Die Spotpreise für Gas erreichten in Europa am 21. Dezember 2021 einen historischen Höchststand: erstmals wurde der Preis von 2000 US-Dollar für 1000 Kubikmeter Gas überschritten. Gegen Ende Januar 2022 hatte sich der Preis dann auf die Hälfte herunterkorrigiert, doch die Lage auf dem europäischen Gasmarkt ist nach wie vor angespannt.
„Laut den langfristigen Vorhersagen dürften die Temperaturen im Nordwesten Europas unter den Durchschnittswerten bleiben. Die jüngsten Daten zeigen, dass momentan wie im Winter üblich die Erdgasvorräte in den Speichern abnehmen. Wenn dieser Winter außergewöhnlich kalt wird, könnte die Situation in der EU kritische Ausmaße annehmen“, so Emily McClain, Erdgasspezialistin bei der norwegischen Beratungsfirma Rystad Energy.
Doch selbst unter den jetzigen relativ milden Wetterbedingungen leeren sich die unterirdischen Speicher in der EU: in den ersten 25 Januartagen lag die durchschnittliche Entnahmemenge um 28 Prozent höher als der Mittelwert aus den letzten fünf Jahren. Die jetzige Füllmenge passt eher zum Frühlingsbeginn als zur Mitte des Winters. Daher sind die Speicher zurzeit so leer wie seit zehn Jahren nicht mehr, während der Winter nach wie vor im Lande ist und keiner zu sagen wagt, ob es noch genug Erdgas für die europäischen Verbraucher gibt.
Experten gehen davon aus, dass der starke Anstieg der Gaspreise unter anderem mit der Abhängigkeit der europäischen Wirtschaft von den Witterungsbedingungen sowie mit einer verstärkten Konkurrenz seitens anderer Gasverbraucher weltweit zusammenhängt. Die heutigen Turbulenzen auf dem Gasmarkt hat sich die EU jedoch größtenteils selbst zuzuschreiben. Das von den Europäern in den vergangenen 15 Jahren entwickelte Preismodell sorgt dafür, dass bei geringer Nachfrage, wie beispielsweise letztes Jahr aufgrund der Coronapandemie, die Preise niedrig bleiben. Wenn jedoch die Nachfrage sprunghaft ansteigt, tun das auch die Preise.
Die Ereignisse dieses Winters auf dem Gasmarkt legen nahe, dass bei der europäischen Energiepolitik Fehler gemacht wurden, deren Folgen die EU jetzt selbst zu tragen hat.
Im Hinblick auf das Ziel der Energieversorgungssicherheit haben sich die Europäer auf die Suche nach alternativen Lieferanten aus Drittländern und auf die Diversifizierung konzentriert. Das 2009 in Kraft getretene Dritte Energiepaket hat die Liberalisierung des Erdgas- und Strommarktes zum Ziel und soll das Monopol des russischen Gasriesen Gazprom auf dem EU-Binnenmarkt abschwächen. In den 2000er Jahren wollte Gazprom auf dem europäischen Markt vertikal integrierte Lieferketten einrichten. Die EU-Politik hinsichtlich der Entflechtung verschiedener Geschäftsbereiche machte dem Unternehmen hierbei jedoch einen Strich durch die Rechnung.
Für den Fachmann liegen genau hier die Ursprünge der jetzigen Energiekrise in der EU: Gazprom darf nur noch 50 Prozent seiner Pipelinekapazität nutzen, während die restliche Hälfte unabhängigen Lieferanten vorbehalten bleibt. Allerdings haben sich keine unabhängigen Lieferanten eingestellt, die die Hälfte der Pipeline hätten füllen können. Dies ist die Ursache für das fehlende Gas in den europäischen Speichern.
Die EU setzt außerdem auf eine Diversifizierung der Energiequellen, unter anderem durch die verstärkte Nutzung von LNG. Doch auch diese Strategie ist bislang noch nicht aufgegangen. Für die Erzeuger von LNG ist der asiatische Markt traditionell der attraktivere, denn dort werden höhere Preise gezahlt als in Europa. Daher sind sie normalerweise auf Asien ausgerichtet und nutzen den europäischen Markt nur als Lückenbüßer. In der Vergangenheit verkauften sie in Europa die Restmengen, die in Asien keinen Abnehmer gefunden hatten. Der Anstieg der Nachfrage aus Asien im Jahr 2021 und die schnelle Erholung der asiatischen Volkswirtschaften nach der Coronapandemie haben jedoch zu einer Unterversorgung Asiens geführt, wodurch die freien Liefermengen dorthin umgelenkt wurden.
