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Die Europäische Kommission hat der ohnehin schon langen Liste von Außenhandelssanktionen nun auch noch ein Importverbot für Flüssiggas aus Russland hinzugefügt. Obwohl der russische Anteil an den Einfuhren gering ist, könnte das Verbot in einer Reihe von europäischen Wirtschaftssektoren zu Unruhe führen.
2024 ist wiederum ein Jahr, das große strukturelle Umwälzungen in den Volkswirtschaften der EU mit sich bringt. Sofern es keine bedeutende Richtungsänderung in der Außenpolitik Brüssels gibt, ist ab Jahresende die Einfuhr von Flüssiggas (LPG) aus Russland verboten. Diese Maßnahme ist Teil des zwölften Sanktionspakets der EU vom Dezember 2023, das jedoch zwecks der notwendigen Anpassungen seitens der Marktteilnehmer erst nach einer zwölfmonatigen Übergangsfrist in Kraft tritt. Bis zum 20. Dezember dieses Jahres dürfen daher Lieferverträge für Flüssiggas, die vor dem 19. Dezember 2023 geschlossen wurden, noch bedient werden.
Was genau ist Flüssiggas?
Flüssiggas entsteht bei der Verarbeitung von Erdöl und der Förderung von Erdgas. Das Gas ist eine Mischung aus Propan und Butan, die durch Komprimierung verflüssigt und dann bei niedrigen Temperaturen aufbewahrt wird. Flüssiggas kommt in verschiedenen Bereichen zum Einsatz, vom Energiesektor bis zur Chemieindustrie, darunter auch bei der Kunststoff- und Kunstdüngerherstellung. Da die konventionellen Energiequellen wie Kohle und Erdöl in der EU immer weiter in den Hintergrund treten, entwickelt sich Flüssiggas zu einem wichtigen Bestandteil der Energiestrategie – in erster Linie als Reserve für den Fall einer Energiekrise. Dank seiner hohen Energiedichte und der relativ niedrigen Emissionen (35 Prozent weniger als Kohle und 12 Prozent weniger als Erdöl) ist Flüssiggas auch als alternativer Kraftstoff im Straßen- und Schiffsverkehr weit verbreitet. Nach Angaben des Verbandes Liquid Gas Europe kann im Übrigen praktisch die gesamte Flüssiggas-Infrastruktur auch für Bio-Flüssiggas genutzt werden, dessen Herstellung voraussichtlich in den nächsten Jahren zunehmen wird.
Russlands Anteil ist gering, doch für einige Branchen lebenswichtig
Die europäische Wirtschaft ist beim Flüssiggas stark von Einfuhren abhängig, da die innereuropäische Produktion begrenzt ist. Nach Angaben der EU-Kommission kamen 2023 etwa sechs Prozent der gesamten Importe aus Russland (Gesamtwert: mehr als eine Milliarde Euro). Da die Übergangsfrist nur für „alte“ Verträge gilt, gingen die russischen Flüssiggastransporte per Schiff in Richtung EU im ersten Quartal 2024 verglichen mit dem Vorjahreszeitraum um 52 Prozent auf insgesamt 54 000 Tonnen zurück, so die Seeverkehrs-Analysefirma Vortexa. Eine Milliarde Euro klingt zwar nicht nach einer großen Summe für den riesigen europäischen Markt, und das Embargo wird auch kaum die russische Wirtschaft zum Stillstand bringen oder ihr signifikanten Schaden zufügen. Doch die Menge, um die es geht, ist durchaus groß genug, um in verschiedenen Wirtschaftssektoren einen Dominoeffekt auszulösen – der Schuss wird wahrscheinlich nach hinten losgehen.
