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Mit dem ehrgeizigen Ziel, sich schnell vom „Blutgas“ des Aggressors Russland zu lösen und es gegen “Freedom LNG” von der anderen Seite des Atlantiks einzutauschen, erfüllt die EU ihre moralische Pflicht. Sie führt sich damit unter Umständen jedoch ungewollt selbst in eine infrastrukturelle Sackgasse, wenn sie zwischen dem wirtschaftlichen und dem ökologischen Zusammenbruch wählen muss.
Letztes Jahr durchlitt Europa eine Energiekrise, die große Fragen in Bezug auf das Gleichgewicht zwischen Energieversorgungssicherheit und wirtschaftlichem Risiko aufwirft. Das Streben, sich vom russischen Gas zu lösen und es durch Flüssigerdgas (LNG) aus anderen Quellen zu ersetzen, stellt die EU vor eine schwierige Wahl, die schwerwiegende Konsequenzen für die Wirtschaft haben könnte.
Als Reaktion auf den Überfall Russlands auf die Ukraine hat sich die EU verpflichtet, russische fossile Brennstoffe wie Erdöl und Erdgas bis 2027 komplett vom Markt verbannt zu haben. Viele Mitgliedstaaten beschleunigen jetzt die bereits geplante Suche nach alternativen Gaslieferanten wie beispielsweise den USA und Katar. Die EU-Führung wird nicht müde, der Bevölkerung die frohe Kunde von der stetig fortschreitenden Loslösung aus der Abhängigkeit vom russischen Gas zu überbringen: die Liefermengen aus Russland in die EU sind bereits jetzt auf einem relativ niedrigen Niveau. 2022 kam lediglich ein Viertel des gesamten importierten Gases aus Russland (in den vorangegangenen Jahren lag diese Zahl immer über 40 Prozent).
Eine der Sofortmaßnahmen der EU angesichts der Energiekrise war die Erhöhung der Speichermengen, um die Versorgungssicherheit der Bevölkerung zu garantieren. Im Hinblick darauf verabschiedeten die EU-Mitgliedstaaten im Juni 2022 eine Verordnung, die für den Winter 2022/23 eine Füllung der Gasspeicher auf 80 Prozent ihrer Kapazität vorschrieb und auf 90 Prozent für die darauffolgenden Winter. Die Verordnung trat umgehend in Kraft. Im September 2022 waren die Gasspeicher der EU im Durchschnitt bereits zu 80 Prozent gefüllt. Im Oktober waren 90 Prozent erreicht. Im März 2023, nach der Heizperiode, lag der Füllstand bei etwa 56 Prozent – deutlich mehr als im gleichen Monat des Vorjahres (26 Prozent).
„Die teuerste und unnötigste Versicherung der Welt”
Eine Mehrheit der Experten ist sich darin einig, dass es zwar lobenswert ist, ganz auf russisches Gas verzichten zu wollen, dass jedoch blindes Vertrauen auf LNG die Infrastrukturrisiken für die europäische Wirtschaft vergrößert. Denn der unvermeidlich dadurch ausgelöste ständige Kostenanstieg für Industrie und Haushalte wird Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit schon in naher Zukunft schwächen.
Obwohl die Gasspeicher der EU schnell und gut gefüllt wurden, zeigt eine Analyse des Institute for Energy Economics and Financial Analysis (IEEFA), dass über die Hälfte der geplanten LNG-Anlagen ungenutzt bleiben könnte. Dies würde riesige finanzielle Verluste bedeuten und der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft schaden. „Es ist die teuerste und unnötigste Versicherung der Welt“, so Ana Maria Jaller-Makarewicz, Energiespezialistin beim IEEFA Europa.
Der im März veröffentlichte Bericht des IEEFA kommt zu dem Schluss, dass der unstillbare Appetit der EU auf neue LNG-Projekte in den nächsten Jahren dazu führen wird, dass die Kapazitäten weit über der Nachfrage nach Gas liegen werden. Die aktuellen Nachfrageprognosen gehen von 150 bis 190 Milliarden Kubikmetern aus. So könnte es passieren, dass diese undurchdachten und irrationalen Versuche, das Pipelinegas vom Markt zu verdrängen, die europäischen Wirtschaftstreibenden Unsummen kosten werden.
