Europa ersetzt russisches Gas durch Lieferungen aus Norwegen

Die grausame Romanze zwischen russischen Gaslieferanten und europäischen Verbrauchern hat in diesem Jahr ihren Höhepunkt erreicht. Anfang September, kurz vor dem Winter, schaltete der russische Staatskonzern Gazprom die Nord Stream 1-Pipeline ab, über die rund ein Drittel aller russischen Gasexporte in die EU abgewickelt werden (fast 15 % der gesamten Gasimporte der EU). Laut Gazprom war dies auf eine Fehlfunktion der Turbine zurückzuführen. Und während das russische Gas-Schwergewicht weiterhin daran festhält, dass das Problem rein technischer Natur sei, behaupten europäische Politiker und Branchenexperten, der Schritt sei eine Vergeltung für die zahlreichen Sanktionen, die gegen Russland nach seinem Einmarsch in der Ukraine im Februar verhängt wurden.

Weniger als einen Monat später wurden größere Lecks in allen Leitungen der Nord Stream entdeckt. Niemand hat die Verantwortung für die Schäden übernommen, die das Projekt komplett lahmgelegt haben. Der Betreiber Nord Stream AG erklärte in einer offiziellen Stellungnahme, dass die Dauer der Reparatur der Pipeline noch unklar ist.

Wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Erklärung zum Thema Energie am 7. September darstellte, ging der Anteil von russischem Gas an europäischen Importen von 40 % vor dem Krieg gegen die Ukraine auf 9 % Anfang September zurück. Obwohl Brüssel sein Ziel für die Gasspeicherung bereits übertroffen hat und 82% der gemeinsamen Speicher voll sind (das Ziel war, bis Ende Oktober 80% zu erreichen), ist die Situation „außergewöhnlich“.  Die Preise für Gas (und folglich auch für Strom) schwanken seit 2021, als die Wirtschaft nach dem Wegfall der COVID‑19‑Beschränkungen wieder anlief. Kalte Winter, heiße Sommer und ein Mangel an Wind – einer wichtigen Energiequelle für viele EU-Länder – trieben die Nachfrage noch weiter in die Höhe. Infolgedessen erreichten die Gasfutures, die vor 2021 zu 20 bis 50 € gehandelt wurden, im August 2022 einen Höchststand von 350 €. Zur Beruhigung des Marktes, sucht die EU nach zuverlässigen Lieferanten. 

Norwegen hebt sich unter den langjährigen Energiepartnern der EU hervor. Seit Jahren liefert das Land bis zu 25% des Gasbedarfs der EU. Dieses Jahr hat es sogar Russland als größten Lieferanten abgelöst. Unter den derzeitigen Umständen ist es allerdings unwahrscheinlich, dass Norwegen in der Lage ist, russisches Gas vollständig zu ersetzen. 

Ein guter Versuch

Fairerweise muss gesagt werden, dass Norwegen sein Möglichstes tut, um Europa zu helfen. Laut Terje Aasland, dem Öl- und Energieminister des Landes, wird das Land seine Gasexporte nach Europa in diesem Jahr um 8 % steigern, was etwa 9-10 Milliarden Kubikmetern entspricht. Dazu gehören sowohl Pipeline-Lieferungen als auch Lieferungen von LNG. „Der wichtigste Beitrag, den Norwegen in der aktuellen Situation leisten kann, ist die Aufrechterhaltung einer hohen Gasproduktion“, sagte Aasland im August vor dem Parlament. Insgesamt wird erwartet, dass das Land in diesem Jahr 122 Milliarden Kubikmeter (Mrd. m³) Gas fördert – ein Anstieg gegenüber den 112 Mrd. m³ von 2021. Die Steigerung um 10 Mrd. m3 ist für Europa, das 2021 etwa 385 Mrd. m3 verbrauchen wird, allerdings fast vernachlässigbar.