Der estnische Wirtschaftsexperte Raivo Vare ist der Ansicht, dass der Import von LNG in die EU keineswegs eine auch nur teilweise Abkehr vom russischen Gas wird ausgleichen können. „LNG kann nur begrenzt Erdgaslieferungen über Pipelines ersetzen, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: es gibt dabei rein technische Einschränkungen. Kürzlich änderten allerdings 22 LNG-Tanker, die nach Asien unterwegs waren, ihren Kurs Richtung EU – mit anderen Worten, die EU zahlt jetzt mehr als Asien“, so der renommierte Experte.
Der jüngste Versuch, Druck auf Gazprom auszuüben, betrifft die langfristigen Lieferverträge des Unternehmens. Gazprom hat immer auf langfristigen Verträgen bestanden, da so die Liefermenge garantiert werden kann. Ganz im Gegensatz dazu setzt die EU jedoch auf den freien Markt und geht davon aus, dass der Ankauf zum Spotpreis günstiger ist.
Aus diesem Grund stieg der Anteil der Verträge mit Gazprom, die ein Spotpreis-Element enthalten, von 10-15 Prozent im Jahr 2010 auf nahezu 90 Prozent Ende 2020. Hinzu kommt, dass langfristige Erdgaslieferverträge ab 2049 in der EU nicht mehr erlaubt sein werden, da man damit rechnet, sich bis dahin aus der Abhängigkeit vom Gas, insbesondere vom russischen, gelöst zu haben und auf alternative Energiequellen zurückgreifen zu können.
Die EU hat jedoch die Schwankungen auf dem Markt unterschätzt. Der Spotmarkt bedient die kurzfristige Nachfrage, ohne Berücksichtigung dessen, was sich mittel- und langfristig auf dem Markt ereignen wird. So ging das LNG auf dem Spotmarkt, mit dem die EU im Sommer 2021 ihre Speicher auffüllen wollte, an andere Märkte, wo höhere Preise gezahlt wurden. In der EU entstand ein Defizit, und auf ein solches folgt unweigerlich ein Anstieg der Gaspreise.
Laut Analysten haben jedoch auch noch andere Faktoren zu den rekordhohen Gaspreisen beigetragen. Einer davon ist die Gefahr eines ähnlich harten Winters wie im letzten Jahr und das Risiko, dass dann das Gas zur Neige geht. Dass der Gaspreis nicht sinkt, hängt damit zusammen, dass die Future-Preise mit Lieferung im ersten Quartal 2022 auf dieses Risiko reagieren und entsprechend ansteigen. So funktioniert nun einmal der Markt, auf dem die EU gegenüber Gazprom beharrt. Hierbei ist zu beachten, dass sich die hohen Preise für Erdgas voraussichtlich dieses Jahr bis in den Sommer hinein halten werden, warnt Bloomberg.
Darüber hinaus gibt es auf dem Spotmarkt einige verborgene Risiken. Seine Befürworter argumentieren zwar, er trüge zur Verbilligung von Energieträgern bei, doch sind die Preise der Monopolisten bei umfassenden Großhandelsverträgen häufig deutlich niedriger als der Spotpreis an den Gashubs. Außerdem garantiert der Einkauf auf der „Gasbörse“ keine stabilen Lieferungen. Hinzu kommt, dass auf dem Spotmarkt unter Umständen gar kein Erdgas verfügbar ist, während die Monopolisten üblicherweise die Liefermenge garantieren.
Bei der Analyse dieser Fakten drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass die Politik der EU, zugunsten der Spotmärkte auf langfristige Lieferverträge zu verzichten, bedauerlicherweise eine der wichtigsten Ursachen für den Preisanstieg beim Erdgas ist.
Einen Ausweg aus der jetzigen Situation könnte eine exakte Vorhersage der Energiebilanz der EU bieten, auf deren Grundlage man den Bedarf und die Lieferungen mittel- und langfristig planen könnte. Bei einem jährlichen Importbedarf von 250-300 Milliarden Kubikmetern Erdgas sollte die EU im Voraus wissen, woher diese Volumina kommen sollen. Spot-Verträge und den Kauf von LNG wird es weiterhin geben, doch nach den Lehren der letzten Monate sollte der Anteil der langfristigen Verträge am Gasmarkt der EU gesteigert werden.