„Europa braucht ein sorgfältig austariertes Gas- und LNG-System und muss aufpassen, dass die Schwelle von der Sicherheit zur Überversorgung nicht überschritten wird“, so Jaller-Makarewicz weiter. „Ein Ausbau der europäischen LNG-Infrastruktur führt nicht unbedingt zu mehr Sicherheit – das Risiko, dass Anlagen ungenutzt bleiben, ist groß.“ In Spanien ist die Gefahr ungenutzter Anlagen am größten (50 Milliarden Kubikmeter), gefolgt von der Türkei (44 Milliarden) und dem Vereinigten Königreich (40 Milliarden). Das IEEFA erwartet gegen Ende des Jahrzehnts für die europäischen LNG-Terminals eine Auslastung von 36 Prozent.
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„Bei einigen Investitionen in die Infrastruktur für LNG-Importe ging man davon aus, dass es irgendwo in Europa immer eine Nachfrage nach LNG geben wird“, kommentiert Ogan Kose, Gasspezialist und Managing Director bei Accenture Plc dieses Thema, das weltweit ausführlich in der Presse besprochen wurde. “Wenn jedoch jedes Land auf seiner eigenen Importinfrastruktur besteht und es keine Abstimmung zwischen den Märkten gibt, dann wird es natürlich viele Fehlinvestitionen geben.“
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Hierzu gibt es auch noch Folgendes anzumerken: In der Ideologie der EU ist das „Freedom LNG“ sozusagen das Gegenteil des russischen Pipelinegases, doch die Politiker schweigen sich darüber aus, dass Russland über die Firma Novatek auch LNG liefert. Diese Lieferungen stiegen 2022 im Vergleich zum Vorjahr um gute 60 Prozent an. So werden die neuen LNG-Anlagen vermutlich wieder russisches Gas nach Europa bringen, doch es wird nicht als solches erkennbar sein und möglicherweise über Umwege eingeführt werden.
Opfer des Marktes
Sehr viel Zeit, Geld und gesetzliche Flexibilität sind in den europäischen Ansatz geflossen, sich komplett auf LNG umzuorientieren. Doch ein Hindernis könnte sich als unüberwindlich erweisen: in nächster Zeit wird es weiterhin eine Unterversorgung mit LNG geben und das Flüssiggas wird teuer bleiben.
Die Europäer müssen sich auf einen harten Kampf mit den asiatischen Verbrauchern um das LNG aus den USA einstellen. Die Amerikaner wollen ihr Flüssiggas so teuer wie möglich verkaufen, und die Erholung der chinesischen Volkswirtschaft nach der Coronapandemie übt zusätzlichen Druck auf die LNG-Preise aus.
Ökologische Zwickmühle
Aus ökologischer Sicht ist es pragmatisch und rational, einen kleinen Gasanteil im Energiemix zu haben. Darin sind sich die meisten Regierungen und internationalen Organisationen einig. Tatsache ist, dass Gas ohne umfassende technologische Anpassungen Kohle ersetzen kann – es ist daher die günstigste Methode, den Verbrauch fossiler Energien zu senken. Die LNG-Kapazitäten jedoch, von denen in der EU die Rede ist, passen nicht nur nicht zu diesem Ansatz, sondern rufen sogar große umweltpolitische Bedenken hervor.
Ende letzten Jahres veröffentlichte der Global Energy Monitor eine Studie, der
zufolge die geplante Verdopplung der LNG-Importkapazitäten der EU nicht nur die Erreichung der Klimaziele gefährdet, sondern auch kaum etwas gegen die Energiekrise wird ausrichten können. Der Knackpunkt ist, dass die LNG-Verträge, die von den europäischen Käufern geschlossen wurden, um 2026 herum wirksam werden, aber auf 15-20 Jahre ausgelegt sind. Daher können die LNG-Projekte nichts gegen die Energiekrise ausrichten, die ja schließlich heute stattfindet. Außerdem haben die Europäer Erdgaslieferverträge abgeschlossen, die noch beinahe ein Vierteljahrhundert lang gültig sind. Erinnert sich noch jemand daran, dass die Verbrennung fossiler Brennstoffe der Hauptgrund für den menschengemachten Klimawandel ist?
