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Die Europäische Union ist einer der größten Stahlproduzenten der Welt und hat ehrgeizige Pläne im Bereich der Dekarbonisierung der Stahlherstellung. Gleichzeitig droht jedoch durch die gestiegenen Ausgaben, die Energiekrise und die harte Konkurrenz eine partielle Deindustrialisierung der EU. Dass die EU die Industrie zu „grünen“ Produktionsmethoden verpflichtet und auf nicht ausgereifte Wasserstofftechnologien setzt, könnte diesen Prozess beschleunigen.
Die europäische Stahlbranche hat in den letzten Jahren aufgrund der steigenden Produktionskosten mit großen Wettbewerbsschwierigkeiten zu kämpfen. Die jüngsten Entwicklungen haben die Lage noch verschärft. Der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise ließen die Energiepreise explodieren – ein schwerer Schlag für die europäische Schwerindustrie, die ohnehin mit sehr geringen Margen arbeitet. Der starke Anstieg der Energieausgaben in den Jahren 2021 und 2022 führte zu einigen Unternehmensstillegungen und gab Anlass zu Befürchtungen, dass sich die Lage der Metall-, Chemie- und Düngerindustrie Europas noch weiter verschlechtern könnte.
Die Bedeutung der Stahlherstellung für die europäische Wirtschaft ist kaum zu überschätzen. Laut Angaben von Eurofer (Verband der europäischen Stahlhersteller) wurden in der EU im vergangenen Jahr 136,3 Millionen Tonnen Rohstahl hergestellt, ein Anteil von 7,2 Prozent an der Weltproduktion. 2022 wurden 27 Prozent des europäischen Stahls in Deutschland produziert, 15,8 Prozent in Italien und jeweils neun Prozent in Frankreich und Spanien. Viele Branchen sind abhängig von Stahl. So wurden 37 Prozent des in der EU genutzten Stahls von der Bauwirtschaft verwendet, 17 Prozent in der Fahrzeugproduktion und 15 Prozent für den Maschinenbau.
Die Ausfuhr betrug im selben Zeitraum 16,6 Millionen Tonnen. Die Stahlbranche sorgt für hohe Einnahmen und sichert viele Arbeitsplätze. Die Branche erzielt in der gesamten EU eine Bruttowertschöpfung von etwa 143 Milliarden Euro und hat über 2,5 Millionen Beschäftigte.
Eines der Hauptprobleme der europäischen Stahlhersteller besteht darin, dass die Produktion in der EU schneller sinkt als die Nachfrage. Nach dem Rückgang im Jahr 2022 soll der Stahlverbrauch innerhalb der EU 2023 um 1,7 Prozent zurückgehen. Der Produktionsrückgang jedoch betrug 11-12 Prozent und lag damit deutlich über dem weltweiten Durchschnitt von 4,3 Prozent. Die so entstandene Lücke wird durch billigere Importe mit einem höheren Emissionsausstoß gefüllt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Stabilität und Überlebensfähigkeit des Stahlsektors.
Warum Stahl so wichtig ist
Die Eisen- und Stahlherstellung ist sehr energieintensiv und trägt signifikant zu den weltweiten vom Menschen verursachten CO2 -Emissionen bei, was sie zu einem der Hauptverursacher des Klimawandels macht. Aufgrund der Verwendung großer Mengen fossiler Brennstoffe (in erster Linie Kohle) ist die Branche in der EU für etwa vier Prozent der gesamten vom Menschen verursachten CO2 -Emissionen verantwortlich, weltweit für neun Prozent. Die europäische Stahlproduktion verursacht 22 Prozent der industriellen CO2-Emissionen der EU, und in Deutschland ist thyssenkrupp Steel Europe ganz allein für 2,5 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich!