Man darf auch nicht außer Acht lassen, dass Gazprom für einen Anstieg der Gaslieferungen, wie er diesen Winter in der EU diskutiert wird, genau diese berühmt-berüchtigten langfristigen Verträge mit den damit einhergehenden Investitionen benötigt. Wenn man Gazprom Glauben schenken darf, sind die Russen bereit, der EU im Rahmen langfristiger Verträge zusätzliches Gas zur Verfügung zu stellen, und zwar zu einem günstigeren Preis als am Spotmarkt.
Die Forderungen der Mitgliedstaaten nach einer Erhöhung der Liefermenge könnten allerdings der Politik Brüssels zuwiderlaufen. Das Dritte Energiepaket, das auf eine Beschränkung des Gazprom-Monopols abzielt, stärkt gleichzeitig auch den allgemeinen Trend weg von den fossilen Brennstoffen und hin zu erneuerbaren Energiequellen.
Dieser allgemeine Trend spiegelt sich in einer ganzen Reihe von Programmen der EU-Kommission wider. Ziel der Energiepolitik der EU ist es, den erneuerbaren Energiequellen bis 2030 einen Anteil von 32 Prozent am Gesamt-Endverbrauch zu verschaffen. Dabei will man sich hauptsächlich auf Wind- und Sonnenenergie stützen.
Die Verzögerungen beim Bau von Windkraftanlangen in Nordeuropa im September 2021 führten allerdings zu einem Preisanstieg beim Strom und waren ein weiterer Faktor für den Anstieg der Erdgaspreise auf dem zu diesem Zeitpunkt bereits defizitären Markt. Es deutet alles darauf hin, dass die Abschaltung von Kohlekraftwerken in einigen EU-Ländern im Zuge der Dekarbonisierung die Stabilität des europäischen Energiesystems verringert hat. Auch der schrittweise Ausstieg aus der Atomenergie hat hierzu beigetragen.
Zusätzlich hat der Preisanstieg beim Erdgas bereits zu einer Verteuerung der CO2-Emissionszertifikate geführt, da die Stromerzeuger gezwungenermaßen auf Kohle zurückgreifen müssen, die zwar billiger ist als Gas, jedoch auch mehr Emissionen verursacht. 2020 stieg der Preis für die Zertifikate um mehr als das 1,5-fache an und erreichte knapp € 80 pro Tonne.
Der beginnende Übergang zu CO2-neutralen Energiequellen wurde so zu einer weiteren Ursache für die Preisanstiege beim Erdgas. Im Ergebnis, so der slowakische Wirtschaftsminister Richard Sulík, hingen die Energiepreise von den Entscheidungen Deutschlands und der EU ab, doch berappen müssten dafür die Bürger.
Es ist offensichtlich, dass die Europäische Kommission aufgrund der Energiekrise ihre Energiepolitik überdenken muss. Die momentane Lage zeigt die Webfehler der EU-Energiepolitik auf, zu denen auch der nicht ausreichend durchdachte Fokus auf die erneuerbaren Energiequellen gehört. In dem Maße, wie ihr Anteil an der Energiegewinnung zunimmt, werden auch die Forderungen nach einem stabilen Energiesystem zunehmen. Die dezentrale Stromerzeugung erfordert gut ausgebaute Netze und große Speicherkapazitäten. Doch sind auch diese Faktoren nicht ausreichend um zu verhindern, dass die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen unerwartet einbricht und durch traditionelle Quellen ersetzt werden muss. Offensichtlich gilt es, Pläne für die Speicherung und für den Abbau der traditionellen Energiegewinnungsverfahren zu entwickeln. „Selbst wenn wir davon ausgehen, dass das Netto-Null-Ziel bis 2050 erreicht wird, wie es die Internationale Energieagentur vorsieht, wird es Mitte des Jahrhunderts trotzdem noch Nachfrage nach Öl und Erdgas geben“, prophezeit Bernard Looney, der Generaldirektor von BP. Fachleute unterstreichen, dass in der jetzigen Phase mehr Erdgas nötig ist, will die europäische Industrie den Übergang zu erneuerbaren Energiequellen ohne große Einbußen meistern. Ohne langfristige Liefervereinbarungen mit Russland, Lieferungen aus den USA und die Nutzung der Kernenergie könnte der Übergang zu nachhaltigen Energiequellen für Wirtschaft und Verbraucher in Europa sehr schmerzhaft werden.