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Der europäische Energiemarkt wandelt sich momentan grundlegend. Die Europäische Union arbeitet auf die Erreichung ihrer ehrgeizigen Klimaziele hin, während gleichzeitig davon ausgegangen wird, dass sich ihre Abhängigkeit von saubereren fossilen Brennstoffen wie Flüssigerdgas (LNG) stark erhöhen wird. Dieser Artikel befasst sich mit dem komplexen Wechselspiel der Kräfte im Energiebereich und konzentriert sich dabei auf die Punkte, an denen der grüne Kurs der EU, die steigende Nachfrage nach LNG und die geopolitischen Kräfte, die Europas Energieversorgungssicherheit beeinflussen, aufeinandertreffen.
Energiewende
Der LNG-Bedarf in Europa wird größtenteils durch die Umsetzung von CO2-Reduktionsplänen und -paketen bestimmt. Um die ehrgeizigen Klimaziele des Grünen Deals der EU für Klimaneutralität bis 2050 gesetzlich festzuschreiben, wurde 2021 das Europäische Klimagesetz verabschiedet. Es sieht als Zwischenschritt eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 55 Prozent bis 2030 vor. Das Fit für 55-Paket, das ebenfalls 2021 verabschiedet wurde, befasst sich mit konkreten Maßnahmen für die EU und ihre Mitgliedstaaten, die ergriffen werden sollen, um dieses Ziel zu erreichen. Dazu gehören ein Verbot von Neufahrzeugen mit Verbrennungsmotoren ab 2035 und eine CO2-Abgabe auf importierte Güter. Der damalige Staatssekretär im deutschen Umweltministerium, Jochen Flasbarth, bezeichnete das Paket als nichts Geringeres als eine neue industrielle Revolution in der EU.
Die vielen Initiativen sorgen für einen ziemlich raschen Übergang zu erneuerbaren Energien und eine radikale Umstrukturierung ganzer Wirtschaftssektoren. Kurzfristig bedeutet dies, dass Flüssigerdgas zu einem entscheidenden Bestandteil der Energiestrategie der EU werden wird, gerade auch wegen der Bemühungen der EU, aus der Kohle auszusteigen, die seit jeher die wichtigste Energiequelle der Europäer war.
LNG ist zwar auch ein fossiler Brennstoff, verursacht jedoch weniger Emissionen als Kohle und Öl. Es fällt lediglich die Hälfte der Emissionen an, die bei der Verbrennung von Erdöl entstehen. Was Flüssigerdgas für die Nutzung zur Stromerzeugung in dicht besiedelten Gebieten noch weitaus interessanter macht, ist die Tatsache, dass bei seiner Verbrennung weder Ruß noch Dämpfe entstehen.
Der REPowerEU-Plan: zu spät und nicht umfangreich genug
Durch den Überfall Russlands auf die Ukraine sah sich die EU gezwungen, eine der am leichtesten zugänglichen Erdgasquellen von ihrer Lieferliste zu streichen, was die Lage noch verschlimmert. Der als Reaktion auf energie- und geopolitische Krisen entwickelte REPowerEU-Plan sieht einen starken Anstieg der erneuerbaren Energien vor. Um Erdgas und andere fossile Brennstoffe durch sauberere Alternativen zu ersetzen, soll der Anteil der erneuerbaren Energien bis 2030 von 40 Prozent auf 45 Prozent gesteigert sowie eine umfangreiche Wasserstoffproduktion aufgebaut werden – ein ambitioniertes Vorhaben. Konkret bedeutet dies, dass im Jahr 2030 innerhalb der EU 10 Millionen Tonnen grüner Wasserstoff produziert werden sollen. Weitere 10 Millionen Tonnen sollen eingeführt werden, um Erdgas, Kohle und Erdöl in den Branchen und Verkehrsbereichen zu ersetzen, in denen der Abbau fossiler Brennstoffe Schwierigkeiten bereitet. Dies ist jedoch eine gehörige Herausforderung, und so wird das Ziel bis 2030 wahrscheinlich nur zu einem Drittel erreicht sein. Der REPowerEU-Plan erhöhte zwar das verbindliche Ziel für 2030 auf 42,5 Prozent, doch laut Prognosen wird die EU bis dahin lediglich einen Anteil von 39 Prozent bei den erneuerbaren Energien erreicht haben, so Brian Gaylord, Hauptanalyst bei Wood Mackenzie. Gaylord ist der Ansicht, dass entscheidende Länder wie Deutschland, Italien, die Niederlande und Belgien sich zu niedrige nationale Ziele gesteckt haben, während Frankreich sein Ziel von 40 auf 35 Prozent heruntergeschraubt hat und der Kernkraft den Vorzug gibt. Es wird daher immer unwahrscheinlicher, dass 42,5 Prozent erreicht werden können. „Dadurch wird sich die Energiewende in den Mitgliedstaaten verzögern, da die heutigen Maßnahmen auf EU-Ebene im Bereich Klima und Energie sich als nicht ausreichend erwiesen haben, um die Lücke zu schließen“, stimmt Barbara Mariani, Klimaexpertin beim Europäischen Umweltbüro, zu.
