TRANSITVEREINBARUNG RUSSLAND – UKRAINE: JA ODER NEIN?

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Anfang des Jahres wurde bekannt, dass die Ukraine den Vertrag mit Russland über den Transport des russischen Erdgases in die EU nicht verlängern wird. Der am 31. Dezember 2024 auslaufende Vertrag betrifft den Transport von 225 Milliarden Kubikmetern Erdgas über einen Fünfjahreszeitraum hinweg. Die betroffene Pipeline sorgte bislang für den Löwenanteil des Gastransports Richtung EU. Jetzt jedoch will Kiew Russland den Zugang zu seinem Gasnetz verweigern. Die EU beeilte sich mit verbalen Unterstützungserklärungen, während Russland verlauten ließ, dass man trotzdem wie gehabt mit einer Verlängerung der Vereinbarung rechne.

Welche der drei Parteien wird am meisten unter der Stilllegung der Pipeline zu leiden haben, die zum jetzigen Zeitpunkt noch stets Erdgas nach Europa bringt? Russland, dem nach wie vor die europäischen Käufer weglaufen, die EU, der es bislang noch nicht gelungen ist, ihren Gasbedarf über andere Lieferanten abzudecken, oder die Ukraine selbst, die in vielerlei Hinsicht vom russischen Gastransit abhängig ist? Fachleute gehen davon aus, dass alle drei Parteien durch diese Entscheidung großen Schaden davontragen werden.

IST INFLATION UNAUSWEICHLICH?

Die EU erklärte wie erwähnt sofort, man unterstütze die Entscheidung Kiews. Kadri Simson, die Energiekommissarin der EU, bestätigte, die EU wolle ab 2025 ohne das über die Ukraine gelieferte russische Erdgas auskommen. Laut Simson ist der Anteil Russlands an den europäischen Gasimporten in den letzten anderthalb Jahren ohnehin stark zurückgegangen. Österreich, die Slowakei und Ungarn, die nach wie vor beträchtliche Mengen russisches Gas über die Ukraine einführen, könnten ihren Bedarf über alternative Lieferanten decken, so die Kommissarin.

Es ist jedoch offensichtlich, dass diese anderen Lieferanten kaum in der Lage sein werden, den Bedarf Österreichs auch nur annähernd zu decken. Das Land importierte 2023 im Durchschnitt noch immer mehr als 50 Prozent seines Gases aus Russland. Bis Februar 2022 lag dieser Anteil sogar bei ungefähr 80 Prozent. Auf Seiten der Fachleute ist man sich daher einig, dass vor allem Österreich, aber auch die Slowakei und Ungarn mehr unter der Stilllegung der Pipeline zu leiden haben werden als die anderen EU-Mitgliedstaaten. In diesen Ländern könnte es bereits kurzfristig zu großen Preissprüngen auf dem Energiemarkt kommen und infolgedessen zu einem Preisanstieg bei allen anderen Handelsgütern.

Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico hat Kiew bereits einen Besuch abgestattet, um mit seinem ukrainischen Amtskollegen Denys Schmyhal über das Schicksal des Ukrainetransits zu verhandeln. Im Ergebnis sagte Fico zu, auch 2025 noch den Import von ukrainischem Transitgas aus Russland in die Slowakei zu erlauben. Laut Fico kommt diese Entscheidung auch Österreich und Italien zugute, die ebenfalls über die ukrainische Pipeline versorgt werden. Das Dementi aus Kiew ließ nicht lange auf sich warten: die Regierung erklärte, die Gasleitung werde auf jeden Fall stillgelegt.

Der russische Energieminister Alexander Nowak wiederum gab bekannt, sein Land sei bereit, mit der EU über unterschiedliche Exportmöglichkeiten zu verhandeln. In Brüssel zeigte sich bislang jedoch niemand an solchen Verhandlungen interessiert. Offensichtlich ist die EU-Kommission der Ansicht, dass Österreich, die Slowakei und Ungarn ihre Probleme selbst lösen müssen.

