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Seit Kriegsbeginn in der Ukraine 2022 hat die EU systematisch ihre Einfuhren russischer Energieträger, vor allem von Erdgas, reduziert und es sich zum Ziel gesetzt, spätestens 2027 gar kein Erdgas mehr aus Russland zu importieren. Ende Juni 2023 war der Anteil der russischen Erdgasimporte im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2021 von 38,5 auf 12,9 Prozent zurückgegangen.
Um die Lücke zu füllen, setzt die EU auf verstärkte LNG-Einfuhren aus anderen Ländern, vor allem aus den USA. 2022 stieg die aus den USA importierte Gasmenge im Jahresvergleich beinahe um das Zweieinhalbfache an. Ditte Juul Jørgensen, Generaldirektorin der EU-Kommission im Bereich Energie, räumte ein, dass die EU durch die verringerten Einfuhren aus Russland noch zehn Jahre lang vom amerikanischen LNG abhängig sein wird.
Es ist jedoch fraglich, ob die Umorientierung auf das amerikanische Flüssigerdgas tatsächlich alle Probleme der EU wird lösen können. Bereits im Januar 2023 warnte Investigate Europe davor, dass sich durch die Importe aus den USA lediglich die Abhängigkeit der EU von Russland auf die USA verlagern könnte. In ihrem Untersuchungsbericht schreibt die Organisation, dass europäische Firmen in den letzten zehn Jahren mindestens 33 Verträge über LNG-Lieferungen aus den USA unterzeichnet haben, zehn davon im Jahr 2022. Die meisten dieser Verträge haben eine Laufzeit von 20 Jahren.
Den größten Schaden könnte der europäischen Energieversorgungssicherheit jedoch etwas anderes zufügen: die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden vom Januar dieses Jahres, eine Genehmigungspause für LNG-Exportlizenzen zu verhängen. Dadurch ist nach Meinung vieler Experten offenkundig geworden, dass es für die EU unter Umständen sehr riskant sein könnte, sich auf das amerikanische Gas zu verlassen.
Angriff der Umweltschützer
Am 26. Januar setzte die Regierung Biden die Ausstellung neuer Exportgenehmigungen für LNG aus, um zu prüfen, wie sich diese Lieferungen auf den Klimawandel, die Wirtschaft und die nationale Sicherheit auswirken. Das Energieministerium wird sich bei dieser Prüfung auf die Analyse stützen, die seiner Bewertung von Anfragen aus der EU zu höheren Lieferumfängen zugrunde liegt.
Mit einem Ergebnis, das dann öffentlich diskutiert werden kann, ist laut Fachleuten kaum vor Jahresende zu rechnen. Die zuständigen Regierungsvertreter haben keine konkreten Fristen genannt, sondern lediglich angegeben, dass die Prüfung so schnell wie möglich erfolgen und nur ein paar Monate dauern werde. Beobachter gehen davon aus, dass die Entscheidung Bidens mit dem Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen im November dieses Jahres zusammenhängt und dass die Ausstellung neuer Exportgenehmigungen erst nach den Wahlen wieder aufgenommen werden wird.
Die Entscheidung Bidens stieß auf heftige Kritik seitens des amerikanischen Establishments und internationaler Wirtschaftsvertreter. Der Republikaner Mitch McConnell, Minderheitsführer im Senat, erklärte, die Begrenzung der LNG-Ausfuhren bringe die Erreichung eines wichtigen Zieles der USA in Gefahr – Russland seine Rolle als Gaslieferant der Welt streitig zu machen.
Charlie Riedl, Leiter der Händlervereinigung Center for LNG, geht davon aus, dass die Entscheidung des US-Präsidenten auch von geopolitischer Bedeutung sein könnte.
„Wenn die Regierung Biden unnötigerweise die Ausstellung von zusätzlichen Exportgenehmigungen auf Eis legt, lässt das bei unseren Verbündeten zweifellos die Alarmglocken läuten und zwingt sie womöglich, sich an schwarze Schafe wie Russland zu wenden“, so Riedl.
Die US-amerikanische Handelskammer sowie BusinessEurope und die japanische Organisation Keidanren (die Interessenvertretungen der amerikanischen, europäischen bzw. japanischen Wirtschaft) wandten sich mit der Bitte an Joe Biden, seine Entscheidung über die Aussetzung der Lizenzvergabe zu überdenken. In ihrem gemeinsamen Schreiben heißt es, dass aufgrund des vielfach prognostizierten Anstiegs der weltweiten Nachfrage nach Erdgas in diesem und im nächsten Jahrzehnt zusätzliche Lieferungen aus den USA notwendig seien. Diese Nachfrage könne befriedigt werden, ohne dabei die Erreichung der Emissionsreduktionsziele in Gefahr zu bringen.