Im Jahr 2022 führte die EU 28,9 Millionen Tonnen Fertigstahlprodukte ein. Der Hauptlieferant ist einer der emissionsintensivsten Produzenten der Welt. Im Gegensatz zu vor zehn Jahren sind heute die meisten emissionsintensiven Stahlproduzenten unter den zehn größten Importeuren, so auch China, Indien, Südkorea, Russland und die Ukraine. Der Gerechtigkeit halber muss erwähnt werden, dass die Türkei, die bei den Stahllieferungen an die EU knapp vorn liegt, geringere Emissionen verursacht als der Durchschnitt, wobei das Gesamtbild jedoch deprimierend ist. Auf einem freien Markt behaupten sich solche Lieferanten lediglich dank niedrigerer Kosten.
In dieser Situation sehen sich die europäischen Stahlhersteller von zwei Seiten gleichzeitig bedrängt: einerseits wird ihr Produkt von ausländischem Stahl verdrängt, andererseits nimmt die „grüne“ Politik der EU ihnen jede Chance auf Wettbewerbsfähigkeit. Neben steigenden Produktionskosten machen der Stahlbranche in jüngster Zeit auch Herausforderungen im Bereich Stabilität und Umweltschutzauflagen zu schaffen. Europa strebt eine ökologische Wende an und will den Ausstoß von Treibhausgasen verringern. In diesem Zusammenhang hat auch der „grüne Wasserstoff“ große Bedeutung erlangt.
Umweltfreundliche Technologien
Die Stahlherstellung geht normalerweise in zwei Phasen vonstatten: zunächst wird aus Eisenerz Eisen produziert, danach wird das Eisen in Stahl umgewandelt. Bei der Herstellung werden für die Schmelze riesige Mengen Kohlenmonoxid und Strom benötigt, die hauptsächlich aus Kohle gewonnen werden. Einfach erklärt geht es bei der Dekarbonisierung der Stahlherstellung darum, diese Kohle zu ersetzen, beispielsweise durch Methan (dies würde den CO2 -Ausstoß verringern) oder Wasserstoff (dies würde praktisch zu emissionsfreier Produktion führen).
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Diese umweltfreundliche Art der Stahlherstellung ist leider momentan weder gewinnbringend noch wettbewerbsfähig. Und dies ist nicht nur eine Frage der Technologie: wenn thyssenkrupp mit dieser Methode genauso viel Stahl herstellen wollte wie die etwa elf Millionen Tonnen, die jährlich die vier Hochöfen des Duisburger Werkes verlassen, dann bräuchte das Unternehmen dafür grünen Strom in einem Umfang, der dem vierfachen Stromverbrauch Hamburgs entspricht. Dieser Strom müsste eingesetzt werden, um mit Hilfe von Elektrolyse grünen Wasserstoff zu produzieren.
Der Wandel der Stahlindustrie hin zum Wasserstoff ist mit einigen konkreten Problemen behaftet: es fehlt ein klarer gesetzlicher Rahmen, die Infrastruktur ist unzureichend und kohlenstoffarmer Wasserstoff steht nur begrenzt zur Verfügung.
Wasserstoff
Die Pläne der EU und Deutschlands, bei der Stahlherstellung auf Wasserstoff zu setzen, stoßen auf Interesse, doch es gibt auch Bedenken hinsichtlich ihrer möglichen Auswirkungen auf die Produktionskosten. Es liegen außerdem technische Schwierigkeiten vor, die mit der Einbindung des Wasserstoffs in die Produktionsverfahren zu tun haben, sowie Befürchtungen, es könnte nicht ausreichend grüner Wasserstoff zur Verfügung stehen. Modellberechnungen zeigen, dass die Verwendung von Wasserstoff automatisch zu einer Verteuerung des Stahls führt. Eine Tonne Stahl kostet momentan etwa 400 Euro, wobei die Ausgaben für die Kohle etwa 50 Euro betragen. Tauscht man die Kohle gegen Wasserstoff aus, so müssen dafür beim günstigsten Wasserstoffpreis (momentan 3,6 Euro pro kg) etwa 180 Euro aufgewandt werden: die Gesamtkosten für eine Tonne würden sich um ein Drittel erhöhen.
