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Am 14. Februar 2024 kündigte Russland die Einstellung seiner jährlichen Beitragszahlungen an den Arktischen Rat an, das wichtigste internationale Kooperationsforum für die Anrainerstaaten der Arktis. Der Rat setzt sich aus acht Mitgliedstaaten, sechs ständigen Vertretern der Ureinwohner und 38 Beobachtern zusammen. https://www.reuters.com/world/russia-suspends-annual-payments-arctic-council-ria-agency-reports-2024-02-14/
Dieser Schritt macht offiziell, was de facto vorher schon der Fall war: die Abspaltung des größten Arktisstaates von den restlichen Mitgliedern des Rates. Russland war im Arktischen Rat bereits wenige Wochen nach seinem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 isoliert worden. Die anderen Mitgliedstaaten (die USA, Kanada, Dänemark, Norwegen, Island, Schweden und Finnland) hatten damals ihre Zusammenarbeit auf Eis gelegt. Doch jede Leere strebt danach, gefüllt zu werden, und die Folgen von Russlands Fehlen am internationalen Verhandlungstisch in der Arktis könnten weit besorgniserregender sein als vom Rest der Welt erwartet.
Die Natur hat keinen Pausenknopf
Die Entscheidung der westlichen Demokratien, aus der Zusammenarbeit mit Russland auszusteigen, war Teil der umfassenden wirtschaftlichen und politischen Sanktionen gegen das Land nach der Invasion vom Februar 2022. Russland, das zum damaligen Zeitpunkt den Vorsitz im Arktischen Rat innehatte, wurde zwar nicht offiziell ausgeschlossen, doch zogen sich die anderen Mitgliedstaaten bis Mai 2023 aus der Zusammenarbeit zurück. Nach dieser Unterbrechung entschieden sie, dass Norwegen den Vorsitz übernehmen und dass der Rat seine Arbeit ohne Russland fortsetzen solle. Beinahe ein Drittel der 130 Projekte des Rates liegt dadurch jetzt auf Eis, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. https://www.reuters.com/world/russia-suspends-annual-payments-arctic-council-ria-agency-reports-2024-02-14/
Die Zusammenarbeit ist allerdings nicht komplett eingestellt worden. Moskau behält sich eine Rückkehr in den Arktischen Rat vor: laut Außenministerium wurden die Zahlungen „vorläufig einstellt, in Erwartung der Wiederaufnahme der pragmatischen Zusammenarbeit mit allen Mitgliedsstaaten.“
Auf regionaler Ebene, wie beispielsweise bei Such- und Rettungsaktionen, lief die Zusammenarbeit die ganze Zeit über weiter. Die meisten offiziellen Kanäle sind jedoch blockiert, da verständlicherweise niemand als Kollaborateur wahrgenommen werden will. Dadurch ist die Forschung, einer der wichtigsten Faktoren für die Abmilderung der Folgen des Klimawandels in der Arktis, zum Stillstand gekommen. Die Natur kann jedoch nicht einfach auf den Pausenknopf drücken – sowohl 2022 als auch 2023 wurden im Sommer neue Hitzerekorde aufgestellt.
Die Artis, das neue Klondike
Der Klimawandel hat der Arktis einen üblen Streich gespielt: schmelzendes Eis und der tauende Permafrostboden haben den Zugang zu den riesigen Bodenschätzen der Region erleichtert. Man geht momentan davon aus, dass sich etwa 10 Prozent der weltweiten Ölvorkommen und 25 Prozent der Gasreserven in der Arktis befinden, hauptsächlich auf dem Festland. Außerdem finden sich 22 Prozent der noch unentdeckten weltweiten Öl- und Gasvorkommen in dieser Region. https://arctic.review/economy/oil-and-gas/
Die Arktis ist außerdem reich an Seltenerdmetallen, die für die Wirtschaft von allergrößter Bedeutung sind, vor allem für die Herstellung elektronischer Geräte. https://www.researchgate.net/figure/Share-of-Arctic-Zone-in-world-reserves-and-mining-of-main-metals_tbl1_287972704 Bis zu 40 Prozent des weltweit geförderten Palladiums, 15 Prozent des Platins und 14 Prozent des Nickels kommen aus der Arktis.
