Ende Oktober beschloss Dänemark den Bau von gleich zwei Erdgasleitungen: Nord Stream 2, an der sich transatlantische Konflikte entzünden, und das dänisch-polnische Baltic-Pipe-Projekt, das bislang kaum Aufmerksamkeit erregte, da es praktisch unsichtbar war. Und dies, obwohl das polnische Projekt früher genehmigt wurde als das russische. Beim Baltic-Pipe-Projekt geht man von einem Baubeginn Anfang 2020 aus. Das „Energy Bulletin“ analysierte die Auswirkungen auf den Gasmarkt im Allgemeinen.
Die Baltic Pipe, deren geplante Länge etwa 900 km beträgt, soll norwegisches Erdgas über Dänemark nach Polen transportieren. Das Baltic-Pipe-Konsortium besteht aus dem dänischen Energieunternehmen Energinet sowie der polnischen Firma GAZ-SYSTEM S.A. 2017 unterzeichneten die beiden Länder eine Absichtserklärung zu diesem Projekt. Die Europäische Kommission unterstützt es aktiv – im April dieses Jahres wurde bekannt, dass die Baltic Pipe ergänzend zu den bereits genehmigten Subventionen knapp 215 Millionen Euro zusätzlich erhalten soll.
Polen importiert jährlich 9,9 Milliarden Kubikmeter russischen Erdgases (laut den Zahlen für 2018) und ist damit ein Großabnehmer. Ab Inbetriebnahme der Baltic Pipe im Jahr 2022 werden die Lieferungen aus Norwegen kommen: für 2023 plant Polen die Beendigung seiner Lieferverträge mit Russland und damit einen kompletten Umstieg auf norwegisches Erdgas, ergänzt durch den Kauf von Flüssiggas aus Katar und den USA.
Das staatliche polnische Öl- und Gasunternehmen PGNiG hat Gazprom und Gazprom Export bereits über das geplante Auslaufen des Vertrages zum 31.12.2022 in Kenntnis gesetzt. Die Polen machen geltend, dass das russische Gas nach dem jetzigen Vertrag deutlich teurer sei als das amerikanische Flüssiggas. Sie hoffen darauf, dass auch das norwegische Gas billiger sein wird als das russische; dies wird jedoch zweifellos von den konkreten Verträgen abhängen. Die Tatsache, dass Norwegen nach Erreichen eines faktischen Monopols auf dem polnischen Markt die Preise erhöhen könnte, scheint momentan bei niemandem in Warschau Bedenken auszulösen. Und dies, obwohl offensichtlich ist, dass die Baltic Pipe für Norwegen ein wichtiges Machtinstrument gegenüber Polen sein wird, und trotz der Tatsache, dass Norwegen seinem Abnehmer zukünftig einfach seine Bedingungen wird aufzwingen können.
Es ist davon auszugehen, dass die Pipeline jährlich etwa 10 Milliarden Kubikmeter Erdgas an Dänemark und Polen wird liefern können. Aus Sicht des Betreibers und der Europäischen Kommission ermöglicht sie eine Diversifizierung des europäischen Erdgasmarktes, da der Hauptkritikpunkt der Politik an Nord Stream 2 ja gerade der ist, dass die EU und vor allem auch Deutschland dadurch in vollkommene Abhängigkeit vom russischen Erdgas geraten.
Die Baltic Pipe soll dies jetzt ändern. Allerdings gibt es momentan keine Garantie dafür, dass Norwegen die Erdgasleitung auch tatsächlich in seinem eigenen Interesse wird nutzen können. Mit dem Anschluss der Leitung an das osteuropäische Pipelinenetz wird Norwegen mehr Möglichkeiten haben, beim Abschluss von neuen Lieferverträgen mit Berlin auf seine Parameter zu pochen und neue Absatzrichtungen zu berücksichtigen: aus Klimaschutzgründen treibt Berlin zurzeit den Kohleausstieg und die Energiewende voran. Das deutet darauf hin, dass die Nachfrage nach Erdgas nur noch weiter steigen wird. So äußern sich auch die deutschen Politiker, einschließlich der Bundeskanzlerin. Außerdem ist die Rede von der Notwendigkeit einer Diversifizierung der Gaslieferanten. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass die neuen Gegebenheiten von Brüssel und Washington ausgenutzt werden, um Druck auf Berlin auszuüben. Washington sucht schon seit längerer Zeit einen Zugang zum deutschen Markt und strebt den Bau von LNG-Terminals an.
