Im Herbst 2019 feierte Aserbaidschan seinen Eintritt in die Endphase der Vorbereitung des Projekts „Südlicher Gaskorridor“: Es hieß, der Start des Projekts sei bis Ende 2020 vorgesehen. Es scheint jedoch nicht alles so rosig zu sein, wie Baku uns glauben machen möchte. Und dabei geht es nicht nur um die sinkenden Erdölpreise, an denen auch der Gaspreis hängt, oder um die Coronavirus-Pandemie, die für die Volkswirtschaften weltweit die Karten durcheinanderwirbelt. Das Projekt stand vielmehr von Anfang an vor ernsthaften Herausforderungen, und die Experten sind nicht davon überzeugt, dass es Aserbaidschan gelingen wird, diese zu meistern.
Noch zu Beginn dieses Jahres zeigten die optimistischsten Prognosen, dass aserbaidschanisches Erdgas auf dem europäischen Markt an der Grenze zum Selbstkostenpreis gehandelt werden würde und dass bei Eintreten negativer Szenarien die Förder- und Transportkosten für aserbaidschanisches Gas deutlich zu teuer für die am weitesten entfernt liegenden Verbraucher werden könnten. Die Förderung im Erdgasfeld Shah Deniz (Phase 2) – bisher die einzige Lagerstätte, aus der Erdgas in den Südlichen Gaskorridor eingespeist wird – ist zu kostspielig: Der Produktionspreis des Gases beträgt 130 US-Dollar pro 1000 Kubikmeter, der Transport durch die Pipeline bis nach Italien kostet jedoch mehr als 200 US-Dollar. Dabei gingen die Prognosen für die nächsten Jahre von einem Gaspreis von 200 US-Dollar pro 1000 Kubikmeter am italienischen virtuellen Handelspunkt (VHP) Punto di Scambio Virtuale aus, dem Punkt, an dem das in die EU gelieferte aserbaidschanische Erdgas gehandelt werden muss.
Aber auch derartige Berechnungen haben den im März dieses Jahres eingetretenen Preissturz für Erdöl und Erdgas nicht berücksichtigt. Die aktuellen Weltmarktpreise decken kaum die Betriebs- und Transportkosten ab und werden laut Prognose der Rating-Agentur Fitch in den nächsten zwei Jahren auf dem gegenwärtig niedrigen Niveau bleiben. In ihrem Basisszenario senkte die Agentur Fitch im März die Prognose für den Gaspreis an den bedeutendsten europäischen VHPs Title Transfer Facility (TTF) und National Balancing Point (NBP) für 2020 von 194 auf 123 Dollar pro 1000 Kubikmeter ab.
Einfluss auf das Absinken der Erdgaspreise auf ein historisches Minimum hatten auch die Coronavirus-Pandemie und der warme Winter in Europa, an dessen Ende die Gasspeicher weiterhin gefüllt waren. Die wirtschaftlichen Parameter des Shah-Deniz-Gasfelds (Phase 2) wurden jedoch ausgehend von deutlich höheren Gaspreisen und einem deutlich höheren Gasbedarf berechnet.
Außer unter der ungünstigen Preiskonjunktur leidet Baku auch unter der Schwierigkeit, zusätzlich Investoren aus dem Ausland für die Erschließung von Gasvorkommen im Meer und für den Ausbau der Pipeline-Infrastruktur zu gewinnen, darunter für die Erhöhung der Transportkapazität einzelner Abschnitte der zum Südlichen Gaskorridor gehörenden Transanatolischen Pipeline (TANAP). Es geht darum, dass die Transportleistung von TANAP bisher insgesamt 16 Mrd. Kubikmeter Erdgas pro Jahr beträgt, von denen 6 Mrd. Kubikmeter für die Türkei bestimmt sind. Bis 2026 soll die Transportkapazität von TANAP jedoch lediglich auf 31 Mrd. Kubikmeter erhöht werden. Die Transportleistung der Transadriatischen Pipeline (TAP), des dritten Abschnitts des Südlichen Gaskorridors jenseits der türkischen Grenze, soll dieses Jahr insgesamt 10 Mrd. Kubikmeter betragen, mit der Möglichkeit, diese in Zukunft auf 20 Mrd. Kubikmeter zu erhöhen, wobei diese Zukunft nicht näher definiert wurde. Daher räumt man selbst in der EU-Kommission ein, dass die politische Bedeutung des Südlichen Gaskorridors größer ist als sein wirtschaftlicher Nutzen. 10 Mrd. Kubikmeter Erdgas pro Jahr ist ein Kontingent, das keinerlei Einfluss auf die Situation auf dem Gasmarkt der EU hat, deren Verbrauch sich auf ca. 500 Mrd. Kubikmeter Erdgas pro Jahr beläuft.