Die Kosten für einen schnellen Umstieg auf umweltfreundliche Energien belasten im Übrigen die schwächeren Gesellschaftsschichten am stärksten. Der Europäische Rechnungshof hat auf einen beunruhigenden Trend hingewiesen: häufig werden öffentliche Mittel für Kosten aufgewendet, die eigentlich die Verursacher der Umweltschäden tragen müssten. Auch der plötzliche Anstieg der Stromerzeugungskosten trifft die weniger Vermögenden am härtesten, da sie einen großen Anteil ihres Haushaltsgeldes für Beförderungs- und Stromkosten aufwenden müssen.
LNG-Durst
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Im Zuge der Energiewende in der EU wird ein starker Anstieg der Gasimporte erwartet, wobei sich LNG viel besser für eine Ausweitung der Lieferungen eignet als Pipelinegas. Allein im Jahr 2023 hat die EU bereits etwa 134 Milliarden Kubikmeter Flüssigerdgas eingeführt, ein Anteil von 43 Prozent an den gesamten Erdgasimporten der EU. Diese Zahlen werden voraussichtlich stark ansteigen: das Energie-Forschungsinstitut IEEFA geht von 150 Milliarden Kubikmetern pro Jahr um 2030 herum aus, höhere Schätzungen wie die von S&P Global Commodity Insights kommen gar auf 190 Milliarden. Damit würde die EU ihre Position als einer der größten LNG-Verbraucher weltweit festigen.
Flüssigerdgas erlebt in der EU eindeutig einen Aufwärtstrend. 2023 machten Einfuhren per Schiff 87 Prozent aller Gasimporte aus – im Jahr davor waren es noch 80 Prozent gewesen. Die Länder, die noch Gas über Pipelines nach Europa liefern, lassen sich an einer Hand abzählen – damit vergrößert sich die Abhängigkeit der EU von den LNG-Tankern weiter, trotz der damit verbundenen Risiken. Zu diesen zählen potentielle Engpässe auf wichtigen Schifffahrtsrouten wie dem Suezkanal und der Straße von Hormus genauso wie Schwachstellen bei der Infrastruktur. LNG-Fabriken weltweit haben in letzter Zeit mit einer Auslastung von 76 Prozent gearbeitet – gefährlich nahe an der Obergrenze. In Eurasien und im Nahen Osten, den Nachbarregionen Europas, liegt die Auslastung bei 95 bis 97 Prozent (nach Berechnungen auf Grundlage des IGU-Welt-LNG-Berichts 2022). Bereits die Schließung einiger weniger Fabriken aufgrund technischer Probleme würde auf dem internationalen Markt zu einem großen LNG-Unterangebot führen.
Die geopolitische Dimension: Russlands Position auf dem LNG-Markt
Die geopolitische Lage macht die Energiewende der EU noch komplexer. Obwohl viele westliche Länder Russland als Schurkenstaat sehen, ist das Land nach wie vor ein wichtiger Akteur auf dem weltweiten LNG-Markt. Russland beliefert Europa weiterhin mit LNG – der Lieferumfang stieg von 14 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2021 auf 18 Milliarden 2023. Ein Ende dieses Aufwärtstrends ist nicht in Sicht: in den ersten 120 Tagen dieses Jahres erhielten die EU-Mitgliedstaaten insgesamt 89 Lieferungen aus Russland, verglichen mit 82 im selben Zeitraum des Vorjahres.
Einige betrachten die Aufrechterhaltung der Lieferbeziehungen mit Russland als notwendiges Übel für die Sicherstellung der Energieversorgung in Europa. Auf dem weltweiten LNG-Markt gibt es momentan keinen Spielraum mehr nach oben – Störungen können kaum mehr abgepuffert werden. Hinzu kommt die kriegsbedingte Beendigung des althergebrachten Transports von russischem Erdgas durch das ukrainische Pipelinenetz: alternative Liefermöglichkeiten für LNG werden hierdurch umso wichtiger.
Ein weiterer Faktor ist die Tatsache, dass die USA, momentan der wichtigste Lieferant von LNG in der EU, weiterhin am Verkauf auf den Spotmärkten festhalten. Das Land hat mittlerweile einen Anteil von 48 Prozent an den Gesamteinfuhren von LNG in die EU, verglichen mit 44 Prozent im Jahr 2022 und 27 Prozent 2021, so der Erdgasinformationsdienst CEDIGAZ. Die Amerikanischen Hersteller ziehen jedoch die Spotmärkte langfristigen Lieferverträgen vor. LNG-Termingeschäfte sind allerdings äußerst volatil – Kunden in Asien locken häufig mit guten Preisen und bekommen dann als Höchstbieter von den amerikanischen Fabrikanten den Zuschlag.
Vor diesem Hintergrund könnten die Einfuhren von LNG aus Russland als Puffer gegen Lieferschwankungen dienen. Ein Puffer, auf den zu verzichten sich die EU momentan nicht leisten kann. Mittelfristig braucht die EU jedoch dringend eine Strategie, um die Importe aus Russland auf ein Minimum herunterzuschrauben. Langfristig muss der Übergang zu erneuerbaren Energiequellen gelingen.