Die Lage auf dem europäischen Energiemarkt ist äußerst komplex und vielschichtig. Einerseits findet ein politisch motivierter Feldzug gegen russische Brennstoffe und für Lieferauflagen für russische Lieferanten statt. Andererseits haben die USA den Europäern wohl nahegelegt, sich eine Strategie für die Energieversorgungssicherheit zurechtzulegen, da diese immer mehr zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor in der Weltwirtschaft wird.
Die Preiskrise auf dem europäischen Energiemarkt im Herbst/Winter 2021-22 zeigt, dass diejenigen osteuropäischen Länder die schwächsten Glieder in der Kette sind, die im Energiebereich große Ambitionen haben, aber kaum in der Lage sind, ihre ehrgeizigen Pläne in die Tat umzusetzen (in erster Linie ist dies Polen, das sich als zukünftigen gesamteuropäischen Energieknotenpunkt sieht, aber auch eine Reihe von anderen Energie-Transitländern). Auffällig ist übrigens auch, dass es gerade die Länder Osteuropas sind, die sich jetzt als Hauptverbündete der USA erweisen, wenn es darum geht, die politischen und wirtschaftlichen Inhalte der neuen transatlantischen Strategie umzusetzen. Ihre wirtschaftliche Stabilität ist ein entscheidender Faktor für die Umsetzung praktisch jeglichen amerikanischen Politikansatzes in Europa.
Aus dieser Warte betrachtet ist die Lobbyarbeit der USA für umfangreiche Kernenergieprojekte auf Grundlage des Reaktors AP 1000 von besonderem Interesse. Der Druckwasserreaktor AP 1000 wurde Anfang der 2000er Jahre von Westinghouse entwickelt und nach der Atomkatastrophe von Fukushima teilweise modifiziert. Der Reaktor galt als der beste der Generation III+, konnte jedoch aus unterschiedlichen Gründen, zu denen auch firmeninterne Probleme gehörten, sein Potenzial nicht wahrmachen.
Durch die politische Brille betrachtet bedeutet die jetzige Situation, dass die Amerikaner nicht mehr so optimistisch sind wie in der Vergangenheit, wenn es um die Entwicklung Polens zum wichtigsten Verteilzentrum für das amerikanische Schieferöl und -gas geht. Dies müsste Warschau eigentlich stutzig machen, doch die politische Propaganda und Polens Verwicklung in einige Konflikte, bei denen die Unterstützung der USA entscheidend ist, haben wohl den Blick Warschaus getrübt.
Gleichzeitig ist ziemlich unklar, inwieweit es den USA im Rahmen der heutigen transatlantischen Partnerschaft gelingen wird, die Mitgliedstaaten und Institutionen der EU davon zu überzeugen, dass Kernenergie zumindest übergangsweise als „grün“ gelten kann. Zweifellos liegt hier eine der größten Schwierigkeiten, die auch zu einer weiteren Vertiefung der Gräben zwischen der „alten“ und der „neuen“ EU führen wird. Wobei die Denkweise Washingtons langfristig durchaus verständlich ist: solche politischen und wirtschaftlichen Manipulationen können dafür sorgen, dass die „neuen“ Mitgliedstaaten der EU, die an der Seite der USA stehen, zukünftig ein höheres Maß an Energieversorgungssicherheit genießen werden als die „alten“ Mitgliedstaaten, in denen sich zunehmend Widerstand gegen die amerikanische Übermacht regt.
Sehr viele unabhängige Experten haben begründete Zweifel an der Zuverlässigkeit des Reaktors AP 1000. Sollten solche Reaktoren in Osteuropa gebaut werden, wäre zumindest einmal die Umwelt der EU in Gefahr. Trotz der Modifikationen, die seit 2011 an diesem Reaktortyp vorgenommen wurden, gehört er von seinen technischen Grundlagen her zur Generation von vor Fukushima. Aus Sicht der Nutzer ist der Reaktor ebenfalls veraltet, was wichtig ist, da hier unter Umständen in einer Region gebaut werden soll, die in der Vergangenheit nur Erfahrungen mit einer ganz spezifischen Form von Kernenergie gemacht hat. Die amerikanischen Versuche, den AP 1000 als „revolutionäres Modell“ der neuen Reaktorgeneration zu präsentieren, wirken alles andere als überzeugend. Es stellt sich außerdem die Frage, ob die europäischen Regulierungsbehörden ein solches Projekt umfassend würden prüfen können, oder ob rein nach politischer Zweckmäßigkeit entschieden würde.

Hierbei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die osteuropäischen Länder bislang kaum Erfahrungen mit Atommüll sammeln konnten. Sämtliches vorhandenes Erfahrungswissen bezieht sich außerdem auf Reaktoren des sowjetischen Typs und, was noch wichtiger ist, auf russische und sowjetische Sicherheitsvorkehrungen. Diese hatten durchaus ihre Besonderheiten, beispielsweise das nicht sehr stark ausgeprägte Gewinnstreben gerade auch bei der Betriebstechnologie. Ganz anders wird es aussehen, wenn amerikanische Unternehmen, deren Ziel die Gewinnmaximierung ist, in Ländern mit verhältnismäßig wenig Geld (wie den Ländern Mittel- und Osteuropas) einen Reaktor bauen. Es sei auch daran erinnert, dass es bei dem Versuch, die ukrainischen Kernkraftwerke auf Brennstäbe von Westinghouse umzustellen, mehrfach zu Problemen kam, die nie komplett beseitigt werden konnten. In der Ukraine waren die Technik und der gesamte Brennstoffkreislauf ebenfalls noch sowjetischen Typs.