Auch der amerikanische Senat verurteilte die Entscheidung der Regierung und erklärte, der Genehmigungsstop laufe den Versprechungen der USA nach Beginn des Ukrainekrieges zuwider, den Europäern bei der Verdrängung des russischen Erdgases vom Markt zu helfen. Die deutlichsten Worte fand Joe Manchin, Senator für West Virginia. „Wenn der Regierung Beweise dafür vorliegen, dass zusätzliche LNG-Exporte den Amerikanern schaden würden, muss sie diese Informationen in aller Deutlichkeit veröffentlichen. Aber wenn diese Pause nur ein neuer politischer Trick ist, um den Klimaaktivisten auf Kosten der amerikanischen Arbeitnehmer und Unternehmen sowie unserer Bündnispartner Honig ums Maul zu schmieren, werde ich alles in meiner Macht stehende tun, um sie sofort zu beenden“, so Manchin.
Wie aus einem Partner ein unzuverlässiger Lieferanten werden kann
Man darf nicht vergessen, dass das Thema amerikanische Gaslieferungen in der EU schon häufiger kritisiert worden ist. Die EU konnte laut Aussage von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Verlust der russischen Gasimporte ausgleichen, musste dafür jedoch höhere Preise in Kauf nehmen, worunter die Wettbewerbsfähigkeit vieler europäischer Wirtschaftsbereiche, in erster Linie der energieintensiven, litt. Der französische Finanzminister Bruno Le Maire beschuldigte Washington ganz offen des Versuchs, an seinen Partnern verdienen zu wollen, und erklärte, die Amerikaner verkauften den Europäern ihr LNG „zum Vierfachen dessen, was sie von ihren Landsleuten verlangen.“
Selbst wenn die hohen Gaspreise kein Hindernis für die Exporte nach Europa waren, so könnte doch die Energiepolitik Washingtons, die sich unter dem Druck der Klimalobby wandelt, die Verlässlichkeit dieser Lieferungen beeinträchtigen. Ira Joseph, Forscher am Center on Global Energy Policy der Columbia University, ist der Ansicht, dass die Risiken, die die Abhängigkeit Europas vom amerikanischen LNG mit sich bringt, nur noch zunehmen werden. „Diese Entscheidung wird mit jedem Tag riskanter, wobei das Risiko darin besteht, dass es in Zukunft in den USA umfassende politische Veränderungen geben könnte“, so Joseph.
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Der Rückgang der Gaslieferungen aus Russland im Jahr 2022 führte zu einem steilen Anstieg der Strompreise in Europa, zum Schaden der Wirtschaft und der Verbraucher. Damals schienen die LNG-Tanker aus den USA die einzige Möglichkeit zu sein, die erwarteten katastrophalen Folgen abzumildern. Doch heute, wo sich die EU nicht mehr hundertprozentig auf ihre amerikanischen Partner verlassen kann, werden die Liefereinschränkungen seitens der USA zu einem „riesigen Problem“, so Fredrik Persson, Vorsitzender von BusinessEurope, des größten europäischen Unternehmerverbandes.
Die Regierung Biden ruft die Empfängerländer des amerikanischen LNG dazu auf, Ruhe zu bewahren. Die Genehmigungspause wirke sich nicht auf die mit den Partnern in Europa, Asien und anderen Ländern vertraglich vereinbarten LNG-Lieferungen aus, heißt es in einer Erklärung des amerikanischen Energieministeriums.
Anne-Sophie Corbeau, Forscherin am Center on Global Energy Policy der Columbia University, rief in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters ebenfalls dazu auf, die Situation nicht zu dramatisieren. „In der EU wird der Gasverbrauch sinken, der Trend geht nach unten. Mit Biomethan, norwegischem Gas, Gas aus Afrika und Aserbaidschan und zurückgehender Produktion kann es durchaus sein, dass wir beim Flüssigerdgas längerfristig einen anhaltenden Rückgang der Nachfrage erleben werden, vor allem nach 2030, also genau in dem Zeitraum, auf den sich die Entscheidung Bidens auswirken würde“, so Corbeau.