Für die norwegischen Produzenten war der Anstieg jedoch nicht einfach. Die meisten, wie z. B. Equinor ASA, gingen so weit, dass sie die für Frühjahr und Sommer geplanten Wartungsarbeiten verschoben, um Norwegens südlichen Nachbarn zu helfen. Diese Wartungsarbeiten können aber nicht auf unbestimmte Zeit hinausgezogen werden, zumal die Pläne bereits durch COVID-Beschränkungen verzögert wurden.

Grenzen 

Auch langfristig sieht die Situation nicht viel besser aus. Norwegen hat praktisch seine gesamte Exportkapazität erreicht. Funktionäre und Branchenführer sind sich einig, dass keine nennenswerte Steigerung mehr möglich ist. Emil Varre Sandøy, Vizepräsident des internationalen Beratungsunternehmens Rystad Energy mit Sitz in Oslo, ist der Meinung, dass Norwegen die maximale Pipeline- und Verarbeitungskapazität erreicht hat, auch wenn es noch zusätzliche Produktionskapazitäten in den Feldern geben könnte.

Nach Schätzungen von Rystad besteht innerhalb der kommenden 5 Jahre keine Aussicht auf eine nennenswerte Steigerung der Gasproduktion. Diese Zeit wird benötigt, um die Raffineriekapazitäten zu erhöhen und neue Pipelines nach Europa zu bauen. 

Gleichzeitig sind die Gasfelder, die derzeit in Betrieb sind, bereits erschöpft. Wenn keine neuen Felder erschlossen werden, wird sich die Produktion laut Sandøy voraussichtlich nach 2030 deutlich verringern. 

Großzügige Schätzungen gehen von einer Gesamtfördermenge von 130 Mrd. m3 pro Jahr aus, während die russischen Lieferungen vor 2022 bei 155 Mrd. m3 lagen. 

Die neue Pipeline wird diese Entwicklung nicht umkehren

In der Zwischenzeit wurde am 27. September die brandneue Baltic Pipe eröffnet. Das Projekt wird vom dänischen Gas- und Stromnetzbetreiber Energinet und dem polnischen Gasfernleitungsnetzbetreiber Gaz-System betrieben und von der EU als Projekt von gemeinsamem Interesse eingestuft. Dieses 10 Mrd. m3 -Projekt wird Erdgas von Norwegen nach Dänemark und nach Polen transportieren. Die Pipeline wird die Flexibilität erhöhen, die Situation aber nicht grundlegend verändern. Außerdem könnte es zu einem Wettlauf um das Angebot unter den europäischen Verbrauchern führen.

Bislang hat sich die polnische PGNiG rund 3,5 Mrd. Kubikmeter Gas pro Jahr gesichert, was 33 % der Kapazität der Pipeline entspricht (die durch den sogenannten Looping-Effekt noch erhöht wird). 

Ein Teil davon stammt aus Polens eigenen Gasprojekten auf dem norwegischen Schelf. Im Jahr 2018 erwarb PGNiG einen Anteil von 42 % am Tommeliten-Feld, einen Anteil von 12 % am Skarv-Feld und einen Anteil von 8 % am Gina-Krog-Feld. Das Unternehmen wollte bis 2024-2025 eine Produktion von 2,5 Mrd. Kubikmetern erreichen, aber aufgrund der aktuellen Krise wurden die Arbeiten intensiviert.

Weitere 2,4 Mrd. m3 werden von der norwegischen Equinor kommen. Die polnischen und norwegischen Unternehmen haben einen 10-Jahres-Vertrag über diese Menge unterzeichnet, der am 1. Januar 2023 beginnt. 

Die restlichen 6,5 Mrd. m3 werden von norwegischen Unternehmen über die bestehenden Pipelines nach Westeuropa umgeleitet. Anders gesagt, wird Warschau mit Berlin, Paris, Brüssel und London um norwegisches Gas konkurrieren. Das wird die Gaspreise mit Sicherheit noch weiter in die Höhe treiben.

Die einzige wirkliche Möglichkeit, die Gaslieferungen zu erhöhen, ist die Erschließung neuer Gasfelder, die bis zu einem gewissen Grad auch schon durchgeführt wird. Laut dem stellvertretenden norwegischen Energieminister Andreas Bjelland Eriksen sind weitere Explorationen notwendig, um die Produktion aufrechtzuerhalten. 