Norwegen verfolgt auch seine eigenen finanziellen Interessen – es wäre merkwürdig, wenn Oslo unter den gegebenen Bedingungen keinen Versuch unternähme, für Polen und die anderen osteuropäischen Länder einen höheren Erdgaspreis festzulegen, und zwar ganz unabhängig von der gesamteuropäischen Konjunktur. Piotr Woźniak, der Geschäftsführer von PGNiG, erklärte in einem Interview mit dem polnischen Sender TVP Info im November 2019, sein Unternehmen habe der russischen Gazprom jahrelang jeweils 230 Millionen Euro zu viel bezahlt. Seiner Meinung nach ist das die Differenz zwischen den Preisen von Gazprom und den Marktpreisen.
PGNiG brachte den Fall vor das Schiedsgerichtsinstitut der Stockholmer Handelskammer (SCC), dessen Entscheidung zugunsten Warschaus für Anfang 2020 erwartet wird.
Auf diese Weise wird der Erdgaspreis gesenkt werden. Polen hofft also offensichtlich auf einen günstigeren Liefervertrag mit Norwegen und auf billigeres norwegisches Erdgas. Polen kauft schon jetzt amerikanisches Flüssiggas, das laut Woźniak um 20 bis 30 Prozent günstiger ist als das über die Jamal-Leitung importierte Erdgas von Gazprom.
Es ist offensichtlich, dass Norwegen über die Vertretung seiner Interessen bei internationalen Plattformen und über die Nutzung von bilateralen Kontakten versucht, die Nachfrage nach seinem Erdgas anzukurbeln. Das Land verfügt über die entsprechenden Hebel. Auch die internationale Tagesordnung regt hierzu an: in Europa wird intensiv über den Klimaschutz debattiert und es gibt außerdem den Ostseerat, an dessen Sitzungen Angela Merkel dieses Jahr teilgenommen hat.
So lässt sich vorhersagen, dass Russland in naher Zukunft den riesigen Absatzmarkt in Osteuropa verlieren könnte. Anfang Oktober 2019 bestätigte der polnische Beauftragte für die strategische Energieinfrastruktur, Piotr Naimski, im Staatsradio die Pläne Warschaus, die Lieferverträge mit Russland aufzukündigen.
Dies wird sich jedoch kaum auf die Positionen der Spieler auf dem europäischen Erdgasmarkt auswirken – Gazprom wird nach wie vor der größte Erdgaslieferant für Europa sein. Laut dem 2. Quartalsbericht 2019 der Europäischen Kommission über den Erdgasmarkt steht Russland bei den Erdgaslieferungen an erster Stelle: auf das Land entfallen 45 Prozent der Erdgasimporte der EU, gefolgt von Norwegen mit 25 Prozent. Mit seiner Entscheidung allein zugunsten Norwegens verabschiedet sich Polen vom Grundsatz der Ausgeglichenheit und nimmt sich selbst die Möglichkeit, Erdgas aus gleich zwei verlässlichen Quellen zu beziehen – aus Skandinavien und Russland. Trotz des offiziellen Standpunkts der Europäischen Kommission wird dies wohl kaum der Diversifizierung zugutekommen. Polen hat aber in jedem Fall noch genug Zeit, um sich von seiner radikalen Position abzukehren und zu einer ausgeglichenen und vernünftigen Erdgaspolitik zurückzufinden, denn der Vertrag mit Gazprom läuft erst Ende 2022 aus.