Vor der russischen Invasion der Ukraine, der Preisexplosion auf dem europäischen Gasmarkt und dem Energie-Paradigmenwechsel in den Köpfen der europäischen Eliten war Russland traditionell der wichtigste Erdgaslieferant für Europa. Noch im Januar 2021 deckte Russland etwa 40 Prozent des europäischen Bedarfs. Derzeit liegt dieser Anteil laut Aussage der spanischen Energieministerin Teresa Ribera bei unter zehn Prozent.
Im September erklärte auch der stellvertretende russische Premierminister Alexander Nowak, dass die Gasexporte in die EU dieses Jahr um voraussichtlich 50 Milliarden Kubikmeter zurückgehen werden, was einem Drittel der Gesamtmenge des letzten Jahres entspricht.
Die Zahlen vermitteln den Eindruck, dass der EU die so vollmundig angekündigte endgültige Lösung aus der Abhängigkeit von Russland tatsächlich gelungen ist. In der Praxis jedoch wird sich das Ganze laut Experten sehr schwierig gestalten.
Man kann mit Norwegen einen neuen Liefervertrag abschließen oder einige Rückverflüssigungsanlagen leasen, doch solche Maßnahmen vergrößern kaum das Angebot auf dem Markt und tragen auch nicht zum Bau neuer Rohrleitungen für die Gaseinfuhr bei. Kann man unter diesen Umständen noch von bezahlbaren Preisen sprechen, durch die sich das Gas ja tatsächlich bislang immer ausgezeichnet hat? Die Wirtschaft hat ihren eigenen Willen und verschließt ihre Ohren angesichts der lautstarken Aufforderungen, die Geschäfte mit unliebsamen Partnern einzustellen.
Die Angebotsseite
Die für den LNG-Weltmarkt charakteristische Flexibilität gerät durch die europäischen Ablösungsmaßnahmen von Russland unter Druck. Neben geopolitischen Faktoren beeinflussen auch Strukturprobleme der Branche die mittelfristigen Trends auf diesem Markt. Wenn beispielsweise neue LNG-Terminals eröffnet werden, ohne dass gleichzeitig die Rückverflüssigungskapazität erhöht wird, führt dies unter Umständen zu einem LNG-Defizit und einem weiteren Preisanstieg für fossile Brennstoffe auf dem Weltmarkt.
Branchenvertreter warnen schon lange vor einem Investitionsnotstand, der noch dadurch verschlimmert wird, dass das linke Lager Übergewinnsteuern für Energieunternehmen fordert. „Wenn man Energierechnungen einfriert oder deckelt, hilft das den Verbrauchern kurzfristig, löst jedoch nicht die zugrundeliegenden Probleme und ist damit keine langfristige Lösung. Und Firmen Steuern abzuverlangen, wenn sie eigentlich die Produktion erhöhen sollen, ist keine gute Idee“, so der Geschäftsführer von Saudi Aramco, Amin Nasser.
Außerdem: Nur weil Europa mehr LNG einführen möchte, wird die Nachfrage aus Asien und anderen Regionen wohl kaum nachlassen, womit wir bei einem anderen Engpass wären – der Logistik.
Es gibt natürlich viele LNG-Tanker auf der Welt, doch sie reichen ganz offensichtlich nicht aus, um die Pipeline-Lieferungen nach Europa komplett zu ersetzen. Der Mangel an Tankschiffen wirkt sich nicht nur auf die Verbraucherpreise aus, sondern führt auch zu Effizienzeinbußen bei der Auslieferung. Werden daher jetzt in den Häfen lange Reihen von Tankern so schnell wie möglich abgefertigt? Keineswegs. Derzeit fährt eine rekordhohe Anzahl von Tankschiffen ziellos auf hoher See herum, weil die Börsenhändler auf noch höhere Preise spekulieren.
Daten der Analysefirma Kpler zeigen, dass im September der Tagesrekord der letzten zwei Jahre gebrochen wurde: an einem Tag schipperten 1,4 Millionen Tonnen LNG auf den Weltmeeren herum. Diese Menge entspricht in etwa den Gesamtimporten Spaniens im August dieses Jahres. Insgesamt wurden letztes Jahr weltweit 380 Millionen Tonnen LNG verkauft, von denen etwa 80 Millionen nach Europa gingen.
Beim russischen Erdgas aus den Pipelines, das die EU jetzt ersetzen muss, ging es 2021 um 155 Milliarden Kubikmeter. Für diese nicht zu unterschätzende Menge muss jetzt eine Alternative gefunden werden. Es gibt dazu zwar viele Vorschläge, doch bislang weiß keiner so genau, wie das gehen soll. US-Präsident Biden versprach im März eine Erhöhung der LNG-Lieferungen an die EU. Allerdings geht es dabei lediglich um 50 Milliarden Kubikmeter, und dies bis 2030. Mit anderen Worten: es muss der Wegfall von 100 Milliarden Kubikmeter Pipelinegas kompensiert werden.
