Wie der globale Energiemarkt der Zukunft aussehen wird, hängt in entscheidendem Maße von der Frage ab, ob die Energiesicherheit Europas durch wirtschaftlich rentable Projekte gewährleistet werden kann. In diesem Kontext wächst sogar erneut das Interesse an Energieprojekten, die vom wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet eigentlich nicht sinnvoll sind. Dies wiederum zeugt davon, dass die Weltwirtschaft sich auf das Ende der pandemiebedingten Rezession und auf eine eventuell steigende Nachfrage nach Energieträgern vorbereitet, der u. a. auch mit „neuen“ Energiequellen und Lieferregionen begegnet werden könnte.
Zu den Vorhaben, die in der letzten Zeit wieder verstärkt erörtert werden, zählt das Projekt der Ionisch-Adriatischen Erdgaspipeline (IAP). Es ist seit 2007 im Gespräch und gilt als einer der Abschnitte des großen Systems zur neuen infrastrukturellen Erschließung des Balkans und Südosteuropas insgesamt. Diese Pipeline soll von der Stadt Fier in Albanien bis nach Split in Kroatien führen und sowohl an die Transadriatische Pipeline als auch an das Flüssiggas-Terminal „Adria“ bei Krk (Kroatien) angeschlossen werden.
Das Projekt befindet sich noch in der Entwicklungsphase, auch wenn es seit 2007 immer wieder zu Aktivitätsschüben kommt. Die Trans Adriatic Pipeline AG hat eine Absichtserklärung mit den Projektentwicklern, darunter Plinacro (Kroatien) und BH-Gas (Bosnien und Herzegowina), und mit den Regierungen Montenegros und Albaniens unterzeichnet. Praktische Schritte zur Verwirklichung des Vorhabens sind seither jedoch kaum erfolgt.
Der Bau einer Pipeline auf der mehr als 500 Kilometer langen Strecke ist technisch besonders komplex – zum einen aufgrund der ökologischen Besonderheiten der Adria, zum anderen durch die Notwendigkeit, den Gastransport in beide Richtungen zu gewährleisten. Und dies ist angesichts der Tatsache, dass die USA ihr Flüssiggas nach Südeuropa liefern wollen, nicht nur in technischer, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht von Bedeutung für das Vorhaben. Bei einer wirtschaftlich begründeten Entscheidung ließen sich grundsätzlich auch sämtliche technischen Fragen lösen. Der Grund für eine so offensichtliche Ausbremsung des Vorhabens ist eben der wirtschaftliche Aspekt – es wird als ökonomisch nicht sinnvoll erachtet.
Die Durchleitungskapazität der Pipeline von 4-5 Mrd. Kubikmeter pro Jahr ist der Region voll und ganz angemessen. Dies bedeutet jedoch, dass das Projekt sich nur verhältnismäßig langsam amortisieren würde und die Attraktivität für Anfangsinvestitionen gering ist. Bezeichnenderweise wurden weder Angaben über den Umfang der für das Vorhaben notwendigen Investitionen veröffentlicht (was sich durch ungeklärte „Umweltfragen“ im Zusammenhang mit dem Projekt und die ebenfalls nicht geklärte Frage nach den Kosten für relevante Sicherheitssysteme erklären lässt) noch Einschätzungen dazu, in welchen Zeiträumen sich das Vorhaben amortisieren würde.
Ungeachtet der Ende letzten Jahres unternommenen diplomatischen Versuche, das Vorhaben der Ionisch-Adriatischen Pipeline neu zu beleben, äußern die Regierungen der Balkan-Staaten und die am Projekt beteiligten Unternehmen (Albgaz, BH-Gas, Montenegro Bonus und Plinarco) ernsthafte Zweifel daran, dass 2022-2023 mit dem Bau der Pipeline begonnen werden kann. Hier zeigt sich erneut, dass die politischen, wirtschaftlichen und investitionsbezogenen Aspekte des Projekts nicht miteinander in Einklang stehen.
Das Hauptproblem besteht darin, dass den staatlichen Unternehmen die notwendigen Aktiva sowie ein Plan zur finanziellen Absicherung des Vorhabens fehlen, was das geringe Interesse von Investitionseinrichtungen an diesem Projekt widerspiegelt. Dies lässt sich leicht erklären: Angesichts der instabilen Lage auf dem globalen Finanzmarkt und einer von einer lang andauernden pandemischen Stagnation geprägten Situation, in der sich Europa am Vorabend einer Krise befindet, sind die Möglichkeiten, in ein Projekt zu investieren, das sich bestenfalls nach sehr langer Zeit amortisieren wird, äußerst begrenzt.
Das Hauptproblem sind die Unstimmigkeiten zwischen den potenziellen Beteiligten an besagtem Vorhaben. Kroatien, Hauptabnehmer des Erdgases auf der IAP-Route, hat vor kurzem ein Flüssiggasterminal vor der Insel Krk in Betrieb genommen, mit dem es bis zu 2,6 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr in sein nationales Gasverteilnetz einspeisen kann, was 80% des Gesamtenergiebedarfs des Landes entspricht. Und die Hauptsache für Kroatien ist, dafür zu sorgen, dass das eigene Terminal vollständig rentabel ist. Albanien, das sich in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage befindet und vor allem auf finanzielle Effektivität achtet, hält es für notwendig, ausgehend von der Strecke der Transadriatischen Pipeline seine eigene Infrastruktur weiterzuentwickeln statt in die Transitkapazitäten der IAP zu investieren, umso mehr als ein gesicherter Absatz offensichtlich nur in geringem Umfang erfolgen könnte. Die Situation wird zusätzlich dadurch erschwert, dass unklar ist, ob es nach den Verschiebungen in den politischen Verhältnissen in Montenegro zu einer Beteiligung des Landes an dem Projekt kommen wird, obwohl dies für den wirtschaftlichen Aspekt des Vorhabens von eher geringer Bedeutung ist.