Das Abschmelzen des Eises beschleunigt auch den Transport. Dies gilt für umstrittene Projekte wie Chinas Polare Seidenstraße und Russlands Nördlichen Seeweg, die Eurasien im Norden umschiffen, sowie für die Nordwestpassage, die die Beringstraße mit dem Atlantik verbindet und damit Amerika im Norden umgeht. Dies ist jedoch noch nicht alles: wenn die arktischen Gewässer eisfrei sind, können auf hohen Breitengraden Glasfaserkabel verlegt werden. Diese wären dann viel kürzer als die jetzt genutzten Kabel, wodurch sich die Geschwindigkeit der Datenübertragung zum Vorteil des Welthandels und der Finanzmärkte steigern ließe.
Wer füllt die Leere?
Es überrascht daher nicht, dass immer mehr Großmächte die Arktis zu einem Gebiet von nationalem Interesse erklären. Gleichzeitig ist es jedoch so, dass jegliche wirtschaftliche Nutzung der Arktis den unvermeidlichen ökologischen Wandel beschleunigt. Bereits jetzt erwärmt sich die Region dreimal so schnell wie der Rest der Welt, wodurch eine Zusammenarbeit und Abstimmung der wirtschaftlichen Aktivitäten buchstäblich überlebenswichtig für die Menschheit ist. Russlands Rückzug aus der Zusammenarbeit bedroht das bisherige relativ stabile Gleichgewicht in der Arktis. Über 50 Prozent der Landmasse und 45 Prozent des Gesamtgebietes sind russisches Territorium. Obwohl das Land den anderen sieben Mitgliedern des Arktischen Rates formal gleichgestellt ist, übt es dadurch de facto einen viel größeren Einfluss auf die Region aus als die anderen Anrainerstaaten.
Ironischerweise boomt die russische Wirtschaft in der Arktis. Regionale LNG-Hersteller freuen sich über eine enorme Nachfrage dank der rekordhohen Gaspreise in Europa in den Jahren 2022 und 2023 und der Entscheidung der EU, die russische Pipelineinfrastruktur nicht mehr zu nutzen. Laut russischen Fachleuten enthält das russische Arktisgebiet etwa 70 Prozent der gesamten Gasvorkommen der Arktis. https://www.e3s-conferences.org/articles/e3sconf/pdf/2023/15/e3sconf_iirpcmia2023_06007.pdf Die meisten der bislang entdeckten rund 350 Vorkommen von Öl und Gas befinden sich auf dem Festland, lediglich etwa 30 unter dem Meer. Insgesamt geht man jedoch davon aus, dass ein Großteil der Vorkommen nicht auf dem Festland liegt. Und hier wird es kompliziert: Russland ist jetzt aufgrund der Sanktionen praktisch abgeschnitten von der Möglichkeit, modernste Fördertechnik einzusetzen und hat daher große Schwierigkeiten bei der Erschließung dieser Vorkommen.
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Aufgrund der US-amerikanischen Sanktionen können nicht einmal China oder die anderen nicht-westlichen Partner bei den wichtigsten Offshore-Gasprojekten wie Arctic LNG 2, Yamal LNG und Sachalin 2 Russland die notwendige Technologie zur Verfügung stellen. Aufgeben kommt jedoch für Russland nicht in Frage. Das Land wird sich zweifellos mit anderen Partnern zusammentun oder die arktischen Vorkommen mit veralteter Technik fördern. Da die traditionellen Partner in der Arktis jetzt nicht mehr zur Verfügung stehen, wird Russland wohl neue Akteure auf die arktische Bühne bringen.
China und Indien, die neuen Arktisstaaten?
Wie bereits beschrieben haben viele einflussreiche Länder ihr Interesse an der Arktis bekundet. Die zwei wichtigsten Staaten, an die Russland sich wenden kann, sind China und Indien. Beide haben mittlerweile eine eigene Arktisstrategie und betreiben in diesem Bereich Realpolitik, wobei sie zum Schutz ihrer Investitionen auch vor militärischer Gewalt nicht zurückschrecken.
