Baltic Pipe kämpft mit Gasmangel

Copyright: Baltic Pipe Project

Wann immer das Baltic Pipe-Projekt erwähnt wird, wird es zur Unterstreichung seiner Bedeutung mit dem Adjektiv „strategisch“ versehen. Das Projekt ist ein wichtiger Teil der weitreichenden polnischen Ambitionen, einen regionalen Energieknotenpunkt zu schaffen und das zu sichern, was Polen als Energieunabhängigkeit beurteilt. Es hat auch die politische und finanzielle Unterstützung der Europäischen Union und wird letztendlich einen bedeutenden Beitrag zu deren Nord-Süd-Gaskorridor-Plan leisten.

Die Baltic Pipe, deren Fertigstellung vorläufig bis Oktober 2021 geplant ist, wird den norwegischen Teil der Nordsee über Dänemark mit Polen verbinden. Ihre gesamte Gastransportkapazität soll 10 Milliarden Kubikmeter (mcm) pro Jahr erreichen.

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„Das ist wirklich eine sehr gute Nachricht für Polen, und zwar nicht nur für die nahe Zukunft, sondern, davon bin ich überzeugt, für die kommenden Jahrzehnte“, begrüßte Polens Präsident Andrzej Duda die Nachricht über den Abschluss eines Abkommens zum Bau der Pipeline.

Die hochgesteckten Ziele einiger Politiker und Experten und die hohen Erwartungen, die von den Medien und der Öffentlichkeit genährt werden, werden sich jedoch auf den Prüfstand der Realität gestellt sehen, da Polen letztendlich mit den wahren Kosten seiner Bestrebungen konfrontiert werden wird.

Bei allen komplexen Projekten stimmen die anfänglichen Berechnungen nie mit dem endgültigen Aufwand überein. Verschiedene unvorhergesehene Faktoren führen dazu, dass die Kosten unweigerlich steigen und die Termine verschoben werden. Die Baltic Pipe ist hierbei keine Ausnahme, und es wäre naiv, etwas anderes zu glauben. Das wirft die offensichtliche Frage nach dem Preis auf, den internationale Investoren und dann auch die Verbraucher vor Ort zahlen werden. Darüber hinaus stellt sich die scheinbar wichtigere Frage, ob das Projekt in der Lage ist, seinen Anspruch, die Stabilität des europäischen und polnischen Gasmarktes zu erhöhen, zu erfüllen.

Kapazitätsfrage

Seit geraumer Zeit träumt die polnische Führung davon, ihr Land zu mehr als nur einem Erdgasimporteur zu machen: Sie glaubt, dass die Baltic Pipe ihren Energieunternehmen ermöglichen würde, stärker zu werden und zusätzliche Mengen in andere Länder zu exportieren. Im vergangenen Jahr machte Premierminister Mateusz Morawiecki Deutschland sogar ein Friedensangebot und bot Gaslieferungen aus der Baltic Pipe an – allerdings ohne Erfolg.

Die staatliche Öl- und Gasgesellschaft PGNiG rechnete ursprünglich damit, dass sie im ersten Jahr nach Fertigstellung der Pipeline mindestens 2,5 Mrd. Kubikmeter Erdgas pro Jahr aus dem norwegischen Offshore-Kontinentalschelf fördern würde. Diese Berechnungen wurden seitdem allerdings stark nach unten korrigiert und das Unternehmen erwartet nun nur noch eine Förderung aus den seinen Feldern von 0,9 Mrd. Kubikmeter Gas pro Jahr.

Das liegt um mehr als das Zweifache unterhalb seines eigenen Minimalziels und stellt die finanzielle Vernunft des gesamten Projekts ernsthaft in Frage, das auch ohne eine solch negative Neubewertung über die Jahre hinweg die Skepsis eines breiten Spektrums polnischer Energieunternehmen und einiger Experten auf sich gezogen hat. „Eine neue Pipeline ist nicht notwendig, um den Gasexport zu steuern“, sagte Oda Helen Sletnes, Norwegens Botschafterin bei der EU, noch vor fünf Jahren.

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Alternative Routen

Es gibt aber auch weitere mögliche Lösungen, die Polen wahrscheinlich gerade in Erwägung zieht. Erstens könnte PGNiG sich mit dem Gedanken tragen, zu versuchen, Gas aus seinen verschiedenen Projekten in der Baltic Pipe zu akkumulieren. Diese Idee wäre vernünftig, sie würde aber kaum das gesamte Kapazitätsproblem lösen, da alle Felder, die das Unternehmen besitzt oder entwickelt, ziemlich klein sind und weder gemeinsam noch allein ausreichende Mengen liefern können.

