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Der Angriff Russlands auf die Ukraine und die darauffolgenden beispiellosen Sanktionen haben Schockwellen auf dem Weltmarkt ausgelöst – jahrzehntealte Handelsbeziehungen stehen möglicherweise kurz vor dem Zusammenbruch. Der Energiesektor ist einer der am schwersten betroffenen Bereiche.
Russland läuft Gefahr, den ganzen westlichen Energiemarkt als Abnehmer zu verlieren. Die USA haben zumindest bereits einen Einfuhrstopp für russisches Öl und LNG verhängt, Großbritannien verabschiedete sich vom russischen „schwarzen Gold“, und die EU kündigte an, die russischen Energielieferungen innerhalb von ein paar Jahren schrittweise auf null zurückfahren zu wollen.
Im Ergebnis werden Russlands Lieferströme unweigerlich radikal umgelenkt werden. Bei seiner Abwendung vom Westen und seiner Hinwendung zum Osten wird China die Schlüsselrolle spielen. Wahrscheinlich wird China auch der Hauptnutznießer der weltweiten wirtschaftlichen Umwälzungen sein.
In der Volksrepublik herrscht seit mehreren Jahrzehnten Energiemangel, weshalb das Interesse an den russischen Energieträgern dort sehr groß sein dürfte. Peking benötigt das russische Gas außerdem für die Übergangsphase der Energiewende, in der die erneuerbaren Energien ausgebaut und riesige Solar- und Windparks errichtet werden sollen.
Die Sanktionen sorgen außerdem dafür, dass die russischen Energieträger immer günstiger werden. Der russische Gaspreis für China ist ohnehin sehr niedrig und attraktiv, da er mit neunmonatiger Verzögerung an den Ölpreis gekoppelt ist. So bezahlte China auch in der Vergangenheit für russisches Gas schon weniger als für Lieferungen aus Turkmenistan und Usbekistan und sogar deutlich weniger als für Gas aus Myanmar. Jetzt könnte der Preis für Lieferungen nach China noch weiter sinken: Die chinesische Führung weiß nur allzu gut, dass China nun der Hauptabnehmer der russischen Energieträger ist.
Für Russland stellt sich die Lage weniger rosig dar: Durch die umfassenden Sanktionen kann Moskau Peking, anders als der EU, nicht die Preise
diktieren. Beim Handel mit China ist der Käufer im Vorteil: während Russland früher bei Verhandlungen mit China durchaus einen gewissen Spielraum hatte, können jetzt die Chinesen Russland ganz einfach ihre Bedingungen diktieren. Aus diesem Grund ist es sehr wahrscheinlich, dass Moskau ihnen sein Gas zu reduzierten Preisen wird verkaufen müssen. China wird wohl kaum der Versuchung widerstehen können, seine Position als Hauptabnehmerland auszunutzen.
Auch sein Erdöl wird Russland günstig an China liefern müssen, da sich die europäischen Länder eines nach dem anderen auch von dem abkehren, was noch nicht unter die offiziellen Sanktionen fällt, und dazu gehört auch das russische Öl. Aus diesem Grund erreichte der Preisabfall beim russischen Erdöl Anfang März einen Rekordstand von 25-28 Dollar pro Barrel.
Russland wird sich unweigerlich erneut in die Abhängigkeit von seinem größten Abnehmer begeben: auf die jahrelange Abhängigkeit vom europäischen Markt könnte eine noch größere Abhängigkeit von China folgen. Moskau hat bereits vor langer Zeit versucht, einen strategischen Ausweg aus dieser Abhängigkeit zu finden, doch ohne Erfolg. Das Land wird in den nächsten Jahrzehnten keine andere Wahl haben, als China zu beliefern, um den Verlust der westlichen Märkte auszugleichen.
Russland wird jetzt wohl kaum ohne China auskommen, das den Löwenanteil seiner Energieexporte abnimmt. Umgekehrt ist Russland für China lediglich eines von vielen Lieferländern. Die Volksrepublik setzt nicht alles auf eine Karte, sondern versucht seit Langem, ihr Erdöl und Erdgas bei so vielen Lieferanten wie möglich zu kaufen, was die EU leider nicht von sich behaupten kann. Ganz auf russische Energieträger verzichten kann natürlich auch Peking nicht, doch ist es China ein Leichtes, Russland seine Bedingungen vorzugeben. Russland ist in China beim Erdgas jetzt der zweitgrößte Lieferant nach Turkmenistan, beim LNG steht es an fünfter Stelle nach Australien, Katar, Malaysia und Indonesien. Beim Erdöl liefert nur Saudi-Arabien mehr an China. An Konkurrenten herrscht also kein Mangel.