Der österreichischen Regierung bereitet die mögliche Abschaltung der Pipeline bereits viel Kopfzerbrechen. Laut Christoph Neumayer, dem Generalsekretär der österreichischen Industriellenvereinigung, ist die österreichische Wirtschaft immer noch stark vom russischen Gas abhängig. Dies werde sich erst durch einen Ausbau der West-Austria-Gasleitung (WAG) ändern, die Österreich ans deutsche Gasnetz anbindet. „Es muss die Politik handeln [hinsichtlich fortgesetzter Importe aus Russland – Red.]“, so Neumayer. Er geht davon aus, dass bei einem Ausbleiben des russischen Erdgases die Gaspreise in Österreich um 70 Prozent ansteigen könnten, die möglichen kurzfristigen massiven Schwankungen auf dem Gasmarkt noch nicht mit einberechnet. Dadurch könnte die österreichische Inflationsrate um 2,5 Prozentpunkte steigen und das BIP um 2 Prozent zurückgehen. „Wir brauchen ein Konsortium, das in der Lage ist, den Transit von russischem Gas durch die Ukraine sicherzustellen“, sagte Neumayer.

Dieser Ansicht ist auch Andreas Schröder, Leiter der Energieanalyse beim Energiemarktforscher ICIS. Seiner Ansicht nach wird eine Beendigung der Gastransporte durch die Ukraine für eine Reihe von Ländern zu einem ernsthaften Problem werden, in erster Linie für Italien, Österreich, Ungarn und die Slowakei. Außerdem sei dann ein Anstieg der Gaspreise überall in der EU nicht zu vermeiden, und die Preislücke zwischen dem günstigeren skandinavischen Gas und dem teureren Gas in Mitteleuropa würde dadurch noch größer.

Wenn kein Erdgas mehr über die Ukraine eingeführt werden kann, verliert die EU unter Umständen um die fünf Prozent ihrer Gesamtimporte, und zwar diejenigen, die hauptsächlich nach Mittel- und Südosteuropa gehen. Diese Regionen könnten mit Gas aus dem deutschen oder türkischen Gasleitungssystem versorgt werden, so Aura Sabadus, Leitende Analystin bei ICIS. Allerding wird dies durch die kürzlich von Deutschland einseitig eingeführte Abgabe für das Durchleiten von Gas ins Ausland stark erschwert werden. Laut Sabadus beeinträchtigt diese Abgabe in den mitteleuropäischen Ländern Investitionen in nichtrussisches Erdgas.

In einem internen Analysebericht der EU-Kommission, der der Zeitung Politico vorliegt, heißt es, eine Beendigung der Transporte über ukrainisches Territorium werde dazu führen, dass die EU mehr für den Gastransport ausgeben muss, was wiederum zwangsläufig einen Preisanstieg für Industrie und Haushalte mit sich bringen werde. Die Länder, denen das russische Gas dann fehle, müssten alternative Transportwege finden, wodurch die Diversifizierung erschwert und verteuert werde. Laut dem Dokument stehen die Vertreter der Kommission in engem Kontakt mit den betroffenen Ländern.

SUCHE NACH ALTERNATIVEN QUELLEN

Wodurch lässt sich das russische Gas in der EU ersetzen, wenn keine Lieferungen mehr über die Ukraine erfolgen?

Die Europäische Kommission hat bereits eine Voranalyse durchgeführt, in der verschiedene Handlungsszenarien für diesen Fall aufbereitet sind. Allerdings ist bislang keiner dieser Ansätze zufriedenstellend. Ein Beispiel sind die Ölimporte aus Aserbaidschan. Es gibt eine Vereinbarung zwischen der EU und Aserbaidschan, nach der das Liefervolumen bis 2027 mindestens 20 Milliarden Kubikmeter erreichen soll. Aserbaidschan hat jedoch im letzten Jahr weniger als 12 Milliarden Kubikmeter in die EU exportiert, und Fachleute zweifeln daran, dass das Land seine Lieferungen weiter wird steigern können. In einem Bericht des Oxford Institute for Energy Studies heißt es, Aserbaidschan verfüge lediglich über sehr begrenzte Produktionssteigerungsmöglichkeiten. Außerdem wird der Import für die Europäer wohl kaum rentabel sein. Der Transport in die EU ist teuer, wodurch die Käufer mehr bezahlen müssen als für Gas aus anderen Quellen. Dadurch sind Importe aus Aserbaidschan nicht wirtschaftlich. In Italien bezahlen die Verbraucher bereits jetzt beinahe doppelt so viel für Gas aus Aserbaidschan wie für russisches Gas. Auch die technischen Schwierigkeiten bei der Suche nach und Erschließung von Lagerstätten im Kaspischen Meer wirken sich auf den Preis aus. Im Übrigen ist die Trans-Adria-Pipeline (TAP), über die das Erdgas nach Europa kommt, bereits heute voll ausgelastet.

