Ein Problem in den Beziehungen zwischen Russland und der EU bei den Lieferungen von Energieträgern ist das Fehlen eines klaren Formats und Regulierungsrahmens für die Zusammenarbeit. In Russland steigt die „Ermüdung“ hinsichtlich der Notwendigkeit, auf dem europäischen Markt in der derzeitigen Form, die nicht nur mit einer politisch ungünstigen Situation, sondern auch mit schwer kalkulierbaren Risiken durch übermäßige administrative Belastung seitens der europäischen Regulierungsbehörden im Zusammenhang steht, vertreten zu sein.
Die Diskussion um das Pipelineprojekt Nord Stream 2 war in dieser Hinsicht beispielhaft: Es wurde deutlich, dass eine erhebliche Zahl von EU-Mitgliedsstaaten, insbesondere der „jungen“, die führende Rolle Deutschlands in der EU vollkommen akzeptiert, aber nur, solange Deutschland stets und in zunehmendem Maße für diese Rolle bezahlt, dafür aber in keiner Weise wirtschaftliche Dividenden oder gar Vorteile erhält. Die Diskussion ging teilweise sogar so weit, dass Deutschland de facto die Möglichkeit eigener wirtschaftlicher Interessen, und zwar nicht nur zur wirtschaftlichen Expansion, sondern auch zur Gewährleistung eines stabilen Funktionierens der Grundlagen des Sozialsystems, aberkannt wurde.
Bemerkenswert ist, dass nicht nur Länder und Institutionen, die sich außerhalb des EU-Rahmens befinden und eigene wirtschaftliche Ziele verfolgen, die mit denen der EU nicht harmonieren, in Fragen der europäischen Energiesicherheit zu manipulieren versuchen. In Europa findet sich gegenwärtig kaum ein seriöser Politiker oder Ökonom, der ernsthaft von einer Gemeinschaft wirtschaftlicher Interessen Europas und er USA – auch wenn diese sich bislang zumindest nicht diametral entgegenstehen, denn die wechselseitige Abhängigkeit in den Bereichen Technologien, Finanzen und Investitionen ist zu groß – sprechen würde. Die Manipulationsanfälligkeit ist ein wesentliches Merkmal des europäischen Energiemarktes und spielt inzwischen eine Rolle als strategischer Faktor.
Diese Anfälligkeit kann nicht wie in den vergangenen 15 bis 20 Jahren durch einen weiteren Ausbau der administrativen Marktregulierung beseitigt werden. Europa hat die Möglichkeiten administrativer Marktregulierung, auf die nur ein Verlust der Attraktivität im derzeitigen Preisspektrum folgen kann, fast vollständig ausgeschöpft. Natürlich kann der europäische Markt seine Stellung zumindest kraft seiner Zahlungsfähigkeit behaupten. Aber dieser Faktor verliert bereits jetzt seine dominierende Bedeutung. Die Europäer werden nun erhebliche Investitionen in die Infrastruktur tätigen müssen. das macht sich bereits beim Bau neuer Gastransportmagistralen bemerkbar, wo europäische Konsortiums Teilnehmer nicht nur die Funktion von Technik- und Technologielieferanten zukommt, sondern diese auch Investitionspakete schnüren und dabei einen großen Teil der Investitionsrisiken tragen müssen. Mit Gastransportprojekten im Osten („Sila Sibiri“ in Russland, „Östlicher Korridor“ im Iran, Transafghanische Gaspipeline) wird sich die Situation noch verschärfen.
Die wichtigste Frage ist, inwiefern es den Europäern gelingt, sowohl auf gesamteuropäischer als auch nationaler Ebene die Entwicklung ihres Energiemarkts jenseits administrativer Mechanismen, deren Effektivität zweifelhaft und politische Risiken offensichtlich sind, zu lenken.
Die Steuerung des Energiemarktes wird zum zentralen Bestandteil der Steuerung des Wirtschaftswachstums, insbesondere unter den Bedingungen eines sich zuspitzenden Kampfes um Märkte und dem Abrücken der USA von bereits erzielten Vereinbarungen zum Freihandel. Auch wenn es der EU gelingt, die Grundlagen der administrativen Binnenmarktregulierung zu erhalten, wogegen die USA entschieden kämpfen, wird die Konkurrenzfähigkeit im globalen Maßstab leidglich auf dem Niveau reiner Produktionsrentabilität zu gewährleisten sein und nicht über institutionelle Arbitrage.
Um global führende Wirtschaftskraft zu bleiben, muss Europa, wenn es sich von der Notwendigkeit tiefgreifender politischer Entscheidungen trennt, zumindest auf der Ebene einiger Länder zum Teil eines Liefersystems klassischer Kohlenwasserstoffe im Rahmen für die nationalen Regierungen und Großunternehmen transparenter Lieferschemata für Energieträger und deren Bezahlung werden.