Ungeachtet dessen sind viele EU-Mitgliedstaaten kategorisch gegen jeglichen Kompromiss. Vor allem die lettische Regierung tat sich mit Aufrufen an die Wirtschaft hervor, die Flüssiggaseinfuhren baldmöglichst zu beenden und sich rechtzeitig auf die zu erwartenden Sanktionen vorzubereiten. Die lettische Ministerpräsidentin Evika Siliņa erklärte, es sei verständlich, dass die Wirtschaft eine Übergangsfrist benötige, um langfristige Lieferverträge beenden zu können. Viktors Valainis, der lettische Wirtschaftsminister, ist der Ansicht, die Sanktionen seien ein gutes Beispiel dafür, wie die EU höhere Ziele wie den Schutz des Binnenmarktes und den Übergang zu anderen Energiequellen erreichen könne.
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Gleichzeitig weisen Fachleute darauf hin, dass dieser Schritt die Verfügbarkeit von Flüssiggas verschlechtern könnte. Der Preis wird für alle Branchen deutlich ansteigen: um 15 bis 40 Prozent. Kurzfristig, so wird gewarnt, könnte der gesamteuropäische Kraftstoffmarkt aus dem Gleichgewicht geraten, da in der EU über 10 Millionen Fahrzeuge (etwa 4 Prozent der Gesamtmenge) mit Autogas betrieben werden. Vor dem Hintergrund der steigenden Nachfrage nach Benzin und Diesel könnte dies zu Preissteigerungen und einem erhöhten Inflationsdruck führen. Die schwerste Last werden die kleinen und mittelständischen Unternehmen zu tragen haben – einigen droht eventuell sogar die Insolvenz.
Ist irgendeine Lösung in Sicht?
Woher soll die EU einen Ersatz für die sechs Prozent Importflüssiggas nehmen, die nach Inkrafttreten des Embargos wegfallen werden? Um den Ausfall kompensieren zu können, muss stärker auf die Schienen- und Hafeninfrastruktur Europas gesetzt werden, und zwar ohne eine Alternative zum günstigen russischen Flüssiggas.
Ersatzprodukte aus den USA sind um ein Vielfaches teurer. Im ersten Quartal 2024 mussten die EU-Mitgliedstaaten ihre Einfuhren aus den USA bereits stark steigern: laut Informationen von Vortexa importierten die Mittelmeerländer 1,56 Millionen Tonnen Butan und Propan, Nordwesteuropa insgesamt 1,49 Millionen Tonnen. Die Einfuhren aus den USA lassen sich aufgrund von Einschränkungen bei der Hafeninfrastruktur jedoch nicht beliebig steigern. Erst nach 2025/26 soll die Kapazität der Flüssiggasterminals geringfügig erweitert werden. Die Analysten gehen davon aus, dass die EU auch auf Flüssiggas aus Afrika wird zurückgreifen müssen, in erster Linie aus Marokko.
Durch den Umstieg auf die Einfuhr per Schiff kommen zur ohnehin schon komplexen Flüssiggas-Preisgleichung auch noch die schwankenden Transportkosten in der Schifffahrt hinzu (diese wirken sich auf den Preis für die Endverbraucher aus), sowie die Auswirkungen von Kursunterschieden in unterschiedlichen Märkten (arbitrage). Die Nachfrage seitens der petrochemischen Industrie in Asien wird im kommenden Jahr ein entscheidender Faktor für die weltweiten Flüssiggasströme sein.
Das Einfuhrverbot für russisches Flüssiggas bereitet der europäischen Wirtschaft massives Kopfzerbrechen. Es verstärkt die Unsicherheit bei der Energieversorgung und führt zu einer Erhöhung der Kraftstoffpreise. Im Lichte der bereits vorhandenen geopolitischen Risiken und der hohen Energiepreise könnte diese Maßnahme zu einer zusätzlichen finanziellen Bürde für die europäischen Unternehmen werden. Dies wiederum könnte sich auf ihre Wettbewerbsfähigkeit auswirken. Zur Schadensbegrenzung bietet sich eine Verlängerung der Übergangsfrist an. Es handelt sich um Mengen, die für den Markt entscheidend, im geopolitischen Kontext jedoch nicht sehr groß sind. Die Entscheidung muss daher auf wirtschaftlichen statt auf tagespolitischen Überlegungen fußen.