Dennoch spielt Kiew mit dem Gedanken, über sein Transportnetz kein russisches, sondern aserbaidschanisches Erdgas zu transportieren. Der ukrainische Präsident Selenskyj erklärte, dass erfolgreiche Verhandlungen zwischen der EU und Aserbaidschan zu diesem Thema es der Ukraine ermöglichen würden, ihren Status als Transitland aufrechtzuerhalten.

Er sagte, eine Vereinbarung über den Austausch des russischen gegen aserbaidschanisches Gas sei „einer der Vorschläge“, die zurzeit diskutiert würden, wenn auch nur auf Beamtenebene.

Die Europäische Kommission schließt im Extremfall auch einen neuen Vertrag mit Gazprom nicht aus. Eine der vorgebrachten Varianten sieht vor, einen neuen Vertrag zwischen Gazprom und einem europäischen Energieunternehmen abzuschließen, das dann das Gas an der russisch-ukrainischen Grenze kaufen würde. Dieses Gas würde dann in die EU transportiert und die Ukraine würde für die Benutzung ihres Netzes eine Vergütung erhalten. Die Ukraine ist jedoch absolut gegen dieses Szenario. „Wir wollen den Gasliefervertrag mit der Russischen Föderation nicht verlängern“, unterstrich Selenskyj. „Wir wollen nicht, dass Russland hier Geld verdient.“

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Nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine im Februar 2022 setzte die EU auch große Hoffnungen auf Gaslagerstätten in Afrika. Algerien liefert schon seit Langem Erdgas an Spanien über Gasleitungen auf dem Meeresgrund. Mittlerweile läuft der Ausbau der Transportkapazitäten der Verbindungsleitungen nach Frankreich und Deutschland.

Italien wiederum importiert Erdgas aus Libyen. Wenn jedoch das Problem des Transports über ukrainisches Staatsgebiet wirklich gelöst werden soll, muss die EU sowohl Algerien als auch Libyen dabei unterstützen, neue Lagerstätten aufzuspüren und die Gasförderung auszubauen. Die jetzigen Liefermengen sind bereits für Italien und Spanien eindeutig zu gering, vom Rest der EU ganz zu schweigen.

Afrika verfügt jedoch noch über viel größere Erdgasvorkommen, die sich aber alle südlich der Sahara befinden – in Nigeria, Tansania und im Senegal. Über die allerdings erst im Planungsstadium befindliche Trans-Sahara-Pipeline könnte das Erdgas theoretisch nach Europa gebracht werden. Doch dies erscheint bereits jetzt unwahrscheinlich, wenn nicht sogar komplett unrealistisch. Die über viertausend Kilometer lange Gasleitung würde durch eine riesige, von kriegerischen Konflikten heimgesuchte Wildnis führen. Außerdem würde ihre Transportleistung ohnehin 30 Milliarden Kubikmeter pro Jahr nicht überschreiten – dies entspricht in etwa gerade einmal zwei Dritteln des deutschen Importvolumens aus Russland im Jahr 2021. Der Bau der Pipeline würde darüber hinaus mindestens zehn Jahre in Anspruch nehmen.

Auf den ersten Blick erscheinen in dieser Situation die Flüssiggaseinfuhren aus den USA wie ein echter Rettungsanker. 2023 lagen die Amerikaner bei den LNG-Lieferungen an die EU mit beinahe 50 Prozent der Gesamtmenge bereits an erster Stelle. Doch auch diese Partnerschaft birgt bedeutende Risiken und bringt kein Vertrauen in die Versorgungssicherheit mit sich. Auch ist nicht klar, ob die Lieferungen den EU-Mitgliedstaaten überhaupt einen finanziellen Vorteil bieten. Die EU-Mitgliedstaaten müssen das amerikanische Flüssiggas auf dem Spotmarkt kaufen, wo die Preise bekanntermaßen deutlich höher liegen als bei langfristigen Lieferverträgen, und die Lieferungen können jederzeit zu einem höher bietenden anderen Abnehmer umgeleitet werden. Der französische Finanzminister Bruno Le Maire hat den USA bereits in aller Öffentlichkeit vorgeworfen, an ihren Partnern verdienen zu wollen. Laut Le Maire verkaufen die Amerikaner den Europäern das LNG zum Vierfachen dessen, was sie im eigenen Land verlangen. Das Moratorium auf die Erschließung neuer Lagerstätten, das US-Präsident Joe Biden im Januar dieses Jahres verkündete, trägt auch nicht gerade zur Stabilität der amerikanisch-europäischen Gaspartnerschaft bei.