Dieser Schritt ist jedoch mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden. Die Nordseeprojekte werden zwangsläufig immer mehr erschöpft. Die norwegische Erdöldirektion plant, das Produktionsniveau durch die Intensivierung von Projekten in der Barentssee zu stützen. „Bei den aktuellen Gaspreisen und den aktuellen Investitionen in LNG weltweit ist es natürlich möglich, dass die Barentssee in Zukunft eine größere Rolle spielt“, sagte Eriksen in einem Interview mit Energy Intelligence. Dafür werden zusätzliche Pipelines von den Gasfeldern in der Nordsee benötigt, wo die Baltic Pipe beginnt. 

Erschwerend kommt hinzu, dass der europäische Green Deal, der den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und die Klimaneutralität bis 2050 zum Ziel hat, die neuen Projekte und die teure Infrastruktur für Norwegen unwirtschaftlich macht. 

Nicht zuletzt macht sich die Öffentlichkeit zunehmend Sorgen über den Klimawandel und andere Umweltprobleme, die durch die Öl- und Gasindustrie verursacht werden. So wurde zum Beispiel der Bau der Baltic Pipe um drei Monate verschoben, weil die dänische Berufungskommission für Umwelt und Ernährung die vorgeschlagenen Maßnahmen zum Schutz von Siebenschläfern, nordischen Birkenmäusen und Fledermäusen während des Baus der 210 Kilometer langen Pipeline auf dänischem Boden für unzureichend hielt. Die Norwegerinnen und Norweger treten in dieser Hinsicht in die Fußstapfen ihrer Nachbarn.

All diese Faktoren deuten darauf hin, dass auf dem norwegischen Schelf nur wenige neue Felder erschlossen werden. 

Unzuverlässige Alternative 

Ein wünschenswerterer Weg für Norwegen, langfristig einen Beitrag zu leisten, wäre vielleicht der Export von „grünem“ Strom, der in Wasserkraftwerken erzeugt wird, anstatt von Erdgas. Aber so wie Alternativen wie Wind- und Sonnenenergie hat sich auch diese Art von grüner Energie als unzuverlässig erwiesen. 

Norwegen deckt mehr als 90 % seines Strombedarfs durch Wasserkraft und verkauft einen Teil davon an seine Nachbarn.  Im Jahr 2021 exportierte Norwegen rund 25,8 Terawattstunden Energie über Unterwasserkabel nach Europa. Im August dieses Jahres erwog die Mitte-Links-Regierung des Landes jedoch, den heimischen Verbrauchern Vorrang vor dem Export zu geben. Dieser harte Kurs wurde aufgrund der extrem niedrigen Wasserstände in Erwägung gezogen. Im August sind die Wasserreservoirs im südlichen Teil des Landes normalerweise zu fast 75 % gefüllt: Dieser Stand stellt sicher, dass die Wasserturbinen das Land den Winter über warm halten. 

Doch in diesem Jahr waren die Stauseen laut der norwegischen Direktion für Wasserressourcen und Energie zu weniger als 50% gefüllt. Die Regierung hielt die Exportmengen im Frühjahr und Sommer aufrecht, als aber die Wasserstände den niedrigsten Stand seit 1990 erreichten, wurde darüber gesprochen, die Exporte einzuschränken, bis die Stauseen ausreichend gefüllt waren, um die Binnennachfrage zu decken. Dieser Vorschlag löste in energieimportierenden Ländern eine gewisse Beunruhigung aus. So erwägt das Vereinigte Königreich jetzt, mehrere Kohlekraftwerke, die dieses Jahr stillgelegt werden sollten, weiter zu betreiben. 

Alles in allem deutet die Situation darauf hin, dass Erdgas nach wie vor die zuverlässigste Energiequelle ist: Die einzige Frage ist, woher Europa es unter den derzeitigen Umständen überhaupt beziehen kann.