energiepreise würden weiter steigen, es könnte zu einer Rezession kommen.“
Michael Harms, der Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft, unterstreicht, dass der Ausschuss die von der internationalen Gemeinschaft ergriffenen Maßnahmen als Folge der Invasion der Ukraine durch Russland unterstütze. Er ruft jedoch gleichzeitig die Bundesregierung dazu auf, keinen Lieferstopp für russisches Gas zu verhängen. Eine Sanktionierung wäre eine große Herausforderung für die Energieversorgung Deutschlands, heißt es in einer Erklärung des Ost-Ausschusses, und würde ganze Wirtschaftszweige und die Versorgung der Haushalte stark gefährden.
Den Deutschen ist nicht nur bewusst, dass weder die Haushalte noch die Wirtschaft der meisten europäischen Länder ohne russisches Gas auskommen können, sondern auch, dass Russland schon seit Sowjetzeiten ein verlässlicher Lieferant ist. Ein Partner, der allen Verpflichtungen nachkommt, auch in politisch turbulenten Zeiten. Daran erinnerte kürzlich auch Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck. Auch jetzt noch erreicht das russische Gas die europäischen Verbraucher ohne Unterbrechungen, auch über die Pipeline in der Ukraine, und alle Verträge werden zu 100 Prozent erfüllt.
Moskau erlaubte sich lediglich ein einziges Mal eine emotionale und spontane Reaktion, und zwar als es nach dem Genehmigungsstopp für Nord Stream 2 damit drohte, die Lieferungen über die voll ausgelastete Pipeline Nord Stream 1 auszusetzen. Es besteht jedoch keinerlei Zweifel daran, dass es sich bei solchen Aussagen um leere Drohungen handelt, denn Russland ist nicht weniger daran interessiert, dass seine Energieträger Europa erreichen, als es die Europäer selbst sind.
Es hat sich im Laufe der Zeit so ergeben, dass im Westen niemand an das Thema Energie aus Russland rührte, egal, in welchem Zustand die politischen Beziehungen sich befanden. Ein gutes Beispiel dafür ist der Liefervertrag für sibirisches Gas, den die Sowjetunion und die Bundesrepublik Deutschland 1970 schlossen. Die Unterzeichnung erfolgte nur zwei Jahre nach den berüchtigten Ereignissen des Prager Frühlings 1968 in der Tschechoslowakei. Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert nach diesen Ereignissen, wagt es jedoch niemand zu sagen, ob auch diesmal der gesunde wirtschaftliche Menschenverstand die politischen Emotionen wird übertrumpfen können.