Beobachter zweifeln jedoch selbst bei solch niedrigen Lieferkontingenten daran, dass Aserbaidschan genug eigenes Erdgas besitzt, um alle mit der Pipeline verbundenen Verpflichtungen zu erfüllen. Gegenwärtig ist Baku einigen Experten zufolge gezwungen, im Iran Erdgas für die Gasversorgung seiner Exklave Nachitschewan zu kaufen, ebenso in Turkmenistan und Russland für die Erfüllung seiner Lieferverpflichtungen gegenüber Georgien. Ihrer Auffassung nach wird es kaum eher als in fünf bis sechs Jahren gelingen, das Fördervolumen durch die planmäßige Inbetriebnahme von Phase 2 des Shah-Deniz-Gasfelds zu erhöhen. Außerdem wächst in diesem Zeitraum möglicherweise der Eigenbedarf Aserbaidschans, und auch das für den einheimischen Markt verfügbare Begleitgas kann knapp werden. Hinsichtlich weiterer Förderprojekte in Aserbaidschan stellen die Experten fest, dass diese sich bisher in der Frühphase befinden und die Perspektiven für ihre Entwicklung daher nicht sehr klar sind.
Für Baku stellt sich nun verschärft die Frage, inwieweit die Gaslieferungen rentabel sind, da allein in die Erschließung des Erdgasfelds Shah Deniz mehr als 46 Milliarden US-Dollar investiert wurden. Aserbaidschan braucht unbedingt neue Investitionen, auch im Hinblick darauf, dass einige der natürlichen Vorkommen des Landes bald erschöpft sein werden. Die europäischen Erdöl- und Erdgasgesellschaften und Investitionsbanken sind unter diesen Umständen jedoch nicht zu neuen Kapitalanlagen bereit. Sie wollen zunächst abwarten, bis das TANAP-Projekt die Stufe der maximalen Auslastung erreicht, bevor sie ausgehend von finanziellen Erwägungen erneut Infrastruktur-Projekte mit Aserbaidschan erörtern. Dies wird nicht vor 2021 der Fall sein.
Dass die Europäer, wie von Baku sehnlichst erwartet, langfristige Verträge über den Bezug aserbaidschanischen Erdgases unterzeichnen, wird jetzt ausschließlich von dessen Wettbewerbsfähigkeit auf dem südosteuropäischen Markt abhängen, wo in naher Zukunft der Bau neuer Flüssiggasterminals erwartet wird. Das Projekt für ein Flüssiggasterminal in Alexandroupoli in Griechenland hat den Status eines Projekts von gesamteuropäischem Interesse erhalten und stellt eine Priorität für die EU dar, zudem wurde kürzlich das Flüssiggasterminal Revithoussa erweitert. Zwar spürt auch der Flüssiggasmarkt den Einfluss der ungünstigen Weltkonjunktur, kann es Experten zufolge jedoch schaffen, mit wesentlich geringeren Verlusten aus der Rezession herauszukommen als Aserbaidschan, der „Neuling“ auf dem europäischen Markt. Und angesichts der Instabilität der Gaspreise ist bisher nicht klar, welche Formel bei den Verträgen des Südlichen Gaskorridors zur Preisberechnung zugrunde gelegt werden soll. Die neuesten Entwicklungen auf den Weltmärkten lassen vermuten, dass Baku sich mit dem Projekt am Scheideweg befindet.