China hat seine Arktisstrategie 2018 veröffentlicht und sich darin zu einem “arktisnahen Staat“ erklärt. https://english.www.gov.cn/archive/white_paper/2018/01/26/content_281476026660336.htm Die Strategie hebt die Bedeutung der Forschung und des Umweltschutzes in der Arktis hervor. China betreibt momentan zwei ständig besetzte Forschungsstationen im Polargebiet: Die Yellow River Station auf Svalbard, Norwegen, sowie das China Iceland Arctic Research Observatory (CIAO) im Norden Islands. Beide Standorte befassen sich mit den Bereichen Atmosphärenforschung, Weltraumforschung und Meeresforschung.
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Die Arktisstrategie betont auch die internationale Bedeutung der Region. Die Rolle der acht Anrainerstaaten wird zwar anerkannt, doch kündigt China auch an, selbst einen größeren Einfluss auf die Erschließung der natürlichen Ressourcen der Arktis und die Gewährleistung der Sicherheit nehmen zu wollen.
Fünf Jahre nach Veröffentlichung der Strategie lag China genau im Zeitplan. Im April 2023 unterzeichneten die chinesische Küstenwache und die FSB-Küstenwache Russlands ein wegweisendes Memorandum über eine intensive Zusammenarbeit in den arktischen Gewässern. https://thebarentsobserver.com/en/security/2023/04/russias-arctic-coast-guard-cooperation-china-big-step-expert Im Nachgang wurde eine chinesische Beobachterdelegation zu der seit langem geplanten Übung zur Gefahrenabwehr auf See, Arctic Patrol 2023, eingeladen. Wirtschaftliche Zusammenarbeit stand ebenfalls auf der Tagesordnung: es wurde ein Zeitplan für gesteigerte wirtschaftliche Aktivität, Schiffbau und Projekte im Rahmen der Polar-Seidenstraße besprochen.
Die Zusammenarbeit zwischen China und Russland gestaltet sich jedoch nicht ganz unproblematisch. Die Verhandlungen der beiden Länder gestalteten sich in der Vergangenheit häufig sehr zäh, und sie standen sich in gewissen Regionen als Rivalen gegenüber. In ihrem 2023 veröffentlichten Buch Red Arctic: Russian Strategy Under Putin schreibt Dr. Elizabeth Buchanan von der Australian National University, dass die Präsenz Chinas in der russischen Arktisregion die Sicherheitsrisiken erhöht, wodurch auch die Umweltrisiken wachsen. https://www.google.at/books/edition/Red_Arctic/OAr2DwAAQBAJ?hl=ru&gbpv=0https://moes.gov.in/sites/default/files/2022-03/compressed-SINGLE-PAGE-ENGLISH.pdf
Indien hat seine Arktisstrategie 2022 vorgelegt. Das Land verfolgt ähnliche Interessen wie China. Dazu gehören Forschung, Umweltschutz, Transportmöglichkeiten, sowie die Ausweitung des indischen Einflussbereichs, die menschliche Entwicklung und die Sicherheit. Auch Indien verfügt über zwei ständige Forschungsstationen in der Arktis, die Station Himadri in Norwegen und das IndARC-Unterwasserobservatorium, das sich auf die Beobachtung des Klimawandels und den Einfluss der Arktis auf den Monsun konzentriert.
Indien ist auch an einer Zusammenarbeit mit Russland interessiert, auch im Bereich Sicherheit, was in den USA zu heftigen Diskussionen darüber führt, ob Indien in die neue amerikanische Verteidigungsstrategie für die Arktis aufgenommen werden sollte. https://www.highnorthnews.com/en/polar-tiger-why-india-must-be-included-new-us-arctic-defense-strategy
Neben China und Indien haben auch Saudi-Arabien und sogar Pakistan ihr Interesse an der Arktis bekundet, jedoch bislang ohne eigene Strategien vorzulegen. Auch Japan und Südkorea sind interessiert und haben entsprechende Strategien ausgearbeitet.
Zusammengefasst: Wenn sich Russland durch die anderen Mitglieder des Arktischen Rates in die Ecke gedrängt fühlt, hat es durchaus andere Optionen für eine Zusammenarbeit. Eine tatsächliche Internationalisierung der Arktis hätte gesteigerte wirtschaftliche Aktivitäten zur Folge, die die Umwelt und damit das Klima gefährden würden. Anders als in anderen internationalen Foren wie der OECD und der G7 hat es Russland momentan nicht eilig mit einem kompletten Ausstieg aus dem Arktischen Rat. Doch das Eis wird von Tag zu Tag dünner.