Natürlich ist Moskau daran gelegen, die Liefermengen für China zu erhöhen und so zumindest teilweise die Verluste im Westen auszugleichen. Wenn der Westen sich vollständig vom russischen Öl und Gas verabschiedet, können die Lieferungen nach China gesteigert werden, da die Nachfrage nach Öl und Gas dort enorm ist. Davon geht zumindest der Leiter des Zentrums für die sozialökonomische Erforschung Chinas am Fernostinstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften, Andrej Ostrowskij, aus. „Der chinesische Markt ist so groß, dass er beliebige Mengen schlucken kann. Außerdem gibt es in Asien noch einige andere Länder, die dringend Öl brauchen. Anders ausgedrückt: Moskau muss sich so schnell wie möglich nach Osten umorientieren“, so Ostrowskij.
Allerdings wird Russland hierbei schnell auf eine Hürde stoßen: der Mangel an Transportkapazitäten ist eklatant. Experten gehen davon aus, dass Russland jährlich etwa 70 Milliarden Kubikmeter Gas und 80 Millionen Tonnen Rohöl weniger nach Westen schicken wird.
Mit China ist Russland bislang nur über eine einzige aktive Pipeline verbunden, die „Kraft Sibiriens“. Ihre geplante Kapazität liegt bei 38 Milliarden Kubikmetern pro Jahr, doch dieses Volumen wird erst 2025 erreicht werden.
Anfang Februar dieses Jahres unterzeichnete Gazprom mit China einen langfristigen Vertrag über die Lieferung von Gas über die Ostsibirien-Pazifik-Pipeline. Der Vertrag sieht eine Erhöhung der Liefermenge um 10 Milliarden Kubikmeter vor. Es gibt auch noch ein drittes Pipeline-Projekt, die „Kraft Sibiriens 2“, dessen technische und wirtschaftliche Planungsphase im Januar abgeschlossen wurde. Die geplante Kapazität beträgt 50 Milliarden Kubikmeter jährlich, doch der Baubeginn soll erst 2024 sein.
Insgesamt bedeutet dies, dass der Export von Gazprom nach Europa momentan von einer ganz anderen Größenordnung ist als der nach China. Und es fehlen die Pipelines, über die man die Liefervolumina nach China umlenken und so die europäischen Verluste ausgleichen könnte.
Beim Erdöl für China wird Russland es mit einer verschärften Konkurrenz um den chinesischen Markt zu tun bekommen, in erster Linie seitens der nahöstlichen Ölländer.
Steven Wright, Politikwissenschaftler an der Hamad Bin Khalifa-Universität in Katar, glaubt, dass der chinesische Markt der Hauptabsatzmarkt für alle Ölproduzenten werden wird und dass Russland versuchen muss, sich dort gegen die arabischen Ölstaaten durchzusetzen. „Russland wird versuchen, die alteingesessenen Öllieferanten vom Persischen Golf aus dem chinesischen Markt zu verdrängen – Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, den Oman. Dabei steht Peking vor der Aufgabe, ein Gleichgewicht zwischen den russischen Lieferungen und denen seiner althergebrachten Partner vom Persischen Golf zu finden. China wird zum wichtigsten Wirtschaftspartner der Länder des Nahen Ostens werden, die schon jetzt wirtschaftlich enger mit China verbunden sind als mit den USA, und diese Verbindung wird noch enger werden“, so Wright.
Höchstwahrscheinlich wird China mit dem russischen Öl noch hinzuverdienen können, indem es das Öl in seinen Raffinerien weiterverarbeitet und die Raffinationsprodukte dann an andere Länder verkauft, die sich am Ölembargo gegen Russland beteiligen. Im März unterzeichnete China mit Saudi-Arabien einen gigantischen Vertrag über 10 Milliarden US-Dollar für den Bau einer Ölraffinerie im Nordosten des Landes durch das saudische Staatsunternehmen Aramco. Die Anlage wird dazu beitragen, die steigende chinesische Nachfrage nach Raffinationsprodukten aus den Bereichen Energie und Chemie zu befriedigen. Die geplante Kapazität von 300 000 Barrel pro Tag ist laut Experten selbst für einen so großen Markt wie China außergewöhnlich groß.
Wettbewerb führt immer zu Preissenkungen, und Russland rechnet damit, dank seiner attraktiven Preise ein vielversprechender Partner für China zu werden. Daher geht man in Moskau davon aus, dass China dem Druck der USA, die Lieferungen aus Russland einzuschränken, nicht nachgeben wird. Davon zeugen zumindest die Gespräche zwischen US-Präsident Joe Biden und dem chinesischen Staatschef Xi Jinping im März 2022. Bislang ist es den Amerikanern noch nicht gelungen, China davon zu überzeugen, sich den Sanktionen gegen Russland anzuschließen.