NUR VERLIERER

Russland erleidet durch den Importstopp der EU bereits jetzt riesige Verluste und ist daher äußerst interessiert an der Aufrechterhaltung des Transits durch die Ukraine. „Gazprom befindet sich momentan in einer schwierigen Finanzlage. Die Förderung erlebt ein historisches Tief und Gazprom braucht Abnehmer für sein Erdgas“, so die ICIS-Analystin Aura Sabadus. Die kürzlich veröffentlichte Bilanz des Unternehmens zeigt, dass das vergangene Jahr zum ersten Mal seit der Gründung 1994 mit einem reinen Defizit abgeschlossen wurde (nach den International Financial Reporting Standards, IFRS). Das Defizit in Höhe von 629 Milliarden Rubel brach alle Rekorde der Unternehmensgeschichte. Wenn tatsächlich ab 2025 überhaupt kein Gas mehr über die Ukraine exportiert werden kann, verringert sich der Export in die EU um den Faktor zehn im Vergleich zu vor dem Krieg, und die Verluste von Gazprom wachsen entsprechend.

Doch auch die Ukraine hat viel zu verlieren, wenn sie die unausweichlichen Risiken ignoriert und den Transit über ihr Staatsgebiet beendet. Laut Vertrag bezahlt Gazprom für die Transitleistungen etwa 1,25 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Das Land benötigt dringend Einkünfte, um die durch den Krieg geleerte Haushaltskasse aufzufüllen. Es läuft Gefahr, auf diese Einnahmen verzichten zu müssen – also sozusagen den Ast abzusägen, auf dem es sitzt, nur um Russland eins auszuwischen.

Sergey Wakulenko, Experte beim Carnegie Endowment, betont, dass die Ukraine den Transit auch aus anderen Gründen nach diesem Jahr aufrechterhalten sollte. Das Gasleitungsnetzt des Landes stammt noch aus Sowjetzeiten und wurde für eine hohe Durchflussrate gebaut. Auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion versorgte es das Land mit Erdgas, selbst nachdem die Ukraine von Gazprom zu europäischen Händlern gewechselt hatte.

Das System der virtuellen Rückflüsse und des virtuellen Transports innerhalb des ukrainischen Gasnetzes spielte schon immer eine wichtige Rolle in der Gaswirtschaft des Landes. „Deshalb werden ohne den Transport von Gas aus Russland die ukrainischen Verbraucher die gesamten Kosten für die Erhaltung des Transportnetzes tragen müssen und die Preise werden dementsprechend ansteigen. Außerdem hat die Ukraine durch das russische Gas die Möglichkeit, virtuelle Rückflüsse durchzuführen, wodurch die Importkosten sinken und die Logistik sich vereinfacht“, so Wakulenko.

Was bleibt am Ende übrig, wenn die Ukraine ihr Versprechen wahrmacht und den Transitvertrag mit Russland tatsächlich nicht verlängert? Das absolute Gegenteil einer Win-Win-Situation: keine Seite würde von den negativen Folgen verschont bleiben. Die Fachleute vom Center on Global Energy Policy der Columbia University gehen davon aus, dass ein solcher Schritt schwerwiegende Folgen hätte. „Eine plötzliche Unterbindung der verbliebenen Gasströme durch die Ukraine in die EU würde das System aus dem Gleichgewicht bringen und die Energiepreise ansteigen lassen, und zwar nicht nur in den betreffenden Ländern“, heißt es im Analysebericht des Zentrums.

Um dieses Szenario zu vermeiden, bleibt den Beteiligten wohl nichts anderes übrig, als sich doch auf einen Kompromiss einzulassen. Die Experten schließen nicht aus, dass sich die Europäische Kommission in ihrer neuen Zusammensetzung nach den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni erneut mit der Frage des Gastransits durch die Ukraine auseinandersetzen wird. Möglicherweise zeichnen sich bereits jetzt einige Varianten eines eventuellen Kompromisses ab. Wie bereits bekannt wurde, könnte sich die Ukraine mit einem der EU-Mitgliedstaaten auf die Nutzung ihres Gastransportnetzes verständigen. Laut der Agentur Bloomberg ist diese Möglichkeit technisch umsetzbar: Russland könnte das Erdgas bis an die Grenze zur Ukraine liefern, wo dann das mit der Ukraine vertraglich vereinbarte europäische Unternehmen das Gas zum Weitertransport in ein beliebiges EU-Land übernehmen würde.

Ob man sich letztendlich für diese Variante oder für eine andere entscheiden wird, ist noch unklar. Eines ist jedoch offensichtlich: es schadet allen Seiten, auf Konfrontationskurs zu gehen.