Europa – winterfest, aber noch nicht zukunftstauglich

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Die Lage auf dem EU-Energiemarkt zeigt sich Experten zufolge vor Anbruch des Winters 2023/2024 bisher insgesamt stabil. Negativ wirken sich natürlich die andauernde Krise in der Ukraine und die weiterhin bestehende Abhängigkeit von ausländischen Energielieferanten wie Katar und Russland aus.

Der EU gebührt Respekt, 2022 hat Europa sehr schnell und ziemlich effektiv reagiert. Mit strengen Regulierungsmaßnahmen zur Gasspeicherung und mit der Verringerung der Nachfrage nach Gas durch ein Herunterfahren der Industrieproduktion in den wichtigsten Volkswirtschaften konnte die EU sehr hohe Gasvorräte sicherstellen, die sich 100 % nähern. Die gute Nachricht ist, dass sogar die deutsche Regulierungsbehörde, die Bundesnetzagentur (BNetzA), davon ausgeht, dass sich die Winterzeit mit hoher Wahrscheinlichkeit problemlos gestalten wird. Aber warum zeigen sich Politiker und Experten dann vorsichtig und rufen dazu auf, weiterhin Gas zu sparen?

Prognosen

Ungewissheit und Risiken wird es auch in diesem Winter geben. Die Gasspeicher in Europa sind zu Beginn der Heizsaison zu rekordverdächtigen fast 100 Prozent gefüllt. Doch es gibt keine Garantie dafür, dass die Preise während der gesamten Heizperiode stabil bleiben, besonders dann nicht, wenn der Winter ungewöhnlich kalt wird.

Besondere Aufmerksamkeit wird traditionell den Füllständen der Gasspeicher in Deutschland zuteil, das über die größten Speicherkapazitäten in Europa verfügt und dessen Industrie äußerst sensibel reagiert, wenn es um Gaslieferungen sowohl zur Stromerzeugung als auch zur Nutzung als Rohstoff geht. Anfang November hat die Bundesnetzagentur eine Reihe von Szenarien vorgestellt, von denen die Hälfte davon ausging, dass Deutschland problemlos durch den Winter kommt.

„Zu Beginn der Heizperiode haben wir eine sehr viel bessere Ausgangslage als letztes Jahr. Die Gasspeicher sind sehr gut gefüllt, und Importe und Einsparungen sind stabil“ erklärte Klaus Müller, Chef der Bundesnetzagentur. Eine abschließende Prognose zu geben, dafür sei es jedoch zu früh: „Ein sehr kalter Winter würde den Gasverbrauch signifikant in die Höhe treiben. Wenn die verbliebenen russischen Gaslieferungen nach Südosteuropa eingestellt würden und es zu Defiziten in diesen Ländern käme, müssten sie teilweise von Deutschland aus beliefert werden“.

Die Lage würde sich verschärfen, wenn der Export zu- und der Import abnähme. In diesem Fall würden die Füllstände der Gasspeicher von 90 % auf 17 % fallen, wie eine Simulation zeigt. Die Gasspeicherkapazitäten in Deutschland liegen insgesamt bei 24 Milliarden Kubikmeter Gas. Sollte sich die Situation durch eine hohe nationale Nachfrage, eine höhere Nachfrage in den Nachbarländern und einen Rückgang der Importe ungünstig entwickeln, könnte es im Hinblick auf die Gasversorgung kritisch werden. Denn die Bundesnetzagentur selbst unterstreicht, dass die Gasspeicher am 1. Februar zu mindestens 40 % gefüllt sein müssen, wenn volle Versorgungssicherheit gewährleistet werden soll. Dieser Füllstand ist gesetzlich vorgeschrieben.

Politik für Anfänger

Der Russland-Ukraine-Krieg ist nicht der einzige problematische Aspekt, wenn es um Europas Energieversorgung geht. Die Zuspitzung des arabisch-israelischen Konflikts zeigt erneut, wie verwundbar der europäische Erdöl- und Erdgasmarkt geworden ist. Die Ereignisse im Nahen Osten zeigen deutlich, welche Risiken entstehen, wenn die EU von für sie wichtigen Gasförder- und Gaslieferkapazitäten abgeschnitten wird. Im Falle einer Blockade der Straße von Hormus zum Beispiel, oder falls es in Israel und Ägypten zu Schwierigkeiten bei der Gasförderung und -lieferung kommt. In einem solchen Fall ist es durchaus möglich, dass die Gaspreise auf 100 Euro pro MWh oder noch mehr hochschnellen.

Vor diesem Hintergrund erscheint es seltsam, dass die EU ihre Abhängigkeit von autokratischen arabischen Regimes im Gasbereich verstärkt. Algerien zum Beispiel verhehlt seine Sympathien für die Palästinenser nicht und unterstützt deren Kampf gegen Israel. Katar wiederum ist ein Sponsor der Hamas. Dies hält Europa jedoch nicht davon ab, an langfristigen Verträgen für Erdgaslieferungen von Katar nach Italien, Frankreich und in die Niederlande festzuhalten. Auch Deutschland hat seinen 15-Jahres-Vertrag mit Quatar Energy über den Kauf von Flüssigerdgas nicht neu ausgehandelt.

Nur wenige Tage nach dem Überfall der Hamas auf Israel traf sich Bundeskanzler Scholz mit dem Emir von Katar, was einen Sturm der Entrüstung in der deutschen Öffentlichkeit auslöste. Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag kritisierte diese Gespräche. „Wir können nicht am Morgen den Terror der Hamas verurteilen und danach mit dem Hauptsponsor des Terrors zu Mittag essen“ sagte die CDU-Abgeordnete Gitta Connemann der Zeitung „Die Welt“.