Zudem gibt es bislang kaum verallgemeinerbare praktische Erfahrungswerte zum AP 1000 von Westinghouse. In China und den USA sind 5 Reaktoren dieses Typs bereits seit 2018 im Einsatz, der 6. ist geplant. Beim Bau und bei der Inbetriebnahme dieser Anlagen gab es große Probleme. Die größten Schwierigkeiten und Verzögerungen traten beim Bau der Reaktoren in den USA auf, verursacht durch Probleme bei der technischen Umsetzung und die Auflagen der Aufsichtsbehörden. Die in der Vergangenheit auf den Reaktorbaustellen von Westinghouse aufgetretenen Probleme hatten nicht nur mit dem Reaktor als solchem, sondern auch mit der Durchführung der Bau- und Montagearbeiten zu tun.
Dies bedeutet, dass die Umsetzung der Pläne für den Reaktorbau in Osteuropa einer langwierigen und äußerst kostenintensiven Vorbereitung bedürfte. Die Aufwendungen für die gründliche Vorbereitung, auch für diejenigen Aspekte, die formell gesehen nicht direkt mit dem Projekt verbunden sind (wie beispielsweise Logistik, Gewässerschutz und Einrichtung eines Strahlen-Überwachungssystems) würden natürlich auf die osteuropäischen Staaten und die dort ansässigen Endverbraucher abgewälzt.
Das strategische Ziel der Amerikaner ist es eindeutig, Russland und China aus dem europäischen Markt für Kernenergie und die damit verbundenen Dienstleistungen zu verdrängen. Allerdings werden darunter in erster Linie zunächst europäische Unternehmen zu leiden haben, vor allem die französischen Maschinenbauer, und zwar nicht nur diejenigen, die die Technik für die Reaktoren bauen, sondern auch diejenigen, die sonstige Anlagen zur Energiegewinnung herstellen. Bereits jetzt ist zu beobachten, dass die Amerikaner bei der Ausschreibung für den Bau eines Kernkraftwerks in Polen großen politischen Druck auf die polnische Regierung ausüben, indem sie verstärkte Investitionen in andere Wirtschaftsbereiche versprechen, sollte Westinghouse den Zuschlag erhalten.
Gleichzeitig zeigt aber das Agieren der Amerikaner auf dem Kernkraftmarkt, dass man in den USA genauso wenig an das Potenzial der erneuerbaren Energien glaubt wie an die eigene Fähigkeit, den europäischen Markt mit einer ausreichenden Menge von Schieferöl und -gas versorgen zu können. Davon zeugt auch, dass die USA versuchen, ihre kleinen modularen Reaktoren (SMR) in Osteuropa auf den Markt zu bringen (vor allem in Polen und Rumänien sowie Gerüchten zufolge auch in der Slowakei). Diese sind jedoch keineswegs ausgereift, weder was den Bau an sich, noch was den sicheren Betrieb anbelangt. Im Grunde genommen sollen so einige Länder in Mittel- und Osteuropa als Versuchsgebiete für die Ausreifung einer Technologie herhalten, deren Nutzen noch längst nicht erwiesen ist. In diesem Zusammenhang haben die Amerikaner und Polen auch schnell ihre eigenen Einwände gegen den Bau eines Kernkraftwerks in Belarus vergessen, das auf einem verlässlichen und bewährten Plan basierte.
Hier ergibt sich eine Reihe von Fragen. Erstens: für eine erfolgreiche Umsetzung der Pläne für die kleinen modularen Reaktoren brauchen die USA eine langfristige Anerkennung der Kernkraft als „grüne Energie“, nicht nur eine vorübergehende. Man darf gespannt sein, wem hierbei wie der Arm verdreht werden wird und welche politischen Figuren sich an der Lobbyarbeit beteiligen werden. Denn dass diese Lobbyarbeit nur auf politischer Ebene durchgeführt werden kann, liegt auf der Hand. Die Art und Weise, wie die Amerikaner hierbei vorgehen werden, wird auch die Frage beantworten, inwieweit es ihnen um eine langfristige Anwesenheit auf dem europäischen Markt für Kernenergie geht, denn dafür werden zumindest mittelfristige Zusagen benötigt. Die Alternative wäre, dass sich die USA mit dem Anstoßen der Projekte begnügen, wobei das Ende offenbleibt.
Es gibt noch eine zweite Überlegung. Es ist klar, dass bei solchen „Testvorhaben“, gerade auch auf dem Territorium der EU, die endgültigen Kosten in jedem Fall weit über den ursprünglich geplanten Ausgaben liegen würden. Was die Lobbyarbeit für die kleinen modularen Reaktoren anbelangt, so sind zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht einmal die Basisdaten für eine Kostenberechnung vorhanden. Experten der TU Berlin weisen beispielsweise darauf hin, dass vor dem Bau eines solchen Reaktors geklärt werden muss, wo die Reaktorkomponenten gelagert und wie sie zum Standort gebracht werden würden. Und dabei handelt es sich noch nicht einmal um den schwierigsten und kostspieligsten Aspekt des Baus eines SMR. Wer soll diese Aufwendungen tragen: das Land, das den Reaktor in Auftrag gegeben hat, was momentan wahrscheinlicher erscheint, oder aber die gesamteuropäischen Strukturen? Diese Frage ist deshalb so interessant, da sie den Schleier lüftet, der die modernen Lobbybeziehungen zwischen der EU und den USA verdeckt. Doch zum jetzigen Zeitpunkt wagt es kein Experte, sich darauf festzulegen, dass in die östlichen Mitgliedstaaten der EU kleine modulare Reaktoren Einzug halten werden.