2019 verlautete der Präsident von PGNiG, Piotr Wozniak, in einem Interview, dass das Projekt Polen „viel billigeres“ Gas bringen würde. Realität ist jedoch, dass die hinter den Erwartungen zurückbleibende Pipeline stattdessen der breiten Öffentlichkeit weitere Kopfschmerzen bereiten wird. Angesichts der geringen Reserven seiner Projekte wird das Unternehmen zur Deckung der Kosten für die Gasförderung und den Transport die Preise erhöhen müssen, was eine zusätzliche Belastung für Verbraucher, Investoren und die Wirtschaft darstellt.

Zweitens hat PGNiG wohl gehofft, von 2023 bis 2028 jährlich fast 1,1 Mrd. m3 aus dem dänischen Tyra-Feld in der Nordsee durch die Pipeline transportieren zu können. Die Inbetriebnahme des Feldes im Anschluss an seine Renovierung verzögerte sich jedoch im vergangenen Jahr, so dass der dänische Energieriese Ørsted zumindest in den ersten Jahren nicht in der Lage sein wird, seine vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen.

Drittens hat für PGNiG die Möglichkeit, zum Füllen der Pipeline über 7 Mrd. m3 Gas pro Jahr von den norwegischen Partnern zu kaufen. Dies würde jedoch keine Produktionssteigerung bedeuten, sondern eine Umlenkung der Lieferungen aus Nordeuropa, und so hängt die Entscheidung sehr stark vom Wohlwollen anderer Länder und Unternehmen ab.

Angesichts all dieser Hindernisse besteht kein Grund zu erwarten, dass das Projekt entsprechend den ursprünglichen Schätzungen fortschreiten wird. Diese können selbst im optimistischsten Szenario nicht erreicht werden. Aus heutiger Sicht ist die einzige praktische Frage, wie man die Verluste aller Parteien begrenzen und die wirtschaftlichen und politischen Folgen abmildern kann.

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Das Beste ist der Feind des Guten

Die Baltic Pipe mag wie die perfekte Lösung für Polens Energieambitionen aussehen. Hinter dieser Rhetorik verbirgt sich aber eine etwas andere Realität: lange Schlangen von potenziell leeren Rohren, die sich von Norwegen nach Polen und Dänemark erstrecken. Das Projekt wird keine zusätzlichen Milliarden von Kubikmetern Erdgas auf den europäischen Markt bringen. Um seine volle Kapazität nutzen zu können, ist es allein auf das Kunststück angewiesen, die benötigten Mengen aus anderen Gasströmen abzuzweigen.

Der Spruch „Das Beste ist der Feind des Guten“ ist in vielen Sprachen bekannt. Der Aphorismus wird gemeinhin Voltaire zugeschrieben, der in seinem Werk Dictionnaire philosophique ein italienisches Sprichwort zitierte. Hat es sich letztlich gelohnt, eine neue Pipeline zu bauen, wenn ihre primäre Funktion anscheinend allmählich reduziert und auf die Umleitung bestehender Ströme beschränkt wird? Wahrscheinlich nicht. Sie wird die Preise für Haushalte oder Großabnehmer nicht senken: Wahrscheinlich wird sie genau das Gegenteil bewirken. Schließlich ist es schwer zu erkennen, wie sie die Energieunabhängigkeit Polens verbessern kann.

Polen hätte einen anderen Weg einschlagen und hunderte Millionen Euro an Geld der europäischen Steuerzahler und Unternehmensinvestoren sparen können. Das Land hätte sich auf die bestehende europäische Infrastruktur verlassen und Gas von seinem nächsten Nachbarn, Deutschland, kaufen und es über Frankfurt (Oder) importieren können. Das wäre politisch vielleicht nicht ideal gewesen, da die „Unabhängigkeitsrethorik“ des Baltic-Pipe-Projekts gefehlt hätte, aber es wäre sicherlich gut genug für Unternehmen und Haushalte und überraschenderweise auch für Politiker gewesen, da es viel schneller und ohne peinliche Verzögerungen, höhere Rechnungen und andere Probleme hätte erreicht werden können.