Hierbei sind die Aufwendungen für die Infrastruktur noch nicht mit einberechnet. In dem Gebiet, in dem beispielsweise thyssenkrupp tätig ist, gibt es bislang nur zwei mittelgroße Leitungen, über die Wasserstoff transportiert werden kann. Die längere der beiden ist lediglich 240 km lang. Bianca Wien Prado von thyssenkrupp erläuterte in einem Interview, das Unternehmen sei für die Wasserstofflieferung abhängig von Pipelines. Man habe nicht genug Land, um ausreichend grünen Strom für die geplante Menge grünen Wasserstoffs zu produzieren, weshalb Pipelines ein Schlüsselfaktor für die Dekarbonisierung seien.
Wenn die Wasserstoffproduktion sich komplett auf die unregelmäßig vorhandenen erneuerbaren Energien wie Solar- und Windenergie stützt, werden große Speicherkapazitäten benötigt. Die Lagerung von Wasserstoff in Salzbergwerken ist zwar effektiv, doch die Salzvorkommen sind nicht gleichmäßig auf Europa verteilt und ein Stahlwerk benötigt unter Umständen mehrere solcher Lagerstätten.
So hat Eurofer berechnet, dass bis 2030 zwei Millionen Tonnen grünen Wasserstoffs und 75 TWh grünen Stroms für die Erreichung der Dekarbonisierungsziele benötigt werden. Allein für das Jahr 2030 ergibt das einen Strombedarf von 165 TWh, von denen 93.3 TWh für die Wasserstoffproduktion mittels Elektrolyse benötigt werden. Zum Vergleich: dies entspricht in etwa dem doppelten Stromverbrauch Belgiens im Jahr 2022.
Fachleute gehen davon aus, dass die europäische Stahlindustrie minimal 100 Milliarden Euro investieren muss, um die Herstellung von Stahl aus Eisenerz ökologisch neutral zu gestalten. Bei der harten Konkurrenz auf dem Stahlmarkt würde sich dies stark auf die weltweiten Absatzmöglichkeiten auswirken. Aus diesem Grund erwägt die EU im Rahmen ihrer grünen Politik entsprechende Schutzmaßnahmen. Die daraus resultierende finanzielle Bürde werden die Steuerzahlen tragen müssen.
Welche Auswirkungen hat ein hoher Stahlpreis? Wie wir bereits feststellen konnten, wirkt sich ein hoher Stahlpreis sofort auf einige wichtige Branchen aus: in der Bauwirtschaft führt er zu einem vermehrten Einsatz von Holz, bei der Automobilherstellung kommt dann höchstwahrscheinlich mehr Aluminium zum Einsatz.
Ist eine Teil-Deindustrialisierung unvermeidlich?
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Als größter Stahlproduzent Europas hat Deutschland unter dem heutigen „grünen“ Paradigma am meisten zu leiden. Beim „grünen“ Wasserstoff auf Basis erneuerbarer Energien besteht das Problem darin, dass er beinahe überall günstiger hergestellt werden kann als in Deutschland. In Skandinavien, Nordafrika und in den Golfstaaten können kostengünstigere und effizientere Elektrolyseanlagen gebaut werden, sodass praktisch unendliche Mengen an grünem Wasserstoff hergestellt werden können (natürlich unter der Voraussetzung, dass günstige und skalierbare Technologien vorhanden sind).
So kann in diesen Ländern mehr oder weniger „grünes“ Eisen günstiger hergestellt werden und dann in die EU und nach Deutschland ausgeführt werden. Die Erzeugung von Stahl in Deutschland (der rohstoffnahe Bereich) wäre damit ein Auslaufmodell. Diese Teil-Deindustrialisierung lässt sich nicht aufhalten. Der kundennahe Bereich der Stahlindustrie (Weiterverarbeitung) ist für Deutschland der Schlüssel, wenn es in der Branche vertreten bleiben will und dafür sorgen will, dass Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und das Saarland nicht zu einem Freilichtmuseum der ehemals glorreichen Stahlproduktion werden.