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Die Weltwirtschaftslage zwingt die Industrienationen, allen voran die EU, aber auch Indien, sich auf die Suche nach alternativen Bezugsquellen für Erdöl zu machen. Die Situation wird noch dadurch verschärft, dass sich die USA kurzfristig auf die Eindämmung der Brennstoffpreise im eigenen Land konzentrieren und zumindest bis Dezember 2022 kein zusätzliches Öl auf den Weltmarkt bringen werden. Die von den G7-Ländern beschlossene Deckelung des Preises für russisches Erdöl trägt ebenfalls beträchtlich zur Unsicherheit auf den Märkten bei. Wenn es darum geht, den Industrienationen mehr Erdöl zu verschaffen, ist die Steigerung der kasachischen Ölexporte einer der Schlüsselansätze (und laut einer Reihe von Experten auch eine der am schnellsten durchführbaren Maßnahmen).
Einerseits erlebt Kasachstan derzeit eine sozioökonomische Stabilisierung sowie eine für den Westen nachvollziehbare und relativ transparente Reform des Staatsapparates. Andererseits hält Präsident Tokajew an der für Kasachstan traditionellen multipolaren Ausrichtung fest und strebt ein Gleichgewicht zwischen Peking und Moskau an. Hierbei dürfte ihm eine Partnerschaft mit dem Westen und allen voran mit der EU mehr als gelegen kommen.
In dieser Lage werden jegliche Sofortmaßnahmen zur Exportsteigerung in Richtung Europa kurzfristiger Natur sein, was auch den momentanen Interessen sowohl des Westens als auch Kasachstans entspricht. Entsprechende Vereinbarungen werden daher ebenfalls zeitlich begrenzt sein: die Erdöllieferungen werden lediglich für sechs bis acht Monate notwendig sein, womit die Einrichtung ganz neuer Transportwege kaum denkbar ist. Aus diesem Grund können in diese Analyse nur die heute bereits vorhandenen Strukturen einfließen.
Kommen wir zu den kasachischen Ölexporten und der dazugehörigen Infrastruktur.
Die Erdölreserven des Landes belaufen sich auf etwa 30 Milliarden Barrel, was 1,7 Prozent der weltweiten Reserven entspricht – also einem relativ kleinen Anteil. Bei der aktuellen Fördermenge sieht es jedoch anders aus. In den letzten beiden Jahren wurden einschließlich Gaskondensat jeweils etwa 90 Millionen Tonnen Öl gefördert. Davon wurden 2021 68,5 Millionen Tonnen exportiert. Keine geringe Menge, vor allem, wenn man berücksichtigt, dass sich selbst eine minimale Exportsteigerung für die Imagepflege und für Marktmanipulationen nutzen lässt. Außerdem wäre Kasachstan trotz der augenscheinlichen Schwierigkeiten in der Lage, die Ölförderung um fünf bis sechs Prozent zu steigern, wenn entsprechende Investitionen getätigt würden. Dies würde jedoch einen Konflikt mit den OPEC+-Ländern heraufbeschwören, da Kasachstan ganz auf eigenes Risiko handeln müsste. Der Export ließe sich sogar noch ein wenig weiter steigern, wenn das Land alle Weiterverarbeitungsprojekte im Öl- und Gaskondensatbereich, die Tokajew zu Beginn seiner Amtszeit ankündigte, zurückfahren würde. Dies hätte natürlich politische Implikationen, mit denen sich jedoch im Rahmen der von Kasachstan vorgeschlagenen „breit angelegten Partnerschaft“ umgehen ließe.
Ein Großteil des kasachischen Erdöls wird natürlich bereits nach Europa ausgeführt. Der für den europäischen Markt bestimmte Anteil ist jedoch in den letzten Jahren stark zurückgegangen: von etwa 80 Prozent 2017 auf unter 75 Prozent 2019. Kasachstan hat sich eindeutig nach Asien als wichtigstem Absatzmarkt umorientiert. Im Vergleich zum Vorjahr stiegen 2018 die südkoreanischen Ölimporte aus Kasachstan um 205,8 Prozent, die japanischen um 193,1 Prozent und die singapurischen um 374,5 Prozent.
Auch die Bedeutung des Nahen Ostens für den Export nahm zu (Türkei, Israel). Die genannten Entwicklungen spiegeln die wohlbekannte multipolare Ausrichtung von Präsident Tokajew wider. Seit Beendigung der Krise, die Kasachstan im Januar 2022 heimsuchte, ist die Umorientierung beim Export wieder in vollem Gange.
Das Hauptaugenmerk bei der kasachischen Exportsteigerung gilt jedoch China. Bislang erreicht relativ wenig kasachisches Öl den chinesischen Markt: weniger als 1,5 Millionen Tonnen, der Rest gelangt aus Russland über Kasachstan nach China. Die Pläne zur Exportsteigerung hängen mit der Vollendung der zweiten Rohrleitung der Pipeline von Kenkijak nach Atyrau zusammen. Der Ausbau der Zusammenarbeit mit China im Energiebereich wird für Tokajew immer mehr zu einer strategischen politischen Frage.