Notwendig ist ein russisch-europäisches Konzept im Bereich Erdöl und für Kohlenwasserstoffe insgesamt, das technologisch und steuerungstechnisch auch Absatz und Logistik mit einbinden kann. Ein solches Unternehmen könnte sich russischerseits auf die Rohstoffquellen und die Expertise bei der Umsetzung großer Logistik- und Technologieprojekte sowie Investitionen, auch anonymisiert als Offshore-Erlöse über Sonderobligationen und seitens Europas auf die organisatorischen Möglichkeiten sowie Verarbeitungstechnologien aufstützen. Sollten sich Aussichten auf die Gründung eines solchen Unternehmens ergeben, kann Russland durchaus ein beachtliches Investitionspaket schnüren, sofern dieses in Abhängigkeit von Stellung und Möglichkeiten der europäischen Partner mit 15 bis 17 Mrd. US-Dollar gegründet wird.
Bereiche gemeinsamer Verantwortung und Entwicklungen böten sich die Umwelttechnologien und die Technologien für den Abbau nach der Schiefergewinnung und Kohlenwasserstoffverarbeitung an, was jedoch erst nach dem Jahr 2030 relevant wird und für deren unabhängige Ausarbeitung weder Europa noch Russland die notwendigen Mittel zur Verfügung stehen. Doch genau sie werden bereits für den Zeitraum 2030 bis 2060 zum bestimmenden Faktor für die Konkurrenzfähigkeit Europas im Energiesektor und das Vermögen wirtschaftlich global eine Rolle auf Augenhöhe mit den USA, Indien, China und eines möglichen Bündnisses der ostasiatischen Länder zu spielen.
Europa könnte (sowohl auf der Ebene der nationalen Regierungen und großer Unternehmen als auch?) als Initiator eines solchen Projekts fungieren, wenn es dieses unter anderem auch als Instrument zur Marktregulierung behandelt. Andernfalls ließen sich die Entwicklungstendenzen der russischen Kohlenwasserstoffindustrie klar vorhersagen: Es käme zu einer Umorientierung der Exportlieferungen bei nicht verarbeiteten Kohlenwasserstoffen in östlicher (auf die Koreanische Halbinsel, nach Japan und China) sowie südöstlicher Richtung. Darüber hinaus käme es zu einer forcierten Vertiefung der Verarbeitung und Gasifizierung des Binnenmarkts, was sich direkt aus den für die vierte – und letzte – Amtszeit des russischen Präsidenten Wladimir Putin formulierten und im Mai 2018 verkündeten Prioritäten ergibt. Europa wird bei einem Anhalten der aktuellen Tendenzen sukzessive aus dem Aufmerksamkeitsfokus der russischen Kohlenwasserstoffproduzenten verschwinden. Selbst der Erhalt des derzeitigen Lieferumfangs in Höhe von 1,8 bis 1,9 Barrel täglich ab 2020-22 wird problematisch insbesondere bei Berücksichtigung des steigenden Engagements Russlands beim Spothandel mit Kohlenwasserstoffen, was schon ohne Bindung an Transneft erfolgen kann.
Salz in die Wunde streut noch das Gutachten des juristischen Dienstes des Europäischen Rates hinsichtlich der Änderungen der Europäischen Kommission an der Gasrichtlinie 2009/73/EG. In Moskau versteht man dieses Dokument als nichts geringeres als eine Kriegserklärung: Die Europäische Kommission unternimmt den Versuch, künstliche Widersprüche zwischen den verschiedenen Rechtssystemen zu konstruieren und das Projekt Nord Stream 2, mit dem in Russland viele Hoffnungen verknüpft werden, zu blockieren. Es muss allerdings eingeräumt werden, dass Brüssel im Ergebnis einer solchen Initiative generell das Zustandekommen entsprechender Abkommen infrage stellen könnte, wodurch sich letztendlich die bereits betriebenen Offshore-Gaspipelines in andere Länder als Verlierer erweisen könnten.
Es liegt auf der Hand, dass eine deutliche Absenkung der russischen Lieferanteile am europäischen Energiehaushalt ein ernst zu nehmendes Risiko für die Energiesicherheit in Europa in sich birgt. Allein die Logik der Schaffung eines internationalen Energiemarktes diktiert den wichtigsten EU-Mitgliedsstaaten und Russland die Notwendigkeit, nach neuen Formen der Zusammenarbeit im Energiebereich für einen Ausweg aus der Krise zu suchen.
Ein Präzedenzfall für die Konzipierung eines umfangreichen Projekts bei Förderung und Handel mit russischen Kohlenwasserstoffen existiert bereits: Total und das trilaterale Zusammenwirken innerhalb der GUS, das sich bei der Umsetzung des Großprojekts „Sabetta“ entwickelte. Es wurde in Zeiten einer deutlichen Verschlechterung der politischen Beziehungen zwischen Russland und Europa und ist durchaus auch aus wirtschaftlicher Sicht beispielhaft.
