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Die Entwicklung der europäischen Wirtschaft und die Aussicht auf einen langen Krieg in der Ukraine sorgen dafür, dass die Frage der mittelfristigen Instrumente für die europäische Energieversorgungssicherheit ganz oben auf der Tagesordnung steht. Der Grundansatz, in Europa auf russisches Erdgas zu verzichten, hat teilweise funktioniert, sodass die Länder der EU den Winter 2022/23 ohne große wirtschaftliche und soziale Beeinträchtigungen überstanden haben. Dieser Ansatz kann jedoch nicht die Basis für eine langfristige Entwicklung sein. Dies gilt vor allem angesichts möglicher Lieferschwankungen beim LNG aus dem Nahen Osten und den USA sowie der Verschärfung der amerikanischen Sekundärsanktionen, die den Kauf von angeblich nicht-russischem LNG erschweren. Die Abhängigkeit von einem eventuellen türkischen Hub birgt ebenfalls eine Reihe unkontrollierbarer politischer Risiken, die die Mitgliedstaaten der EU gerne begrenzen würden.
Vor dem Hintergrund der jüngst erneut aufgetretenen Preisschwankungen hat die EU sich daher auf die Suche nach alternativen Erdgas-Lieferrouten gemacht.
Eines der Schlüsselprojekte in dieser Hinsicht ist die seit Langem diskutierte Pipeline aus Turkmenistan über den Boden des Kaspischen Meeres. Sie ist seit Mitte der 1990er Jahre im Gespräch und gilt als fester Bestandteil der Politik der EU zur Verringerung der Abhängigkeit von Russland im Energiebereich. Der Plan sieht eine Erdgasleitung zwischen Türkmenbaşy in Turkmenistan und der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku vor, möglicherweise verknüpft mit einer Pipeline aus Kasachstan. Die Transportkapazität der Pipeline sollte 30 Milliarden Kubikmetern Erdgas jährlich betragen. Ende der 1990er Jahre wurden die Baukosten auf 5 Milliarden Dollar veranschlagt, mittlerweile sind sie jedoch ins Unermessliche gestiegen. In Aserbaidschan soll die Leitung mit der Südkaukasus- Pipeline (Baku-Tiflis-Erzurum) verbunden werden. 300 km der Pipeline sollen auf dem Meeresboden verlegt werden.
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Bei diesem Projekt gab es von Anfang an drei Hauptschwierigkeiten: erstens der relativ lange Abschnitt auf dem Grund des Kaspischen Meeres (300 km), der eine Abstimmung mit den anderen Vertretern der „Kaspischen Fünf“ unvermeidlich macht, in erster Linie mit Russland und dem Iran und zumindest über die ökologischen Risiken des Projekts. Zweitens: der geplante Endpunkt der Pipeline in der Türkei (Erzurum), wodurch es sich bei der Pipeline nicht um eine vollwertige Alternative, sondern lediglich um die Ergänzung einer bereits bestehenden Russland-Umgehung handelt. Der aktuell wichtigste Aspekt ist jedoch, dass die Pipeline den ohnehin schon riesigen türkischen Hub stärken würde. Eine vielversprechende Alternativroute für das Erdgas aus Turkmenistan verliefe über die Transanatolische (TANAP) und Transadriatische Pipeline (TAP) nach Italien. Doch auch bei dieser Variante müsste die Türkei als Hub fungieren. Drittens: das Projekt beschränkt sich nicht nur auf den Bau der Unterwasserleitung im Kaspischen Meer. Zusätzlich müssen beträchtliche Mittel in die sonstige Infrastruktur des gesamten Südlichen Gaskorridors investiert werden, der momentan lediglich den Transit des aserbaidschanischen Gases bewältigen kann.
Die Hauptschwierigkeit dieses Projektes liegt jedoch darin, dass es nur bei einer relativ stabilen Weltlage umsetzbar ist, bei der es keine geopolitischen Machtspiele auf dem Energiemarkt und gerade auch dem Erdgasmarkt gibt, wie sie durch die Sabotage und Stilllegung von NordStream 2 ausgelöst wurden. Eine wichtige Voraussetzung ist auch, dass sich die großen geopolitischen Akteure der Region dem Projekt gegenüber neutral verhalten und so die turkmenische Neutralität erst ermöglichen.