Das Hauptproblem bei der Umsetzung dieses Szenarios ist der Transport, der letztendlich auch ausschlaggebend dafür ist, wieviel Spielraum Kasachstan bei den Ölexporten hat. 2021 wurden etwa 78 Prozent des Exports über die CPC-Pipeline abgewickelt (53-54 Millionen Tonnen). Ungefähr 12 Millionen Tonnen (17 bis 18 Prozent der Ausfuhrmenge) lief über die Atyrau-Samara-Pipeline. Nur drei Prozent (2 Millionen Tonnen) wurden über den Hafen von Aktau ausgeführt. Eine Million Tonnen des kasachischen Erdöls (weniger als 1,5 Prozent der Gesamtexporte) ging wie oben bereits erwähnt durch die Kasachstan-China-Pipeline nach China. Mit anderen Worten: der Großteil des kasachischen Erdöls wurde über Russland ausgeführt.
In diesem Zusammenhang lohnt es sich, einen Blick auf die Erweiterungsmöglichkeiten beim Export aus Kasachstan zu werfen:
- Die CPC-Pipeline wird auf absehbare Zeit der wichtigste Exportkanal bleiben. Den Schlüssel zu diesem Exportweg hält jedoch Russland in Händen. Eine zuverlässige Nutzung dieses Exportkanals ist daher nur dann möglich, wenn Brüssel bereit ist, Russland bei den Sanktionen die gewünschten Zugeständnisse zu machen. Auch der technische Zustand der Pipeline darf nicht außer Acht gelassen werden – in jüngster Zeit kam es hier des Öfteren zu Zwischenfällen.
- Öl-Investitions-Swap. Kasachstan liefert sein Erdöl über die vorhandenen Pipelines an Firmen innerhalb Eurasiens, die dann unter Umgehung Russlands Öl aus anderen Förderregionen nach Europa liefern. Die Einrichtung einer solchen Lieferkette wäre äußerst komplex. Darüber hinaus wäre problematisch, dass mit diesem Ansatz keinerlei zusätzliches Erdöl auf den Markt gelangen würde. Für Spekulanten jedoch wäre diese Möglichkeit durchaus interessant.
- Ausweitung des Exports über den Iran nach Indien und in den Nahen Osten. Ein Szenario, das durchaus umsetzbar ist und das auch schon mehrfach geprüft wurde. Es würde sich trotz der vorliegenden Einschränkungen der Infrastruktur auch zum Ausbau eignen. Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass Teheran seine momentane Annäherung an Moskau für ein solch wenig gewinnbringendes Projekt aufs Spiel setzen würde. Diese Möglichkeit hätte 2020-21 in Betracht gezogen werden können, als der Iran sich in Richtung einer breit angelegten Partnerschaft mit der EU bewegte, doch nicht zum jetzigen Zeitpunkt.
- Vor diesem Hintergrund kann die Auslieferung des kasachischen Öls mit Tankschiffen über das Kaspische Meer (und weiter nach Georgien) noch als die realistischste Möglichkeit gelten. Doch auch dieses Szenario hat Nachteile, die einerseits mit den Verpflichtungen Kasachstans im Rahmen der Kaspischen Fünf zusammenhängen und andererseits mit der rein technischen Frage der Kapazität der aserbaidschanischen Pipelines. Außerdem würden die Transportkosten bei diesem Szenario den Preis pro Barrel eher nach oben treiben als ihn zu senken. Die Notwendigkeit, Lieferbedingungen und Kompensationszahlungen mit Russland abzusprechen, ist in diesem Fall natürlich geringer ausgeprägt, aber trotzdem gilt es auch hier die politischen Gegebenheiten zu berücksichtigen.
- Ausweitung des Exports nach China. Hierzu müsste das russische Erdöl, das über Kasachstan befördert wird, durch kasachisches ersetzt werden. Eine Verschlechterung der Beziehungen zu Russland wäre in diesem Fall jedoch unvermeidlich. Außerdem würde dadurch die Ölmenge auf dem Markt nicht ansteigen, und was am allerwichtigsten ist: Europa würde kein zusätzliches Öl erhalten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Erhöhung der Liefermenge beim kasachischen Erdöl prinzipiell möglich ist, dass jedoch nicht nur die fehlenden Transportwege, sondern auch die fragliche Bereitschaft der kasachischen Regierung, die ohnehin schon angespannten Beziehungen zu Russland weiter unter Druck zu setzen, dem entgegen stehen.
Vor dem hier dargestellten Hintergrund kann davon ausgegangen werden, dass Kasachstan sich wohl kaum für die Einrichtung permanenter Transportwege nach Europa über nichtrussisches Territorium entscheiden wird. Jegliche Erhöhung der Exportmenge aus Kasachstan setzt eine vorherige Abstimmung mit Moskau voraus. Die Verantwortung hierfür läge sowohl bei Kasachstan als auch bei Brüssel. Die Europäische Kommission hat sich jedoch gegenüber dem Kreml bereits für eine unversöhnliche Politik und gegen jegliche „Deals“ entschieden, auch im Bereich Öl und Gas. Dadurch ergibt sich eine paradoxe Situation: die Erhöhung der kasachischen Erdölexporte ist nur mittels politischer Prozesse und Einigungen möglich, die aber aufgrund anderer politischer Absprachen äußerst unwahrscheinlich sind.