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Die FDP-Politikerin und Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im deutschen Bundestag Marie-Agnes Strack-Zimmermann forderte, die Beziehungen zu Katar auf den Prüfstand zu stellen. Ungeachtet dessen sagte Scholz lediglich, Katar spiele eine „wichtige Vermittlerrolle“: „Es wäre unverantwortlich, in dieser dramatischen Lage nicht alle Kontakte zu nutzen, die helfen können. Wir tun dies im Übrigen in enger Abstimmung mit Israel und für diejenigen, die von der Hamas entführt wurden“. Es ist offensichtlich, dass Pragmatismus und Idealismus in der deutschen Außenpolitik bisher getrennte Wege gehen.

Was die Zusammenarbeit mit Russland betrifft, sind die Europäer hingegen bereit, miteinander in Streit zu geraten, was sich am Beispiel des politischen Konfliktes zwischen Österreich und dem EU-Repräsentanten in Österreich Martin Selmayr zeigte, der Wien vorwarf, durch den fortgesetzten Bezug von russischem Gas „Blutgeld“ an Moskau zu zahlen.

Wird Europa weiterhin mit zweierlei Maß messen, wenn sich der Konflikt in Israel zu einem Krieg ausweitet? Und wenn nicht – muss es dann zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren einen Weg für sich aus der energetischen Sackgasse finden?

Rezession

Europa ist gut durch den letzten Winter gekommen dank einer beispiellosen Senkung des Gasverbrauchs sowohl durch die Wirtschaft als auch durch die Privathaushalte – eine Senkung um fast 20%. Dies hat jedoch eine Rezession in einigen der wichtigsten Volkswirtschaften der EU ausgelöst.

Insgesamt ist der Primärenergieverbrauch der deutschen Industrie 2022 sofort um 9,1 % gefallen, auf 3562 Petajoule (ca. 1045 TWh). Dies wird in erster Linie mit den hohen Gas- und Strompreisen in Verbindung gebracht. Das Statistische Bundesamt meldete, dass die Produktion in vielen Industriebetrieben stillstand. So fiel die Produktion in energieintensiven Branchen 2022 um 7,1 % geringer aus als im Vorjahr. Es sei gelungen, entscheidende Einsparungen beim Erdgas vorzunehmen, der Verbrauch sank um 17 %. Nichtsdestoweniger blieb Erdgas der meistgenutzte Energieträger der deutschen Industrie (28 %). Es folgen Strom (21 %), Öl und Ölprodukte (18 %) und Kohle (15 %). Die meiste Energie verbrauchte 2022 die chemische Industrie (28 %).

Die Europäische Union kann ungeachtet aller Anstrengungen keinen vollwertigen Ersatz für das billige russische Pipeline-Gas finden. Dies fügt der Wirtschaft der EU enormen Schaden zu, und Experten schließen unumkehrbare Folgen für die Zukunft nicht aus.

Zwar fürchtet die EU Pipeline-Lieferungen aus Russland wie die Pest, doch ist es nur der früheren Zusammenarbeit auf der Grundlage von Langzeitverträgen und der zuverlässigen Gasversorgung aus Russland zu verdanken, dass die europäische Wirtschaft blühte und ihre Vormachtstellung in der Welt festigen konnte. Der Verzicht auf russisches Gas erhöht die Risiken für die europäische Wirtschaft, schwächt sie und mindert ihre Wettbewerbsfähigkeit. Für die Volkswirtschaften Ost- und Mitteleuropas wäre dies das Todesurteil.

Zerstörung der Nachfrage

Nach den Prognosen der Meteorologen wird der kommende Winter recht warm sein. Wenn er allerdings zu warm wird, birgt das eine bedeutende Gefahr für den Markt. Ein kleiner Flüssiggas-Überschuss auf dem Weltmarkt im Herbst, der von europäischen Abnehmern aktiv absorbiert wurde, führte dazu, dass sich der Beginn der Gasentnahme aus den Speichern verzögerte. Gleichzeitig steigt der für das Ende der Heizsaison Ende März prognostizierte Füllstand der Speicher, was wiederum die Nachfrage nach Terminkontrakten für die Gaseinspeisung in die Speicher im Sommer 2024 sinken lässt. Wenn zu viel Gas übrigbleibt, führt dies zu einem Preisverfall und zu einer Desynchronisierung, wodurch der Markt durchaus in eine Schieflage geraten kann. Wir könnten dann nicht nur Speicherfüllstände sehen, die über der saisonalen Norm lägen, sondern etwas Unglaubliches, das die Nachfrage nach Erdgas im Sommer 2024 vollkommen zerstören würde.

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Eine Analyse aller negativen Effekte, die die europäischen Volkswirtschaften sowohl bei Gasknappheit als auch bei umfangreichen Gasvorräten erwarten, beweist nur, dass jede Art von extremer Unbeständigkeit nachteilig ist. Das einzige Heilmittel sind stabile, zuverlässige und langfristige Gaslieferungen auf den europäischen Markt, die sich auf Langzeitverträge gründen. Und dies nicht nur zwischen Importeuren und Lieferanten, sondern auch zwischen Versorgungsunternehmen und Endverbrauchern. In Expertenkreisen ist man sich einig: Das Unterpfand für die Entwicklung der Industrie in Europa ist eine zuverlässige Energieversorgung zu berechenbaren Preisen.