Sofern alle genehmigten Projekte tatsächlich gebaut werden, wird sich die LNG-Kapazität beinahe verdoppeln, und zwar auf etwa 24,5 Milliarden Kubikfuß pro Tag bis Ende 2028, hebt Reuters hervor. Längerfristig rechnet man mit einem Rückgang der Nachfrage aus Europa, wenn die EU sich zur Erreichung der Klimaziele von fossilen Brennstoffen abwendet. Damit bräuchte die EU das zusätzliche LNG aus Amerika unter Umständen gar nicht mehr. Der starke Nachfragezuwachs in anderen Regionen der Welt wird jedoch voraussichtlich dafür sorgen, dass das LNG weiterhin seine Absatzmärkte findet.
Trotzdem wird von Fachleuten angemerkt, dass nicht einmal die vorbildliche Erfüllung aller bereits abgeschlossenen Verträge darüber hinwegtäuschen kann, dass sich die Europäer bereits in den nächsten Jahren nicht mehr ganz auf die amerikanischen Lieferungen werden verlassen können. „Das zeigt den Europäern, dass ihnen die Alternativen ausgehen“, so Henning Gloystein, Direktor für Energie und Klimawandel bei der Eurasia Group, einem auf politische Risiken spezialisierten Beratungsunternehmen.
Probleme mit Venture Global
Dass die Zusammenarbeit mit den USA im Gasbereich für die EU ernstzunehmende Risiken birgt, zeigt auch der Fall der amerikanischen Firma Venture Global LNG. Das Unternehmen zögert die offizielle Inbetriebnahme der LNG-Anlage Calcasieu Pass in Louisiana schon seit längerer Zeit hinaus. Trotzdem hat es seit Februar 2022 laut Reuters bereits mehr als 200 Ladungen LNG im Gesamtwert von etwa 18,2 Milliarden US-Dollar auf dem Spotmarkt verkauft. Laut Shell und anderen Firmen, die mit Venture Verträge abgeschlossen haben, aber bislang keine Lieferungen erhalten haben, hat die Firma diese „illegalen“ Gewinne dem Preisanstieg auf den internationalen Gasmärkten zu verdanken, wobei sie gleichzeitig die Energieversorgungssicherheit Europas zunichte gemacht habe. Es geht darum, dass die Anlage auch ohne offizielle Inbetriebnahme bereits LNG produziert.
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Im jüngsten Bericht des Institute for Energy Economics and Financial Analysis (IEEFA) heißt es, dass es gerade die Verzögerung der offiziellen Inbetriebnahme der Anlage gewesen sei, die es Venture Global ermöglicht habe, LNG auf dem Spotmarkt zu verkaufen, wo die Preise signifikant höher liegen. Die Verträge sehen vor, dass das in der Anlage produzierte Gas bis zur offiziellen Inbetriebnahme auf dem Spotmarkt verkauft wird, während die langfristigen Lieferverträge erst ab diesem Zeitpunkt bedient werden.
Eine Reihe von europäischen Unternehmen hat sich mit der Bitte um Vermittlung an die amerikanische Regulierungsbehörde FERC gewandt und außerdem auch ein Schiedsgericht angerufen. In einem Bericht von JP Morgan heißt es, dass eine Niederlage von Venture Global bei einem Schiedsverfahren nur schwer vorstellbar sei, da die Verträge anfänglich keine Absicherung der Käufer gegen das Risiko einer verzögerten Inbetriebnahme vorsahen.
Im offiziellen Schreiben von BP heißt es, Venture Global habe einen Mantel des Schweigens über seine Tätigkeiten gebreitet und sich geweigert, sich an die Regeln der FERC zu halten, womit gemeint ist, dass es für die Kunden nicht ersichtlich ist, in welchem Stadium der Fertigstellung sich die Anlage in Calcasieu Pass befindet. BP kritisiert in seinem Schreiben außerdem die Überwachungstätigkeit der Aufsichtsbehörde bei der Anlage als nicht transparent.
Alles deutet darauf hin, dass die USA nach ihrer LNG-Rettungsaktion für die EU nach dem Beginn des Ukrainekrieges jetzt ihre Vormachtstellung zu missbrauchen beginnen. Darunter leiden die europäischen Verbraucher, das Energiesystem sowie die gesamte Wirtschaft. Das amerikanische Gasmonopol im Tandem mit fehlenden Garantien für eine rechtzeitige Lieferung sollte die EU dazu bewegen, sich verstärkt um die Diversifizierung ihrer LNG-Lieferanten zu kümmern. Wie verlässlich die USA auch sein mögen – man darf nicht zulassen, dass die internen Probleme des Landes die europäische Energieversorgungssicherheit gefährden.