Im Vergleich zum ursprünglichen Planungszeitpunkt hat sich die Situation jedoch grundlegend verändert. Und zwar nicht nur aufgrund der zugenommenen Spannungen in der internationalen Arena, sondern auch, weil sich in Zentralasien ein komplizierter geopolitischer Reigen entfaltet, der nicht so bald beendet sein wird. Moskau, Peking und Teheran, die de facto den neutralen Status Turkmenistans und seine Rolle als wichtiger internationaler Gaslieferant garantieren, werden wohl kaum zulassen, dass das Land einseitig Entscheidungen über ein relativ großes Erdgas-Infrastrukturprojekt trifft.
Außerdem darf durchaus daran gezweifelt werden, dass Turkmenistan tatsächlich 30 Milliarden Kubikmeter Erdgas jährlich nach Europa liefern kann. Dieses Volumen ist jedoch eine wichtige Voraussetzung für ein Investitionsprojekt, das darauf beruht, dass die aufgenommenen Darlehen mit Hilfe der durch den Gasverkauf erzielten Gewinne getilgt werden können. Um die Transkaspische Pipeline in vollem Umfang bauen zu können, muss Turkmenistan die Erdgasförderung signifikant erhöhen – eine Unmöglichkeit ohne umfassende Investitionen aus Drittländern. Eigene Mittel wird das Land wohl kaum dafür aufwenden.
Ausländische Investoren meiden Turkmenistan jedoch aufgrund der fehlenden Rückendeckung seitens ihrer Regierungen, die sich bei ihrer Einschätzung höchstwahrscheinlich nicht nur vom Thema „nachhaltige Entwicklung“ („erneuerbare Energien“) leiten lassen, sondern auch von politischen Faktoren wie den Menschenrechten, dem Verhältnis zum Iran und zu Russland usw. Bürgschaften von Dritten wie beispielsweise Russland sind jedoch für die erfolgreiche Umsetzung des Projektes von ausschlaggebender Bedeutung. Zum jetzigen Zeitpunkt erscheinen sie jedoch unwahrscheinlich.
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Turkmenistan in der zweiten Hälfte der 2010-er Jahre den Ausbau der Exportkorridore als Einsatz für ein komplexes diplomatisches und wirtschaftliches Spiel genutzt hat, bei dem es darum ging, seine Abhängigkeit von China (und seinen Krediten) zu verringern. Dieses Spiel ist jedoch jetzt nicht mehr an der Tagesordnung und könnte auch nicht ohne große politische Risiken fortgeführt werden. Da sich die „Politik des auf Abstand Haltens“ kaum schnell komplett rückgängig machen lässt, haben wir es jetzt mit ihren Überbleibseln zu tun.
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Es gibt jedoch noch einen weiteren Faktor, der bei der Analyse der Lage rund um die Transkaspische Pipeline gern vernachlässigt wird. Die amerikanischen Öl- und Gasunternehmen streben eine monopolartige Position auf dem europäischen Markt an. Bei einer Verschlechterung der politischen und militärischen Beziehungen zu China wird dies für die USA zu einem Schlüsselfaktor. Das Weiße Haus wird wohl kaum an Maßnahmen interessiert sein, die den europäischen Verbrauchern mehr Spielraum verschaffen sollen, gerade auch bei den Gaspreisen. Dies gilt vor allem auch vor dem Hintergrund dessen, dass das Projekt aus ökologischen und investitionstechnischen Gründen umstritten ist.
Man darf auch nicht vergessen, dass die wirtschaftliche Lage die Europäer zwingen wird, bei der Energiewende den Schritt von der politischen Propaganda hin zur praktischen Senkung des Verbrauchs fossiler Brennstoffe zu gehen. Natürlich handelt es sich dabei um einen äußerst schwierigen und langfristigen Prozess, doch schon während seiner Umsetzung wird das turkmenische Gas aufgrund der hohen Transportkosten und der schwierigen Lieferung immer weniger Gewinn abwerfen, wodurch die Transkaspische Pipeline an Attraktivität für Investoren einbüßen wird. Dies wird wiederum die europäischen Investoren abschrecken, die jetzt nicht mehr in sehr langfristige Projekte investieren können.
Es muss daher festgestellt werden, dass die Transkaspische Pipeline momentan für Investoren unattraktiv ist. Das Projekt wird von Turkmenistan genutzt, um zwischen den verschiedenen Spielern auf dem Markt zu lavieren, doch es zielt eher auf chinesische oder sogar russische und zu einem gewissen Grad auch auf iranische Partner ab als auf mögliche europäische Geldgeber. Die Zielsetzung ist hierbei eindeutig: es geht darum, die bestmöglichen Bedingungen für eine Zusammenarbeit herauszuschlagen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist der Ansatz, die EU auf Abstand zu halten, durchaus als Erfolg zu betrachten.