Sogar ausländische Politiker schlagen Alarm und warnen die EU: In einem Schreiben, das an die amerikanische Regierung und die EU gerichtet ist, mahnen der Abgeordnete Jared Huffmann und Senator Jeff Merkley mit 20 weiteren Kollegen die Europäer, beim Ausbau ihrer Gasimportkapazitäten vorsichtig vorzugehen. Die Pläne könnten laut den Volksvertretern zu höheren Emissionen führen und damit dem Pariser Abkommen widersprechen. „Es ist von größter Dringlichkeit, dass sich unsere Länder nicht für weitere Jahrzehnte in die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen begeben, wo doch Klimaforschung, Umweltgerechtigkeit und Volksgesundheit einen schnellen Übergang hin zu rein erneuerbaren Energiequellen erforderlich machen“, heißt es in dem Schreiben.
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine haben die EU-Mitgliedstaaten Importprojekte von insgesamt 195 Milliarden Kubikmetern angekündigt. Bis Februar 2022 gab es in ganz Europa lediglich 164 Milliarden Kubikmeter Kapazität und die Einfuhren von Pipelinegas aus Russland betrugen 155 Milliarden Kubikmeter. Diese Zahlen zeigen, dass es nicht mehr nur darum geht, das russische Gas zu ersetzen, sondern dass auf eine starke Steigerung des Verbrauchs gesetzt wird. Das europäische Klimagesetz sieht eigentlich bis 2030 eine Reduzierung der Nachfrage nach Gas um 35 Prozent im Vergleich zu 2019 vor, und der REPowerEU-Vorschlag der Kommission könnte sogar zu einem Rückgang der Gasnachfrage um 52 Prozent bis 2030 führen.
Wenn sich die Energielage bis 2026 normalisiert hat, werden alle zusätzlichen LNG-Kapazitäten genutzt werden müssen, um nicht zu teuren Fehlinvestitionen zu werden. Dadurch geraten jedoch die europäischen Klimaziele in Gefahr, da sie große Einschnitte beim Gasverbrauch voraussetzen.
Der nächste Winter kommt bestimmt
Nach dem gut überstandenen außergewöhnlich warmen Winter 2022/23 kann Europa zwar aufatmen, doch es besteht die Gefahr, dass der täuschende Eindruck entsteht, dass die Schrecken der Energiekrise überwunden sind und die EU von allen Seiten gut abgesichert ist. Die jetzigen glücklichen Umstände dürfen nicht zu Bequemlichkeit führen. Im April, wenn traditionell die schrittweise Auffüllung der Speicher beginnt, waren diese zu 56 Prozent gefüllt (633 TWh) – ein Rekord.
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Dessen ungeachtet könnte es Deutschland, die größte Wirtschaftsmacht Europas, im Winter 2023/24 mit einem großen Gasdefizit in der Industrie und den Haushalten zu tun bekommen. 2023 laufen die Vorbereitungen auf die Heizperiode erstmals ohne Lieferungen über NordStream an. Laut Klaus Müller, dem Präsidenten der Bundesnetzagentur, lässt sich eine Gasmangellage im Winter 2023/2024 nicht ausschließen. Als Risikofaktoren nennt Müller sehr tiefe Temperaturen, zu wenig Einsparungen durch Haushalte und Unternehmen sowie die Möglichkeit, „dass die LNG-Terminals nicht wie geplant arbeiten.“
Auch eine erhöhte Nachfrage nach Gas seitens der Nachbarländer Deutschlands (Österreich, Tschechien, Slowakei) könnte im Winter zu Gasmangel führen. Deutschland hat sich im Rahmen der „Gassolidarität“ vertraglich zu Lieferungen an diese Länder verpflichtet.
Schlussfolgerungen:
Die EU stellt sich beim Übergang zu LNG selbst vor eine schwierige Wahl zwischen der Versorgungssicherheit einerseits und wirtschaftlichen Risiken andererseits. Während es aus moralischer und politischer Sicht verständlich und berechtigt ist, dass sich die EU vom russischen Gas lösen will, müssen unbedingt auch die Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen und die potenziellen Verluste durch Fehlinvestitionen im LNG-Bereich berücksichtigt werden. Ein Ausgleich zwischen diesen Faktoren und ein vielfältiger Energiemix werden die Schlüsselfaktoren für Sicherheit, Umweltfreundlichkeit und Wirtschaftskraft sein. Momentan lässt sich allerdings leider nur konstatieren, dass der eingeschlagene Kurs nicht zur Stabilität der Wirtschaft beiträgt.