Dazu gesellen sich Zweifel an der Bereitschaft der EU-Institutionen, unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen Bedingungen Mittel für den Start des Projekts zur Verfügung zu stellen. Dies umso mehr, als ein beschleunigter Bau der Pipeline die Energiesicherheit in der Region nicht wesentlich erhöhen würde. Und der Energiemarkt insgesamt würde sich dadurch nur geringfügig verändern. Jedenfalls werden keine Perspektiven für eine Marge gesehen, die über der wirtschaftlich erwartbaren Gewinnspanne liegt, trotz eines gesicherten Marktanteils beim Gasabsatz. Problematisch ist, dass dieser Marktanteil bisher auf ein einzelnes Land begrenzt ist, auf Kroatien, und dass er auch nur mittelfristig gesichert ist – ein Zeitraum, in dem sich das Projekt noch nicht amortisiert hätte.
Etwas anders würde sich die Situation gestalten, wenn das Gasleitungsnetz Richtung Norden (Italien, Frankreich) erweitert und das Vorhaben auf 10 Mrd. und langfristig auf 12 Mrd. Kubikmeter Erdgas pro Jahr aufgestockt würde. Dies würde jedoch umfangreiche Anfangsinvestitionen erforderlich machen, und die technische Seite des Projekts würde deutlich komplexer ausfallen. Vor allem aber wäre eine Überprüfung vieler Elemente des so genannten „Vertikalen Korridors“ bei Energielieferungen erforderlich, eines Konzepts, das Mitte der 2010er Jahre de facto von der EU angenommen wurde, durch das aktuelle Geschehen jedoch inzwischen teilweise obsolet ist.
Offenbar ist aus organisatorischer Sicht und im Hinblick auf Investitionen der Boden für die Verwirklichung des Vorhabens noch nicht bereitet. Dadurch ist es unmöglich, wirklich attraktive Investitionsangebote zu unterbreiten. Es gäbe nur die Möglichkeit, die IAP geopolitisch aufzuwerten. In diesem Fall wäre jedoch der Hauptnutznießer oder sogar alleinige Nutznießer die Türkei, die über bedeutenden wirtschaftlichen und politischen Einfluss in Albanien verfügt. Das Gewicht der anderen potenziellen Projektbeteiligten auf der Bühne der Weltwirtschaft kann sich mit demjenigen Ankaras nicht messen. Es entstünde eine Situation, in der ein vermutlich mit EU-Geldern gefördertes Projekt die Möglichkeiten türkischer Einflussnahme ausgerechnet in einer derjenigen Regionen vergrößern würde, in denen Europa am verwundbarsten ist.
Zusammenfassend lassen sich folgende Faktoren benennen, die die Perspektiven des IAP-Projekts beeinflussen:
- die mangelnde Fähigkeit, sich ein Paket von Anfangsinvestitionen zu verschaffen, das in diesem Fall wegen der technischen Komplexität des Projekts jedoch von entscheidender Bedeutung ist. Dieser Faktor ist im Moment entscheidend. Und solange er nicht beseitigt wird, kann das IAP-Projekt höchstens theoretisch erörtert werden.
- die Notwendigkeit, die Lieferkapazitäten zu garantieren. Da die grundlegende Projektkapazität als gering veranschlagt wird, ist dieser Faktor von geringerer Bedeutung als bei anderen Projekten, aber er ist durchaus von Belang.
- politisch unlösbare, nichtwirtschaftliche Risiken (Umweltauflagen). Dies betrifft sowohl die EU als auch potenzielle amerikanische Projektbeteiligte.
- die unübersichtliche Lage bei anderen Projekten, die mit der Verwirklichung von Plänen zur infrastrukturellen Neuerschließung des Balkans, deren Teil die IAP ist, in Verbindung stehen. Die IAP kann natürlich auch als gesondertes Projekt realisiert werden, jedoch würde sie dann für Investoren erheblich an Attraktivität einbüßen.
Es lässt sich vermuten, dass das gestiegene Interesse Brüssels am IAP-Projekt weitgehend informationstechnisch-manipulativer Natur ist, da die EU unter den gegenwärtigen Voraussetzungen versucht, zumindest teilweise zur Anfangsversion des „Vertikalen Korridors“ zurückzukehren. Genauso manipulativ ist auch das Interesse der USA, die die Bedeutung Serbiens als eines der Zentren der Gasverteilung in Südeuropa schmälern wollen. Erkennbar ist zudem das Ziel, weitere wirtschaftliche Unterstützer für Albanien zu finden, um den wirtschaftlichen Niedergang des Landes zu verhindern. Das Hauptproblem besteht darin, dass die Pipeline von Gaslieferungen auf der „türkischen“ Route abhängig wäre, was unweigerlich die Rolle der Türkei auf dem europäischen Gasmarkt stärken würde. Daher besteht die Gefahr einer Unterstützung des IAP-Projekts durch protürkische Kräfte, die beträchtliche finanzielle Interessen in Albanien verfolgen.