Zufällig genau diese Menge – 100 Milliarden Kubikmeter – verbrauchte Deutschland im vergangenen Jahr. In der größten Volkswirtschaft der EU wird traditionell viel Gas genutzt: in der Industrie, aber auch zum Heizen. Selbst wenn der Einsparerfolg von 15 Prozent im ersten Halbjahr dieses Jahres in der zweiten Jahreshälfte wiederholt werden kann, wird Deutschland höchstens 15 Milliarden Kubikmeter einsparen können.
Was die auf den Weltmeeren umherfahrenden Tankschiffe anbelangt, die auf noch bessere Preise warten, so handelt es sich dabei um eine beim Erdöl häufig angewandte Strategie, die jedoch bislang selten bei LNG zum Einsatz kam. Die Verdampfungsverluste, die bei Erdgas in verflüssigtem Zustand auftreten, sprechen nämlich gegen eine längere Aufbewahrung und erschweren es damit den Händlern abzuwarten, bis der Gaspreis auf dem Höchststand ist.
Die momentane Lage zeigt, dass der Markt nach Ansicht der Händler in ein paar Monaten noch lukrativer sein wird. Sie zeigt auch, welche Risiken die Importeure einzugehen bereit sind, um sich für den Winter mit ausreichend Gas einzudecken.
Die Nachfrageseite
Winterliche Temperaturschwankungen und die angespannte Marktlage beim LNG werden in einem Großteil Europas zu Preissprüngen bei den Gas- und Strompreisen führen. Wird es den Europäern gelingen, genug Gas einzusparen, um keinen Gasmangel zu erleiden?
Monica Zsigri von der Generaldirektion Energie der Europäischen Kommission sagte im September, man dürfe sich trotz der Maßnahmen der Kommission für die Energieversorgungssicherheit im Winter nicht zurücklehnen. Ihrer Ansicht nach sei die Lage in den Griff zu bekommen, doch seien noch weitere Anstrengungen zur Senkung des Gasbedarfs nötig. Laut Zsigri haben viele EU-Staaten bereits das freiwillige Einsparungsziel von 15 Prozent erreicht.
Zur Frage der Deckelung der Gaspreise erklärte sie, dass es bislang noch unklar sei, inwieweit sich diese Idee umsetzen lässt, da der EU-Kommission an der Erhaltung des Umfangs und der Stärke des Energie-Binnenmarkts gelegen sei und jegliches Eingreifen minimal und zeitlich begrenzt sein müsse.
Neue Verbindungen?
Im Februar/März dieses Jahres sah es so aus, als habe sich ganz Europa hinter das Ziel geschart, neue Lieferwege für Erdgas zu finden. Es entstand der Eindruck, Spanien und Frankreich stünden kurz davor, die Pläne für die Midcat-Pipeline wieder aus der Schublade zu holen, die die weit verzweigte LNG-Infrastruktur Spaniens und Portugals mit dem Gasmarkt Mitteleuropas verbinden würde. Doch ein paar Monate später waren noch keinerlei Fortschritte zu verzeichnen.
Tiago Antunes, in Portugal als Staatssekretär zuständig für EU-Angelegenheiten, bekräftigte die Ansicht Portugals, dass “der Nutzen dieser Verbindung eindeutig ist und seit Beginn des Krieges in der Ukraine nur noch gestärkt worden ist.“ Laut seiner Aussage müsste es möglich sein, die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die Frankreich dem Bau der Leitung in den Pyrenäen entgegensetzt.
“Wir finden, dass es sehr gute Argumente für die Pipeline gibt, und wir glauben, dass es möglich sein wird, Frankreich davon zu überzeugen, dass es in unser aller und in Europas Interesse ist, wenn unsere Länder im Energiebereich enger miteinander verbunden sind, denn nur so können wir die Energieversorgungssicherheit erhöhen“, so Antunes weiter.
Das Projekt scheiterte bislang an politischen Streitigkeiten – in erster Linie darüber, wer für die Finanzierung zuständig wäre. Bislang beschränkt sich der Optimismus auf Worte, Taten lassen auf sich warten.
Wasserstoff ist ungeeignet
Was ebenfalls Befürchtungen hervorruft, ist der Vorschlag der EU-Kommission, die bestehenden und noch zu bauenden LNG-Terminals auch für den Transport von „grünem“ Ammoniak und Wasserstoff zu nutzen. Die dafür erforderlichen technischen Anpassungen sind jedoch äußerst komplex und kostspielig und erfordern daher umfassende Investitionen. Von Wirtschaftlichkeit kann hier keine Rede sein. Außerdem besteht noch Unsicherheit hinsichtlich der zukünftigen Nachfrage nach Wasserstoff.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Ersatz des Pipelinegases durch LNG in Europa aus wirtschaftlicher Sicht momentan äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist. Neben den offensichtlichen Problemen des mangelnden Angebots und der steigenden Weltmarktpreise könnte LNG schlicht und einfach auch zu teuer sein – vor dem Hintergrund der galoppierenden Inflation und der Krise ein potentielles Problem für die Politik. Christian Zinglersen, Direktor der EU-Energieregulierungsagentur ACER, sagte hierzu kürzlich, bei der Erstattung des russischen Erdgases durch LNG müsse man mit Zusatzkosten von mindestens 50 Milliarden Euro rechnen.