Nichts hindert andere Länder wie zum Beispiel Deutschland, Österreich und möglicherweise die Schweiz oder Belgien, ein analoges Körperschaftssystem mit nach ihren Interessen zugeschnittenen Regeln für den Kohlenwasserstoffhandel zu schaffen. Ein gemeinschaftliches System ist auch in Pipelinesystemen für den Transport von Kohlenwasserstoffen durchaus denkbar. Und sollte beim Gastransport zunächst noch das Gasprom-Monopol (das für die europäischen Institutionen ein politischer Reizfaktor ist) hinderlich sein, dann kann dieser etwa im Bereich der Erdöllieferungen durchaus auch auf der Grundlage eines unternehmerischen Wettbewerbs erfolgen. Flüssiggas könnte unter anderem über von der Korporation errichtete Objekte der Energiewirtschaft auf die Märkte von Drittstaaten geliefert werden. Dank einer solchen Struktur wäre ohne Probleme eine Liefermengengarantie für den EU-Marktüber 200 000 bis 300 000 Barrel täglich und eine bestimmte Menge Flüssiggas für die europäischen Abnehmer in Spitzenverbrauchsperioden oder insgesamt in andere Regionen gewährleistet werden. Vielleicht könnte es sich für dieses Unternehmen lohnen, sich mit Schiefer-Kohlenwasserstoff-Lagerstätten in Russland zu befassen.
Die europäischen Unternehmen könnten in einem solchen Fall bei der Frage über die Verteilung der Ströme stark bzw. schwach schwefelhaltigen Exporterdöls, worüber in Russland im Moment intensiv diskutiert wird, sich eine Lösung auf Grund der Unwägbarkeiten in Bezug auf Europa als Hauptabnehmer russischer Energieressourcen immer weiter verzögert, mitentscheiden. Bei Gründung einer direkten Unternehmenstochter mit den Europäern als Marktplayer könnten Fragen hinsichtlich der Entwicklung der Exportinfrastruktur wesentlich schneller entschieden werden.
Aus politischer Sicht sollte Europa nicht auf den Zeitpunkt warten, bis die USA beginnen, mit Moskau über die Modalitäten für eine Normalisierung der Beziehungen zu verhandeln und dabei die Möglichkeit, im Namen des gesamten Westens zu sprechen, für sich allein beansprucht. Dies gilt insbesondere bei Berücksichtigung der Tatsache, dass Washington und Moskau als Verhandlungsmasse für einen Kompromiss eine Beteiligung amerikanischen Kapitals bei der Erschließung russischer Rohstoff- und vor allem Energieressourcen ins Spiel bringen. Das könnten zur Folge haben, dass europäische Unternehmen aus dem „inneren Kreis“ für die Beteiligung an Kohlenwasserstoffprojekten ausgeschlossen bleibt und sich insbesondere als nördlicher Partner mit dem Zugang zu alten und fast vollständig ausgebeuteten begnügen soll
Ein russisch-europäisches Gemeinschaftsenergieunternehmen, für das ein vor äußeren Sanktionen geschütztes Rechnungs- und Investitionssystem installiert wird, wäre genau auf die Aufgabe der Erhaltung einer nachhaltigen Energiesicherheit in Europa und mittelfristig gute Beziehungen mit Russland selbst zugeschnitten. Ein solches Unternehmen könnte im Rahmen der geltenden europäischen Gesetze ohne grundlegende, politisch motivierte Präferenzen agieren, jedoch mittels einer Kontrolle über 12 bis 15 Prozent des europäischen Marktes den Interessen breiter Schichten der europäischen Elite entsprechen und ein Monopol transnationaler Giganten verhindern könnte. Es könnte darüber hinaus auch auf ausländischen Märkten vertreten sein, zu denen sich weder Russland in Gestalt seiner Energieunternehmen noch die europäischen Marktteilnehmer allein Zugang verschaffen können und Bedingungen diktiert bekämen, die sie unweigerlich ihrer Konkurrenzfähigkeit berauben würden.
Das wäre ein Beispiel für eine Marktlenkung mittels Marktpräsenzmechanismen.
Ein neues russisch-europäische Modell langfristiger Zusammenarbeit kann am ehesten aus diesem Erkennen der Gemeinsamkeiten an pragmatischen Interessen in praktischen Fragen und weniger aus politischen Diskussionen, die nicht nur wenig konstruktiv, sondern sogar gefährlich sind, entstehen. Der strategische Ansatz zur Belebung der Zusammenarbeit muss auf dem derzeit niedrigen Stand in der Zusammenarbeit auf der Ebene der Körperschaftssubjekte, die unter anderem auch im Hinblick auf Investitionen unter dem Schutz des Staates stehen, bestehen.
Früher waren die Möglichkeiten wirtschaftlicher Zusammenarbeit im Energiesektor durch die Möglichkeit politischer Manipulationen, unter anderem auch durch europäische Institutionen, sowie den Druck russischer Oligarchen im Energiesektor eingeschränkt. Inzwischen sind die politischen Handlungsspielräume der russischen Regierung so groß, dass diese Gefahr kaum noch relevant ist. Das neue System der energiewirtschaftlichen Zusammenarbeit kann im Rahmen eines großen Wirtschaftspakets zur Erneuerung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und der EU geschaffen werden Sowohl Russland als auch der Westen mussten sich in während der vergangenen fünf Jahre von fehlenden politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten für eine monopolisierte Marktlenkung überzeugen, und dadurch werden hervorragende Voraussetzungen für einen Kompromiss geschaffen.